Peter Matussek

Historische Anthropologie der Schrift

3. Phänomenologie des Lesens

3.5 Was heißt Lesen?

Was heißt Lesen?
Das Tragende und Leitende im Lesen ist die Sammlung.
Worauf sammelt sie?
Auf das Geschriebene, auf das in der Schrift Gesagte.
Das eigentliche Lesen ist die Sammlung auf das, was ohne unser Wissen einst schon unser Wesen in den Anspruch genommen hat, mögen wir dabei ihm entsprechen oder versagen.

   (Heidegger 1954)

Die guten Leutchen wissen nicht, was es einem für Zeit und Mühe gekostet, um lesen zu lernen. Ich habe achtzig Jahre dazu gebraucht und kann noch nicht sagen, dass ich am Ziel wäre.
Goethe zu Eckermann, 25.1.1830.

 

Schriftlichkeit ist Selbstentfremdung. Ihre Überwindung, das Lesen des Textes, ist also die höchste Aufgabe des Verstehens.
Gadamer (1960), S. 368.

 

Lesen deckt sich nicht mit Verstehen … Lesen geschieht in der abenteuerlichen Offenheit des Nichtverstehens

(Hans-Jost Frey)

Oft ist das Lesen nur ein zerstreutes Vorbeigleiten, ein flüchtiger, unwilliger Kontakt. Dann wieder ist es ein ozeanisches Vergnügen, Eintauchen in eine abgründige Welt, in der wir uns verlieren und vielleicht irgendwann wiederfinden. Ein seltsames Taucherspiel von Selbstverlust und Selbstgewinn.

(Ulrich Raulff 2014)

 

Man muss erfinderisch sein, um gut zu lesen.
(Ralph Waldo Emerson)

 


Wer liest, ist nicht allein. Lesen bildet, unterhält und informiert. Es macht uns einfühlsamer, trägt zur seelischen Stabilität bei, vergrößert den Sprachschatz und fördert das kritische Denken. Es verankert uns in uns selbst wie in der Welt. Man kann es immer und überall tun, es ist für jedermann erschwinglich und für alle Lebensalter geeignet. Es hilft vielen beim Einschlafen und verbessert die Qualität des Schlafs ebenso wie die Wahrnehmungsfähigkeit im Wachzustand.
(Felicitas von Lovenberg 2018)

3.5 Was heißt Lesen?

Die Folie konstelliert einige Definitionen des Lesens, die alle darauf hinauslaufen, dass Lesen mehr ist, als Informationsaufnahme. Am nächsten an der Etymologie ist Heidegger, dem wir daher besondere Aufmerksamkeit widmen.

Um das Heidegger-Zitat zu verstehen, sind insbesondere die folgenden beiden Fragen zu klären:

1. Was ist hier mit "Sammlung" gemeint?
Unser Wort "lesen" ist vom griechischen "legein" bzw. lateinischen "legere" abgeleitet und bedeutet ursprünglich "sammeln" im Sinne von "einsammeln" – was auch in unseren Worten "Traubenlese", "Blütenlese" etc. noch enthalten ist. Zugleich verbindet sich mit dem Begriff des Sammelns schon früh die Bedeutung des Sich-Sammelns, der Konzentration – etwa im Knochenorakel, bei dem der Prozess des Einsammelns der Knochen zugleich eine Konzentration auf das eigene Schicksal bewirkte. Auf diesen doppelten Sprachgebrauch spielt Heidegger im ersten Teil des Zitats an.

2. Warum kann er behaupten, dass wir uns beim Lesen auf etwas sammeln, was "einst schon unser Wesen in Anspruch genommen" hat?
Wie wir in den vorigen Lektionen festgestellt haben, ist das Lesen kein nur rezeptiver Vorgang, sondern immer auch – und zwar in erheblichem Umfang – eine Konstruktionsleistung. Diese Konstruktionsleistung beruht auf Erwartungen darüber,
– welche Wörter vor unseren Augen stehen, obwohl wir nur flüchtige Umrisse davon wahrnehmen,
– welche spezifische Bedeutung einem Wort im Kontext zukommt,
– wie ein Satz, eine Satzfolge, eine Geschichte etc. wahrscheinlich weitergeht.
Unser Gehirn verfügt für solche Erwartungen über spezielle kognitive Systeme, die von den Neurowissenschaftlern "Heuristiken" genant werden. Teilweise sind diese angeboren (Neugeborene können sprachliche von anderen Stimmgeräuschen unterscheiden – vgl. die Videos in Lektion 1.2), teilweise werden sie durch Erfahrungen ausgebildet, die entsprechende Erinnerungsabrufe ermöglichen.
Die Phänomenologen verwenden für das Wechselspiel von Erwartungen und Erinnerungen, Vorgriffen und Rückgriffen, die Termini "Protention" und "Retention" (vgl. Lektion 2.2).
Die Literaturtheorie, der wir uns nun zuwenden, thematisiert dieses Wechselspiel auf der höheren Ebene der Textinterpretation als "Hermeneutischen Zirkel" (Dilthey), bei dem sich der "Erwartungshorizont" eines Lesers mit seinem "Erfahrungshorizont" in einem permanenten Abgleich befindet (so dass wir uns den Hermeneutischen Zirkel nicht als Kreis, sondern als Spirale vorstellen müssen).
Wenn Heidegger also sagt, dass wir uns beim Lesen auf etwas sammeln, das "einst schon unser Wesen in Anspruch genommen hat", lässt sich das teilweise im Sinne jener Retentionen bzw. Erfahrungshorizonte verstehen. Aber nur teilweise, denn er fügt hinzu: "ohne unser Wissen". Damit spielt er auf Platons Anamnesis-Lehre an, derzufolge alles Erkennen ein Wiedererinnern ist. In Lektion 7 werden wir darauf näher eingehen.

3.5 Was heißt Lesen?3.4 阅读是什么?
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