Peter Matussek

Medienästhetik der Schrift

8. Verschriftung und Verschriftlichung im Mittelalter

8.0 Ãœbersicht

Mit der Christianisierung in der Römischen Spätantike geht eine Zensur des antiken, nun als "heidnisch" diskreditierten Schriftguts einher. Es entsteht ein Kanon von Schriften, der im doppelten Wortsinn "kodifiziert" ist: vereinheitlicht und in Buchform gebracht (8.1).

Im frühen Mittelalter ist die Schriftproduktion fast ausschließlich eine Angelegenheit der Klöster. Denn das Augenmerk richtet sich auf die "Heilige Schrift". Diese wird immer wieder abgeschrieben, um zum Zweck der frommen Erbauung gepredigt, vorgelesen oder murmelnd nachgesprochen – also mündlich übermittelt – zu werden. Es handelt sich also noch nicht um eine "Verschriftlichung" im Sinne einer Ausbildung genuin schrifttypischer Merkmale, sondern lediglich um eine "Verschriftung" des Gottesworts. Zu diesem verhält sich die Lektüre wie eine Aufführung zu einer Partitur. Ivan Illich (1990) bezeichnet sie als "monastisches Lesen" (8.2).

Erst im Hochmittelalter findet der Übergang von der Verschriftung zur Verschriftlichung statt (vgl. Stein 2006, S. 159 ff.). Die sich nun ausbildende Scholastik sieht die "Heilige Schrift" nicht mehr vorrangig als Partitur zum frommen Nachsprechen des Gottesworts, sondern als schriftbildliches Layout zum Studium seiner Gehalte. Dem entspricht ein anderer, nämlich still kontemplierender, Lektüretyp: das "scholastische Lesen" (Illich 1990, ebd.). Unterstützt wird es durch visuelle Textmerkmale wie Gliederungen, Rubrizierungen und Register (8.3).

8. Die mittelalterlichen Manuskriptkulturen写作
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