Peter Matussek

Historische Anthropologie der Animationstechnik

6. Die antike Philosophie der Animation

6.0 Pygmalion als Inbegriff antiker Animation

Bei den Griechen mischen sich, wie wir gesehen haben, zwei Vorstellungsarten über die Ursache einer Beseelung: die theologische, derzufolge es den Göttern vorbehalten ist, Geschöpfe lebendig zu machen, und die säkulare, derzufolge der Lebenshauch (pneuma) Trägersubstanz der Seele ist.

Beide kommen in der Geschichte vor, die das motivgeschichtliche Zentrum aller auf den Menschen bezogenen Animationstechniken bildet: Die Sage von Pygmalion, der sich eine Frau aus Elfenbein schnitzte und diese zum einen mithilfe der Liebesgöttin, zum anderen aufgrund seiner eigenen künstlerischen Inspirationskraft zum Leben erweckt.

Die Sage geht auf die griechische Mythenwelt zurück, ist aber erstmals schriftlich ausformuliert worden von dem römischen Schriftsteller Ovid (43 v. Chr.–17 n. chr.) in dessen Hauptwerk Metamorphosen (6.1).

Der künstlerische Ausdruck, der die Statue lebendig erscheinen lässt, ist eine Pose der Schamhaftigkeit, die in der Antike und weit darüber hinaus als 'Venus pudica' etabliert war (6.2).

Inhaltlich wird das plausibel im kulturellen Kontext der antiken Schamkultur (6.3).

Formal ist der Zusammenhang von Erstarrung und Animation auch in der Gedächtniskunst der römischen Antike geläufig. Sie verwendete bestimmte Bilder, die als Imagines agentes bezeichnet wurden, was man mit "animierende Bilder" übersetzen kann (6.4).

6. Pygmalion als Inbegriff antiker Animation6. Pygmalion als Inbegriff antiker Animation
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