Peter Matussek

Historische Anthropologie der Schrift

3. Phänomenologie des Lesens

3.0 Ãœbersicht

Phänomenologie (von griech. phainómenon = Erscheinung und lógos = Wort, Rede, Sinn) ist dem Wortsinn nach die Wissenschaft des Erscheinens. Gemeint ist damit, wie uns die Welt, in der wir leben, erscheint, also wie wir sie wahrnehmen. Nun wissen wir natürlich, dass unsere Wahrnehmungen uns täuschen können. Zum Beispiel sprechen wir von "Sonnenaufgang" und "Sonnenuntergang", obwohl es nicht die Sonne ist, die auf- und untergeht, sondern die Erdrotation. Obwohl es sich also "nur" um Erscheinungen handelt, die sich physikalisch widerlegen lassen, ist unsere Redeweise nicht "falsch". Denn sie beschreibt durchaus triftig, was wir wahr-nehmen. Und da es nun einmal unsere Wahrnehmungen sind, anhand derer wir uns in der "Lebenswelt" orientieren, benötigen wir die Phänomenologie nicht weniger als die Physik, die Erforschung der subjektiven Perspektive auf die Welt nicht weniger als die der objektiven, die "first person sciences" nicht weniger als die "third person sciences".

Wenn wir uns nun also der Frage zuwenden, was für ein Phänomen die Schrift ist, kann dies nicht allein dadurch erfolgen, dass wir ihre objektiven Merkmale aufzählen, sondern wir müssen untersuchen, wie wir Schrift wahrnehmen, d.h. wie wir lesen.

Dass das Phänomen der Schrift grundsätzlich von dem differiert, was objektiv vor unseren Augen steht (und Gegenstand einer "third person science" wäre), haben wir in den vorigen Lektionen gesehen. 

Von daher leuchtet es ein, dass das menschliche Lesen ganz anders geartet ist als das maschinelle. Während dieses als "Optical Character Recognition" (OCR) werden kann (3.1),

ist das menschliche Lesen natürlich mehr als ein bloßes Erkennen von Buchstaben, nämlich Zuweisung von Sinn – für die wir noch nicht einmal Buchstaben benötigen. Entscheidend sind vielmehr die Kontexte, innerhalb derer wir Zeichen jeglicher Art einen Sinn zuweisen (3.2).

Dieser Doppelcharakter des Lesens – einerseits als Dechiffrierung von Codes, andererseits als Konstruktion von Sinn – kommt schon im Wortursprung des griechischen Verbs legein bzw. des lateinischen legere zum Ausdruck (3.3).

Was also heißt "Lesen"? Anhand eines Heidegger-Zitats versuchen wir eine vorläufige Bestimmung. (3.4)

 

 

 

3. Phänomenologie des Lesens3. 阅读的现象学
SprechblaseSprechblase