7.3.3

Der Text von Platons Phaidros

 


Übersetzung und Anmerkungen [grün] nach Kurt Hildebrandt; Stuttgart 1957, 1973.
Zitate [rot] mit Quellenhinweisen nach Ernst Heitsch; Göttingen 1993.

(Die Färbungen sind noch nicht vollständig eingefügt)

Landkarte

Vorspiel

 

1. SOKRATES. Ah! Mein lieber Phaidros! Wohin denn und woher?

Phaidros. Von Lysias, Sokrates, dem Kephalos-Sohne. Und ich bin unterwegs zu einem Gang draußen vor der Mauer. Denn lange Zeit, seit frühem Morgen, habe ich im Gespräch bei jenem gesessen. Nach dem Rat deines und meines Freundes Akumenos wandre ich nun auf freien Wegen, denn er sagt, so sei es weniger ermüdend als in den Bahnen.

SOKRATES. Ja, Freund, da hat er recht. Aber dann ist also Lysias in der Stadt.

Phaidros. Ja, bei Epikrates, hier im Hause des Morychos, nahe beim Olympeion.

SOKRATES. Welches war denn nun eure Unterhaltung – oder versteht es sich, dass Lysias euch mit seinen Reden bewirtete?

Phaidros. Du sollst es erfahren, wenn du Muße hast, mitzugehen und zuzuhören.

SOKRATES. Wie denn: Zweifelst du, dass ich mit Pindar zu reden »höher als ein Geschäft« es achte, deine und Lysias' Unterhaltung anzuhören?

Phaidros. Dann also geh zu!

SOKRATES. Und du erzähle.

Phaidros. Gewiß, Sokrates, gerade dich geht es an, was du hören wirst. Denn das Thema, über das wir uns unterhielten, war – ich möchte sagen – eine Liebes-Rede. Lysias hat sie nämlich verfasst, worin einer der Schönen umworben wird, aber nicht von einem Ver-liebten, sondern darin besteht gerade die Feinheit: er behauptet nämlich, man müsse eher einem Nichtver-liebten als einem Verliebten seine Gunst schenken.

SOKRATES. Oh, der Edle! wenn er doch schriebe, auch eher dem Armen als dem Reichen, und dem Älteren als dem Jüngeren und was alles mir und meinesgleichen zugute käme. Wahrlich, solche Reden wären gebildet und volksfreundlich zugleich. Mich wenigstens hat nun solche Begierde ergriffen, zu hören, dass ich gewiß nicht von deiner Seite weichen werde, und wenn du auch weiter wandelnd bis Megara schrittest, um nach der Art des Herodikos erst an der Mauer angelangt umzukehren.

Phaidros. Wo denkst du hin, bester Sokrates? Glaubst du, was Lysias, der größte unter den jetzigen Schriftstellern, in langer Zeit und mit Muße ausgearbeitet hat, das sollte ich, ein Laie, seiner würdig aus dem Gedächtnis wiederholen können? Daran fehlt mir viel. Und doch läge mir mehr daran als an vielem Golde.

2. SOKRATES. Phaidros – wenn ich den Phaidros nicht kenne, dann muss ich mich selbst vergessen haben. Aber keines von beiden. Ich weiß recht gut, hörte der eine Rede von Lysias, so hörte er sie nicht nur einmal, sondern immer wieder bat er ihn, sie ihm zu wiederholen, und jener tat es bereitwillig. Aber auch das war ihm nicht genug, sondern am Ende nahm er die Rolle zur Hand und schaute an, was ihm zumeist am Herzen lag. Über dieser Beschäftigung saß er vom frühen Morgen an, und als er müde wurde, machte er sich auf den Spaziergang, während er, wie ich wenigstens glaube, beim Hunde, die Rede schon auswendig wußte, wenn sie nicht gar zu lang war. Dann wandelte er draußen vor der Mauer, um sie einzuüben. Da begegnete er dem, der an der Sucht leidet, Reden anzuhören, und freute sich, als er ihn erblickte, weil er nun den Mit-Korybanten hätte, und er lud ihn ein, mitzukommen. Als aber jener in die Reden Verliebte ihn bat zu reden, da tat er spröde, als ob er nicht begierig darauf wäre; am Ende aber würde er, auch wenn niemand freiwillig zuhören wollte, mit Gewalt reden. Also, Phaidros, bitte du ihn, das sogleich zu tun, was er bald um jeden Preis tun wird.

Phaidros. Da ist es wahrhaftig für mich am allerbesten, die Rede vorzutragen, so gut ich es eben kann, denn ich glaube, du lässt mich niemals los, ehe ich die Rede so oder so wiedergegeben habe.

SOKRATES. Ja, durchaus richtig denkst du da von mir.

3. Phaidros. Dann will ich also so tun. Aber wirklich, Sokrates, auswendig gelernt habe ich den Wortlaut durchaus nicht. Aber den Gedankengang ziemlich von allem, worin er den Unterschied der Sache des Verliebten von der des Nicht-Verliebten angab, werde ich dir in seinen Hauptpunkten vom ersten an beginnend der Reihe nach wiedergeben.

SOKRATES. Aber erst, teurer Freund, wenn du gezeigt haben wirst, was du da in der linken Hand unter dem Mantel hältst. Ich glaube nämlich zu erraten, dass du die Rede selbst hast. Wenn es sich so verhält, so sei dir klar über mich, wie sehr ich dich auch liebe, wenn Lysias selbst zugegen ist, kann ich mich nicht gerade entschließen, mich selber zum Abhören deiner Einübung herzugeben. Zaudre nicht, zeig her!

Phaidros. Genug! Meine Hoffnung hast du vereitelt, Sokrates, da ich dachte, mich an dir zu üben. – Also, wo willst du nun, dass wir uns hinsetzen, um zu lesen?

SOKRATES. Laß uns hier nach draußen abbiegen und den Ilissos entlanggehen, dann wollen wir uns, wo es uns gefällt, in der Stille niederlassen.

Phaidros. Zu rechter Zeit bin ich offenbar gerade diesmal barfuß – du bist es ja immer. So ist es am einfachsten für uns, das Wässerchen hinabzugehen und dabei unsere Füße zu netzen. Besonders in dieser Stunde und in dieser Jahreszeit ist das recht angenehm.

SOKRATES. So führe also und schau dich zugleich um, wo wir uns niedersetzen können.

Phaidros. Siehst du da jene hochaufsteigende Platane?

SOKRATES. Ja.

Phaidros. Dort ist Schatten und mäßiger Lufthauch und Rasen, uns zu setzen oder, wenn wir wollen, uns niederzulegen.

SOKRATES. So geh nur zu.

Phaidros. Sage mir, Sokrates, war es nicht hier am Ilissos, von wo Boreas die Oreithyia geraubt haben soll?

SOKRATES. So wird erzählt.

Phaidros. Vielleicht gerade von dieser Stelle? Erscheint doch lieblich und rein und durchsichtig das Gewässer und recht geeignet für Mädchen, an ihm zu spielen.

SOKRATES. Nein, aber so ungefähr drei- oder vierhun-dert Schritte weiter unten, wo der Weg zum Heiligtum der Agra durch den Bach führt. Und dort ist auch irgendwo ein Altar des Boreas.

Phaidros. Das wußte ich nicht recht. Aber sage, bei Zeus, glaubst du, dass diese Sage wahr sei?

4.SOKRATES. Ja, wenn ich ungläubig wäre wie die »Weisen«, wäre ich doch nicht verlegen: Dann würde ich klügelnd antworten, der Nordwind habe sie von einem der hohen Felsen herabgestoßen, als sie mit Pharmakeia spielte, und weil sie auf diese Weise umgekommen sei, habe man erzählt, sie sei vom Boreas geraubt worden. Ich aber, Phaidros, finde zwar dergleichen sonst ganz artig, nur gehört ein sehr befähigter und arbeitsamer und vom Glück nicht gerade begünstigter Mann dazu, wenigstens aus dem einen Grunde, dass er demgemäß auch die Gestalt der Hippokentauren berichtigen muss, und dann wieder die der Chimaira, und dann strömt herzu der Haufe solcher Gorgonen und Flügelpferde und das Gewimmel und die Unbegreiflichkeiten anderer Ungetüme und Wunder-Naturen. Und wer ungläubig von diesen jedes einzelne nach Wahrscheinlichkeit erklären will, der befaßt sich dazu mit einer ziemlich rohen Art von Weisheit und bedarf dazu vieler Muße. Der Grund davon, mein Freund, ist dieser: Ich vermag noch nicht gemäß dem delphischen Spruche mich selbst zu erkennen. Lächerlich aber scheint es mir, solange man dies nicht kennt, das Fremde zu erforschen. Darum laß ich jenen Dingen ihren Lauf und nehme den Glauben über sie an, wie er dem Brauche entspricht, und erforsche, wie ich eben sagte, nicht jene, sondern mich selbst, ob ich etwa ein Untier bin, verschlungener und aufgeblasener als Typhoni, oder ein milderes und einfacheres Geschöpf, das ein göttliches und gebändigtes Schicksal von Natur erlost hat. Aber, Freund, indem wir so reden – war das nicht der Baum, zu dem du uns führen wolltest?

Phaidros. Ja, er ist es.

5.SOKRATES. Bei der Hera, ein schöner Ruheplatz! Hier die Platane, mächtig ausladend und hoch, und wie schön der Wipfel des KeuschBaumes und sein dichter Schatten, und wie er gerade in vollster Blüte steht, so dass er den Ort ganz mit seinem Dufte erfüllt. Und die lieblichste Quelle, die unter der Platane fließt, mit ganz kühlem Wasser, wie man am Fuße spürt. Nach den Mädchenfiguren und Weihbildern ist es offenbar ein Heiligtum einiger Nymphen und des Achelos. Wie man nur wünschen mag: wie angenehm und sehr süß ist das Wehen der Luft an diesem Orte. Sommerlich und hell tönt sie im Chor der Zikaden. Der Rasen aber ist der allerzarteste, wie er allmählich ansteigt, um, wenn man sich ausstrecken will, dem Haupte die angenehmste Stütze zu geben. Aufs beste hast du dich als Führer bewährt, mein lieber Phaidros.

Phaidros. Du aber, du Bewundernswerter, erscheinst doch als Sonderling. Gleichst du doch geradezu einem Fremdling, der sich führen lässt, wie du selber sagst, und nicht einem Einheimischen. So wanderst du nie aus der Stadt über die Grenze hinaus, ja ich glaube, du gehst überhaupt nicht aus der Mauer hinaus.

SOKRATES. Verarge mir das nicht, mein Bester,    bin ich doch einmal lernbegierig. Nun wollen die Fluren und die Bäume mich nichts lehren, wohl aber in der Stadt die Menschen. Du indessen scheinst das Zauberkraut gefunden zu haben, mich herauszulocken. Denn wie man hungriges Vieh weitertreibt, indem man es mit frischem Laub oder irgendeiner Frucht lockt, so kannst du mich offenbar in ganz Attika herumführen und wohin du sonst willst, wenn du mir so die Rollen mit Reden vorhältst. Nun aber, da ich einmal an diesem Ort angelangt bin, ziehe ich vor, mich niederzulegen, und du wähle die Haltung, in der du am bequemsten zu lesen glaubst, und dann lies vor.

Phaidros. So höre denn.[16]

 


Schema

 

Die Schrift des Lysias

 

6. »Wie es um mich steht, weißt du nun und hast gehört, dass ich glaube, es fördere uns beide, wenn solches geschieht. Ich glaube aber, ich sollte, um was ich bitte, nicht darum verfehlen, weil es sich fügt, dass ich nicht in dich verliebt bin. Denn die Verliebten gereut es ihrer Wohltaten, sobald ihre Leidenschaft erloschen ist. Für die anderen aber kommt die Zeit nicht, in der sie die Gesinnung ändern müßten. Denn nicht unter einem Zwange, sondern gern und nach bester Überlegung über ihr ganzes Besitztum erweisen sie ihnen Wohltaten je nach ihrem Vermögen. Ferner erwägen die Verliebten, was sie in ihren eigenen Angelegenheiten um dieser Verliebtheit willen schlecht verwaltet haben und was sie verschenkt haben, und wenn sie dann die Mühe, die sie auf sich genommen haben, hinzurechnen, so glauben sie längst ihren Geliebten den geschuldeten Dank erstattet zu haben. Dagegen können die Nicht-Verliebten weder die Vernachlässigung ihres Hauswesens um jener willen zum Vorwand nehmen, noch die vorausgegangenen Mühen berechnen, noch ihm die Schuld an dem Zerwürfnisse mit ihren Angehörigen beimessen. Und da sie aller dieser Übel enthoben sind, so bleibt ihnen also nichts übrig, als wohlgemut zu tun, wodurch sie glauben, ihnen einen Gefallen erweisen zu können. Und ferner, wenn deswegen die Verliebten besondere Hochschätzung verdienen sollen, weil sie sagen, dass ihre Zuneigung zu den Geliebten die größte ist, und weil sie bereit sind, durch Worte und Taten sich die andern zu Feinden zu machen, um den Geliebten einen Gefallen zu tun: so ist leicht einzusehen, ob sie die Wahrheit sagen, weil sie ebenso die, in welche sie sich später verlieben, höher schätzen werden als jene und offenbar auch, wenn es diesen so paßt, den früher Geliebten Böses zufügen werden. Wie aber sollte es billig sein, eine solche Sache dem anzuvertrauen, auf dem ein derartiges Unheil liegt, das nicht einmal der Erfahrene abzuwenden sich getrauen würde? Geben jene doch selbst zu, dass sie eher an einer Krankheit leiden als bei Vernunft sind und dass sie zwar wissen, es stehe schlecht mit ihrer Besinnung, sich aber nicht selbst beherrschen könnten. Wie sollten sie aber, nachdem sie wieder zu klarem Verstande .gekommen sind, das gutheißen, was sie in einem solchen Zustande wollen? Und wenn du aus deinen Liebhabern den besten wählen wolltest, so hättest du die Wahl nur unter wenigen, wenn aber aus den andern den für dich selbst Geeignetsten, so hättest du die Wahl unter vielen. Daher ist die Hoffnung viel größer; den, der deiner Freundschaft würdig ist, unter den vielen anzutreffen.

7. Wenn du jedoch die geltende Meinung fürchtest, dass dir Schande erwachse, wenn die Leute davon erfahren, so ist es natürlich, dass die Verliebten – da sie ja glauben, von den andern so beneidet zu werden, wie sie ich untereinander beneiden – sich brüsten werden mit Erzählen, und aus Eitelkeit werden sie vor jedermann zeigen, dass sie sich nicht vergeblich bemüht haben. Die Nicht-Verliebten aber, die sich selber beherrschen, werden das Beste wählen anstatt des Ruhmes bei den Menschen. Ferner werden notwendigerweise viele Leute von den Verliebten hören und sie sehen, wie sie ihre Geliebten begleiten und sich daraus ihre Beschäftigung machen, so dass sie, sooft sie diese im Gespräch miteinander sehen, jedesmal glauben, um ihrer Begierde willen seien sie zusammen gewesen oder wollten sie zusammenkommen. Den Nicht-Verliebten aber versucht niemand dieses Verkehres wegen einen Vorwurf zu machen, denn man kennt das Bedürfnis, aus Freundschaft oder um irgendeines anderen Vergnügens wegen miteinander zu reden. Und wenn dich Furcht anwandelt beim Gedanken, wie schwer eine Freundschaft beständig bleibt, dass aber im andern Falle bei einem Zerwürfnis das gleiche Unglück auf beide Teile fällt, dass du aber allein den großen Schaden erleidest, wenn du dein höchstes Gut geopfert hast: dann mußt du natürlich die Verliebten mehr fürchten. Denn es gibt vieles, was sie kränkt, und von allem glauben sie, dass es zu ihrem Schaden geschehe. Daher verhindern sie auch den Verkehr ihrer Geliebten mit andern, aus Furcht, dass die Wohlhabenden sie durch Reichtum überbieten, die Gebildeten es ihnen durch Einsicht zuvortun, und so hüten sie sich vor der Wirkung eines jeden, der irgendein Gut erworben hat. Gelingt es ihnen also, dich mit jenen zu verfeinden, so stehst du einsam und ohne Freunde da, siehst du aber auf deinen Vorteil und urteilst besser als jene, so wirst du dich mit ihnen überwerfen. Die aber nicht verliebt sind, sondern durch Tugend die Erfüllung ihrer Wünsche erlangten, werden nicht die beneiden, die mit dir umgehen, sondern die hassen, die das nicht wollen, denn sie glauben, dass sie von diesen geringgeschätzt, von jenen aber, die mit dir verkehren, gefördert werden. Daher ist die Hoffnung viel größer, es werde ihnen Freundschaft als Feindschaft aus der Sache erwachsen.

8. Und dann begehren manche unter den Verliebten den Leib schon, bevor sie das Wesen kennerlernten und den ihm Eigenen vertraut wurden, so dass es ungewiß ist, ob sie dann noch ferner Freund sein wollen, wenn die Leidenschaft erloschen ist. Bei den Nicht-Verliebten aber, die schon vor solchem Verkehre miteinander befreundet waren, wird die Freundschaft natürlich nicht geringer werden, wenn ihnen Gutes widerfahren ist, sondern es wird ihnen. als Andenken bleiben für ihr Verhalten in der Zukunft. Ja, du müßtest auch besser werden, wenn du lieber mir als einem Verliebten Gehör gibst, denn jene loben im Widerspruch zum Besten ihrer Geliebten, was diese sagen und tun, teils weil sie fürchten, deren Abneigung zu erwecken, teils weil durch die Leidenschaft ihre Erkenntnis getrübt ist. Darin. offenbart sich doch die Liebe: sie macht, dass den Unglücklichen das, was den andern nicht schmerzt, als unleidlich erscheint, und die Glücklichen zwingt sie, auch auf das, was keiner Lust wert ist, ihr Lob zu verschwenden. Daher sollte man die, die geliebt werden, weit eher bemitleiden als beneiden. Aber wenn du mir folgst, dann werde ich in unserem Verkehr nicht zuerst für die Lust der Gegenwart sorgen, sondern für deinen Vorteil auch in der Zukunft, nicht von Eros überwunden, sondern mich selbst beherrschend, auch werde ich nicht um Kleinigkeiten großen Streit anheben, sondern auch um wichtige Dinge nur langsam einem gelinden Unwillen Raum geben, das Unvorsätzliche verzeihend, das Vorsätzliche versuchend abzuwenden: dies nämlich sind die Kennzeichen einer Freundschaft, die von langer Dauer sein wird. Wenn dir aber der Gedanke in den Sinn kommt, dass eine starke Freundschaft nicht entstehen kann, wenn nicht einer verliebt ist, so mußt du dies bedenken, dass wir dann weder unsre Söhne so hoch schätzen würden noch unsre Väter und Mütter, auch nicht treue Freunde gewonnen hätten, die es doch nicht aus einer solchen Leidenschaft geworden sind, sondern aus andern Bedürfnissen.

9. Und weiter, wenn man den Bedürftigsten am meisten gefällig sein soll, so müsste man auch sonst nicht den Besten, sondern den Ärmsten wohltun, denn diese, vom größten Übel befreit, werden einem auch den meisten Dank wissen. Ja auch zu den eigenen Gastmählern wäre es dann nicht würdig, die Freunde einzuladen, sondern die Bettelnden und die der Sättigung Bedürftigen, denn diese werden uns freundlich grüßen Lind begleiten und an den Türen erwarten, ihre Freude wird die größte und ihre Dankbarkeit nicht die kleinste sein, und vieles Gute werden sie für uns erbitten. Aber es ist doch wohl richtig, nicht den besonders Bedürftigen gefällig zu sein, sondern denen, die am meisten Dank abzustatten vermögend sind; nicht denen, die nur betteln, sondern denen, die der Sache würdig sind; auch nicht denen, die sich nur an deiner Jugend erfreuen, sondern welche auch, wenn du älter geworden bist, dich an ihren Gütern teilnehmen lassen; nicht denen, die, wenn sie ihr Ziel erreicht haben, vor den übrigen damit prahlen, sondern welche rücksichtsvoll vor jedermann schweigen; nicht denen, die nur kurze Zeit voll Eifer sind, sondern welche gleichmäßig das ganze Leben hindurch Freunde sein werden; auch nicht denen, die bei erlöschender Leidenschaft einen Vorwand zum Bruch suchen, sondern welche an denen, deren Jugendblüte beendet ist, dann ihren guten Charakter beweisen werden. Bewahre also das Gesagte in deinem Gedächtnis, und bedenke auch dies, dass die Verliebten von ihren Freunden ermahnt werden, als ob sie etwas Übles unternehmen, während niemals einer der Angehörigen die Nicht-Verliebten tadelt, als ob sie deswegen in ihren eigenen Angelegenheiten schlecht beraten waren.

Vielleicht möchtest du mich noch fragen, ob ich dir rate, allen gefällig zu sein, die dich nicht lieben. Ich glaube allerdings, auch der Verliebte wird von dir nicht verlangen, dass du allen Verliebten gegenüber diese Gesinnung hättest. Denn weder ist alles, wenn man es wohl berechnet, gleicher Gunst wert, noch kannst du es, wenn du auch willst, vor andern in gleicher Weise geheimhalten. Doch Schaden soll daraus keiner, vielmehr Nutzen für beide erwachsen. Ich glaube nun, was ich gesagt habe, sei hinreichend. Meinst du aber, ich hätte etwas üBergangen, was du zu hören wünschst, so frage.«

 

 

Zwischenspiel

 

10. Nun, Sokrates, was hältst du von dieser Rede? Ist sie nicht überhaupt fabelhaft, besonders aber in der Wahl der Worte?

SOKRATES. Ja, ganz wunderbar, mein Freund, so dass ich außer mir bin. Und dies ist nur durch dich geschehen, indem ich dich anblickte, weil du mir unter der Rede inmitten des Lesens vor Freude zu glänzen schienst. Denn da ich glaube, dass du von diesen Dingen mehr als ich verstehst, bin ich dir gefolgt, und so geriet ich gemeinsam mit dir, du göttliches Haupt, in bacchantisches Schwärmen.

Phaidros. Hör auf! Willst du wieder deinen Scherz treiben?

SOKRATES. So? Glaubst du, ich scherze und hätte nicht im Ernste gesprochen?

Phaidros. Nein, gar nicht, Sokrates. Aber nun, bei Zeus, dem Gotte der Freundschaft, sage mir in Wahr-heit: Glaubst du, dass irgendein andrer unter den Hel-lenen eine bedeutendere und reichhaltigere Rede über denselben Gegenstand halten könnte?

SOKRATES. Wie meinst du das? Soll die Rede von mir und dir auch darin gelobt werden, dass der Verfasser das Gebührende gesagt hätte, oder nur dafür, dass alle Redewendungen klar und rund und aufs genaueste gedrechselt waren? Denn wenn es sein soll, muss es dir zuliebe zugegeben werden. Mir selbst ist es allerdings entgangen, weil ich davon nichts verstehe. Ich habe nämlich allein auf das Rednerische daran achtgegeben – und dies glaube ich, würde Lysias selber nicht einmal für zulänglich halten. Nun schien er mir, Phaidros – wenn du nicht etwa anderer Ansicht bist –, zwei- oder dreimal dasselbe gesagt zu haben, als ob er nicht gerade erfindungsreich wäre, vieles über dieselbe Sache zu reden, oder als ob ihm vielleicht daran auch gar nichts gelegen sei. Ich hatte den Eindruck, als wolle er im jugendlichen Übermut beweisen, er sei fähig, dieselbe Sache bald so, bald so auszudrücken und in beiden Fällen sehr gut zu reden..

Phaidros. Aber nein, Sokrates! Dies ist ja gerade die besondere Eigenschaft der Rede: Was nämlich der Besprechung Würdiges sich in der Sache findet, davon hat sie nichts ausgelassen, so dass niemand zu dem, was er hier gesagt hat, noch sonst etwas Neues und Wertvolleres sagen kann.

SOKRATES. Darin werde ich aber dir nicht mehr folgen können. Denn weise Männer und Frauen des Altertums, die darüber gesprochen und geschrieben haben, werden mich widerlegen, wenn ich es dir zuliebe einräumen würde.

Phaidros. Wer sind diese? Und wo hast du Besseres als dies gehört?

11. SOKRATES. So im Augenblick kann ich es nicht sagen. Aber offenbar habe ich es von manchen gehört – etwa von Sappho, der Schönen, oder von Anakreon, dem Weisen, oder von irgendwelchen Schriftstellern. Aus welchen Zeichen ich das schließe? Ich fühle, meine Brust ist voll, du Wunderbarer, und dass ich etwas anderes, aber nichts Schlechteres zu sagen habe als jenes. Dass ich nun nichts davon aus mir selber erkannt habe, weiß ich wohl, denn ich bin mir meiner Unwissenheit bewusst. Also bleibt, glaube ich, nur übrig, dass ich durch das Hören gleich wie ein Gefäß aus irgend fremden Quellen gefüllt worden bin. Aus Trägheit habe ich auch das schon wieder vergessen, wie und von wem ich es vernommen habe.

Phaidros. Ja, du Edelster, das hast du sehr wohl gesprochen. Von wem und wie du das vernommen hast, das sollst du also nicht sagen, auch wenn ich darum bäte. Aber tue nur gerade das, was du sagtest. Versprich mir, anderes Besseres und nicht Wenigeres, als was in dieser Rolle steht, zu reden, ohne etwas daraus zu wiederholen – und ich verspreche dir wie die neun Archonten, eine goldene Bildsäule in Lebensgröße nach Delphi zu stiften, nicht allein meine, sondern auch deine.

SOKRATES. Du bist zu lieb, Phaidros, und wirklich aus Gold, wenn du glaubst, ich meine, dass Lysias es ganz und gar verfehlt habe und dass ich imstande sei, in jeder Einzelheit etwas anderes zu Sagen. Das aber kann, wie ich glaube, dem schlechtesten Schriftsteller nicht begegnen. Gleich dies, was das Thema ist: glaubst du, dass einer, der behauptet, man müsse mehr dem Nicht-Verliebten als dem Verliebten Freund sein, aber unterließe, das Verständige zu preisen, das Unverständige zu tadeln, wie es doch offenbar notwendig ist, die Rede irgendwie weiterführen könnte? Nein, ich meine, dergleichen muss man dem Redner einräumen und zugestehen. An solchen Gedanken ist nicht die Erfindung, sondern nur die Anordnung zu rühmen, bei den nichtnotwendigen aber und schwer zu findenden ist außer der Anordnung auch die Erfindung rühmenswert.

12. Phaidros. Das räume ich dir ein, denn deine Bedingungen scheinen mir billig. Also auch ich will danach verfahren: Dass der Verliebte verglichen mit den Nicht-Verliebten an Krankheit leide, werde ich dir als Voraussetzung zugeben. Wenn du aber im übrigen anderes vorträgst, reichhaltiger und wertvoller als Lysias, so sollst du aus Silber getrieben neben dem Weihgeschenk der Kypseliden in Olympia stehen.

SOKRATES. Nun machst du Ernst, Phaidros, weil ich deinen Liebling an griff, um dich zu necken, und glaubst gar, ich würde es in Wahrheit versuchen, neben seiner Weisheit eine andere und kunstvollere Rede zu halten?

Phaidros. Was das angeht, mein Lieber, bist du in eigener Schlinge gefangen! Reden mußt du auf jeden Fall, so gut du eben kannst. Damit wir aber nicht den verbrauchten Vorgang der Komödie durchzuspielen genötigt werden, indem einer dem andern das Wort zurückgibt, so hüte dich und zwinge mich bitte nicht, dir jenes zu sagen: »Sokrates, wenn ich den Sokrates nicht kenne, dann muss ich mich selber vergessen haben«, und »er war begierig zu reden, aber er tat spröde«. Aber dessen sei dir bewusst, dass wir nicht von hinnen gehen, bevor du ausgesprochen hast, was du, wie du sagtest, in deiner Brust trägst. Wir sind allein in der Einsamkeit, ich bin der Stärkere und Jüngere: aus alledem begreife wohl, was ich dir sage, und wolle doch ja nicht lieber die Gewalt abwarten, als freiwillig reden.

SOKRATES. Aber Phaidros, du seliger, lächerlich werde ich sein, wenn ich, ein Laie, neben einem Schriftsteller vom Fach über die gleiche Sache aus dem Stegreif rede.

Phaidros. Du weißt, wie es steht. Höre auf, dich vor mir zu zieren, denn ich weiß wohl ein Wort, durch das ich dich zur Rede zwingen werde.

SOKRATES. Nein! Sprich es ja nicht aus!

Phaidros. Doch! Jetzt spreche ich es aus. Und dies Wort soll ein Eid sein! Ich schwöre dir also – bei wem doch, bei welchem Gott? Oder soll ich bei dieser Platane hier schwören? Wahrlich, wenn du mir nicht angesichts dieser Platane deine Rede hältst, so werde ich dir niemals irgendeine Rede irgendeines Menschen vorzeigen noch vermelden.

13. SOKRATES. Ha, du Verruchter! Wie gut hast du das Mittel gefunden, einen redeliebenden Mann zum Gehorsam zu zwingen!

PHAJDROS. Was hast du also noch, dich zu sperren?

SOKRATES. Nichts mehr, nachdem du solchen Schwur getan, denn wie könnte ich auf einen solchen Schmaus verzichten?

Phaidros. Dann rede!

SOKRATES. Weißt du also, wie ich es machen werde?

Phaidros. Was meinst du damit?

SOKRATES. Verhüllten Hauptes will ich sprechen, um möglichst schnell die Rede zu durcheilen, damit mich die Scham nicht verwirrt, wenn ich dich anblicke.

Phaidros. Nur reden mußt du. Das übrige halte, wie du willst.

Schema

 

Rede des Sokrates gegen Eros

 

SOKRATES. Euch rufe ich, Musen! ihr helltönenden – mögt ihr wegen eurer Gesangesweise oder wegen des sangesfreudigen Geschlechtes der Ligurer diesen Beinamen empfangen haben –, nehmt mit mir gemeinsam auf die Märe, die dieser Treffliche hier mich zu sagen nötigt, damit sein Freund, der ihm schon vorher weise zu sein schien, es nun noch mehr erscheine.

»Es war einmal ein Knabe, oder vielmehr schon ein Jüngling, von großer Schönheit. Der hatte sehr viele Liebhaber. Einer unter ihnen war listig und hatte den Knaben, obwohl er verliebt war wie irgendeiner, überredet, dass er nicht in ihn verliebt sei. Und eines Tages drang er in ihn und redete ihm ein, dass man den Nicht Verliebten vor dem Verliebten begünstigen müsse, und sprach also:

14. Für jede Frage, mein Kind, gibt es nur einen richtigen Anfang, wenn man gemeinsam etwas erwägen will. Man muss wissen, worauf sich die Erwägung be-zieht, oder man wird notwendig das Ganze verfehlen. Die meisten aber bemerken nicht, dass sie das Wesen des einzelnen Dinges nicht kennen. Daher verständigen sie sich, als ob sie es schon wüßten, nicht am Beginn der Untersuchung darüber, und im weiteren Verlauf haben sie es dann natürlich zu büßen: sie sind nämlich weder mit sich selbst noch untereinander einstimmig. Ich und du wollen also nicht die Buße erleiden, die wir ande-ren zuerkennen, sondern da dir und mir die Frage obliegt, ob man eher mit dem Verliebten oder dem Nicht-Verliebten Freundschaft schließen soll, so wollen wir uns zuerst über eine Bestimmung des Begriffes Liebe einigen, was sie ist und welche Kraft sie hat. Diesen Begriff laß uns im Auge behalten und in Beziehung auf ihn die Untersuchung vornehmen, ob sie Nutzen oder Schäden bringt.

Dass nun die Liebe eine Begierde ist, ist jedermann klar. Dass aber auch die Nichtverliebten die Schönen begehren, wissen wir. Wonach unterscheiden wir dann den Verliebten vom Nichtverliebten? Wir müssen erkennen, dass es in jedem von uns zwei herrschende und führende Ideen gibt, denen wir folgen, wohin sie uns führen: die eine die eingeborene Begierde nach Lust, die andere die erworbene Vorstellung, die nach dem Besten strebt. Diese beiden sind in uns bald im Einklang, bald hadern sie untereinander. Und bald herrscht die eine, dann wieder die andre. Wenn nun die Vorstellung durch Vernunft zum Besten führt und mächtig ist, so trägt diese Macht den Namen Besonnenheit. Wenn aber die Begierde uns in die Lüste schleppt und in uns herrscht, so wird diese Herrschaft Zuchtlosigkeit benannt. Die Zuchtlosigkeit aber trägt viele Namen, denn sie ist vielgliedrig und vielgestaltig. Welche von diesen Formen nun gerade hervortritt, die verleiht ihrem Träger auch ihren Beinamen, der weder schön noch wünschenswert ist. So nennen wir die Begierde nach Speise, wenn sie den Gedanken des Besten und die übrigen Begierden beherrscht, Schlemmerei, welche den gleichen Namen auch ihrem Träger verleihen wird. Ebenso ist die Benennung dessen klar, den die Begierde nach Weinrausch auf ihrem Wege mit sich führt, wenn sie sich zur Tyrannin aufwirft. Und auch bei den übrigen dieser verschwisterten Namen, die zu den verschwisterten Begierden gehören, ist es klar, wie einer nach der jeweils regierenden Begierde zu benennen ist. Doch um welcher willen das Bisherige gesagt ist, ist nun wohl schon offenbar, ausgesprochen wird aber alles noch deutlicher als unausgesprochen. Denn die vernunftlose Begierde, überwältigend die Vorstellung, die nach dem Rechten strebt, von der Lust an der Schönheit und wiederum von den ihr verwandten Begierden zur Schönheit der Leiber mit Lebenskraft gefüllt – diese Begierde, wenn sie so ihre Herrschaft auf dem Siegeszuge gekräftigt hat, empfing ihren Beinamen von dieser Lebenskraft und wurde Liebe genannt. –

15. Aber, lieber Phaidros, scheint es dir nicht, wie mir selber, dass ich von einem göttlichen Geschehen besessen bin?

Phaidros. In Wirklichkeit, Sokrates, ein ganz ungewohnter Strom der Rede hat dich ergriffen.

SOKRATES. Stille also, höre mich weiter! Denn wirklich göttlich scheint dieser Ort zu sein. Darum wundre dich nicht, wenn ich im Fortgange der Rede vielleicht von Nymphen besessen erscheine, denn schon jetzt erklinge ich beinahe von Dithyramben.

Phaidros. Du sprichst sehr wahr!

SOKRATES. Wahrlich, du selber bist schuld daran. Doch höre das übrige. Sonst könnte vielleicht verscheucht werden, was mich überkommt. Das soll nun Gottes Sorge sein, uns aber liegt ob, uns in der Rede wieder an jenen Knaben zu wenden. Gut denn, mein Bester. Was jenes ist, worüber wir beraten wollen, ist gesagt und bestimmt. Indem wir dies im Auge behalten, wollen wir weiter sagen, welcher Nutzen und welcher Schaden von dem Verliebten oder Nichtverliebten mit Wahrscheinlichkeit dem zuteil wird, der ihnen seine Gunst schenkt. Wer von der Begierde beherrscht wird und Knecht der Lust ist, der muss notwendig das Geliebte so angenehm wie möglich für sich zurichten. Dem Kranken aber ist alles süß, was nicht widerstrebt, das Stärkere und Gleiche verhaßt. Also weder stärker noch gleich stark lässt der Liebende den Geliebten gern werden, sondern schwächer und unselbständiger sucht er ihn dauernd zu machen. Schwächer aber ist der Unwissende als der Weise,. der Feige als der Tapfere, der Unberedte als der Beredsame, der Langsame als der Geistesgegenwärtige. Über alle diese Übel und noch mehr muss der Liebhaber sich freuen, wenn sie in der Gesinnung des Geliebten entstehen oder von Natur ihm angeboren sind, und er muss sie auch selbst herbeiführen, sonst wird er des mühelosen Genusses beraubt. Neidisch muss er darum sein und dadurch, dass er ihn von vielen andern Verbindungen abhält, die ihm vor allem dazu nützen würden, ein Mann zu werden, ihm großen Schaden zufügen, den größten aber in derjenigen, die ihn wahrhaft einsichtig machen würde. Denn nach der Fügung ist das die göttliche Philosophie, von der der Liebhaber den Liebling notwendig in weiter Ferne halten wird, aus Furcht, sonst von ihm verachtet zu werden. Und auch alles übrige wird er darauf anlegen, dass er überall. unwissend bleibe und überall auf den Liebhaber schaue, so dass er diesem möglichst angenehm werde, sich selbst aber verderblich.

16. Für die Gesinnung also ist niemals als Beschützer und Genoß der Mann förderlich, der Liebe in sich trägt. Aber weiter ist zu betrachten, welche Haltung und Bildung des Leibes und in welcher Weise der sie pflegen wird, der sein Herr geworden ist, wenn er dem Zwang unterliegt, dem Angenehmen anstatt dem Guten nachzujagen. Man sieht ihn wie er dem weichlichen, nicht dem straffen Jüngling folgt, nicht einem, der in klarem Sonnenschein aufgewachsen ist, sondern im dämmrigen Schatten, unerfahren der männlichen Mühen und des Schweißes der Anstrengungen, wohlerfahren der zarten und unmännlichen Lebensweise, mit fremden Farben und Zieraten geputzt aus Mangel an eigenen. Und so betreibt er alles andre, was daraus folgt. Das ist bekannt und lohnt nicht weiter zu schildern, sondern wir wollen zu etwas anderem üBergehen, indem wir die Hauptsache kurz bezeichnen: Wenn sie einen solchen Körper im Krieg und in andern großen Nöten sehen, so schwillt den Feinden der Mut, die Freunde und Liebhaber selbst aber geraten in Furcht.

Das also üBergehen wir als bekannt und haben weiter auszuführen, welchen Nutzen oder Schaden an allem, was wir besitzen, der Umgang und die Fürsorge des Verliebten gewähren wird. Da ist es wohl jedem klar, vor allen dem Liebhaber selbst, dass dieser wünschen würde, der Geliebte sei der liebsten und herzlichsten und göttlichsten Güter verwaist. Denn Vater und Mut-ter, Verwandte und Freunde sähe er ihm gerne ent-rissen, da er sie für die Störer und Tadler des ange-nehmsten Umganges mit ihm hält. Aber auch wenn er ein Vermögen an Gold oder anderem Besitz hat, wird er glauben, er sei nicht leicht zu gewinnen und, wenn gewonnen, nicht leicht zu behandeln. Notwen-digerweise mißgönnt daher der Liebhaber dem Liebling, dass er Vermögen besitzt, während er über dessen Verlust sich freut. Und weiter wird er wünschen, dass der Liebling möglichst lange ehelos, kinderlos und ohne Haushalt sei, da er begehrt, möglichst lange sein süßes Glück zu genießen.

17. Zwar gibt es noch andere Übel, aber den meisten hat irgendein Dämon Augenblicke der Lust beigemischt, wie die Natur dem Schmeichler, einem furchtbaren Untier und großem Verderben, dennoch eine nicht geistlose Lust beimischte, und wie man eine Hetäre als verderblich schelten kann, und was es sonst noch vieles an derartigen Geschöpfen und Bedürfnissen geben mag: die alle gewähren doch für Stunden großen Genuß. Für den Geliebten aber wird der Liebhaber, abgesehen von der Schädlichkeit, im täglichen Umgange höchst unangenehm. Jugend, so sagt schon ein altes Sprichwort, ergötzt sich an Jugend, weil, wie ich glaube, die Gleichheit des Alters zu den gleichen Vergnügungen führt und so durch Ähnlichkeit Freundschaft bewirkt. Und dennoch bringt auch der Verkehr unter solchen den Überdruß mit sich. Und vollends der Zwang, heißt es, ist für alle und in allen Dingen lästig, und den bringt – abgesehen von der Unähnlichkeit – am meisten der Liebhaber für den Geliebten mit sich. Denn der Ältere will sich vom Jüngeren, wenn er bei ihm ist, weder bei Tage noch bei Nacht freiwillig entfernen, sondern vom Zwang und vom Stachel wird er getrieben, der ihm unaufhörlich Lust bereitet, indem er schaut, hört, fühlt und mit aller Empfindung den Geliebten wahrnimmt: so leistet er mit Lust ihm unzertrennlich Gefolgschaft. Welchen Trost aber oder welche Lust kann er dem Geliebten geben, und was soll diesen vor dem äußersten Widerwillen bewahren, wenn er die gleiche Zeit mit ihm zusammen ist? wenn er das Antlitz altern und nicht mehr in Blüte sieht, und das übrige, was dazu gehört und schon in der Rede nicht angenehm zu hören ist, geschweige denn in der Wirklichkeit, wenn man sich dauernd damit befassen muss und wenn er gar argwöhnisch überall und gegen alles lauernd überwacht wird, unzeitiges und übertriebenes Lob anhören muss, wie auch ebenso Tadel, schon von einem Nüchternen unerträglich, ganz schändlich aber darüber hinaus von dem Trunkenen, der mit zügelloser und unverhüllter Offenheit redet?

18. Solange jener liebt, ist er also verderblich und unangenehm, hört aber die Liebe auf, so ist er treulos die folgende Zeit, für welche er vieles unter häufigen Eiden und Schwüren dem Geliebten versprach, um ihn durch die Aussicht auf Vorteile mühsam festzuhalten, den damals schon lästigen Verkehr zu ertragen. Nun aber, wo er sein Versprechen einlösen soll, hat er einen anderen Herrn und Führer seines Innern erwählt, Verstand und Besonnenheit anstatt Liebe und Wahnsinn, und ist so ein andrer geworden, ohne dass der Geliebte es merkte. Und der verlangt nun von ihm den Dank für das Vergangene und erinnert an das, was sie getan und gesprochen haben – als ob er noch mit demselben Menschen redete. Jener aber wagt aus Scham nicht zu gestehen, dass er ein andrer geworden, noch weiß er, wie er die Eide und Versprechungen aus der frühen unverständigen Verfassung treu erfüllen sollte, da er nun zu Verstand und Besonnenheit gekommen ist – ohne wieder dem ehemaligen Menschen ähnlich und gleich zu werden, wenn er wie dieser handelt. Ein Flüchtling wird er daher, und notgedrungen entsagend wendet sich der ehemalige Liebhaber, nachdem die Scherbe auf die andre Seite fiel, seinerseits zur Flucht. Der vorher Geliebte aber muss nun ihn verfolgen, zürnend und die Götter anrufend, darum, weil er von Anfang an das alles nicht begriff: dass man niemals seine Gunst dem Verliebten und darum Unvernünftigen schenken soll, vielmehr dem Nicht-Verliebten, der seinen Verstand behält, denn sonst gäbe man sich notwendig einem treulosen, mürrischen, neidischen, widerwärtigen Manne hin, der einem verderblich ist für sein Vermögen, verderblich für die Haltung seines Leibes, bei weitem am verderblichsten für die Bildung seiner Seele, die doch für Menschen und für Götter in Wahrheit das kostbarste Gut von je ist und für immer sein wird. Dies also mußt du bedenken, Kind, und die Freundschaft des Liebhabers durchschauen, dass sie nicht aus Wohlwollen entsteht, sondern gleich einer Speise um der Sättigung willen. Denn wie Wölfe das Lamm, so lieben Verliebte den Knaben

 

 

Zwischenspiel

 

19. Da hast du es, Phaidros! Nicht weiter wirst du mich reden hören, nein, endlich soll dir die Rede schließen.

Phaidros. Aber ich glaubte, du wärest erst in der Mitte und würdest das Entsprechende von dem Nichtverliebten sagen, dass man ihm lieber seine Gunst zuwenden müsse, und ausführen, welche Vorzüge er dagegen hat. Warum denn, Sokrates, hörst du schon auf?

SOKRATES. Merktest du nicht, Seliger, dass ich schon Verse tönte und nicht mehr bloße Dithyramben, und dies, während ich tadle? Wenn ich aber anfangen würde, den andern zu preisen, was glaubst du wohl, was ich dann erst tun würde? Weißt du wohl, dass ich von den Nymphen, denen du mich mit Absicht vorgeworfen hast, vollkommen besessen sein würde? So erkläre ich also mit einem Worte: von all den Lastern, deretwegen wir den Einen geschmäht haben, kommt dem andern das entgegengesetzte Gute zu. Und was bedarf's langer Rede? Über beideist hinlänglich gesprochen. Und somit mag diese Märe das Geschick leiden, das ihr zukommt. Ich aber kehre heim durch den Bach, bevor ich von dir zu etwas noch Ärgerem gezwungen werde.

Phaidros. Aber doch noch nicht, Sokrates, ehe die Hitze nachläßt Siehst du denn nicht, dass die Sonne nahezu schon ihren Mittagsstand eingenommen hat? Nein, laß uns abwarten und zugleich das Vorgetragene besprechen. Sobald die Kühlung eintritt, brechen wir auf.

SOKRATES. Göttlich bist du, Phaidros, mit deinen Reden und schlechthin zu bewundern. Ich glaube nämlich, den während deiner Lebenszeit entstandenen Reden hat niemand mehr als du zur Geburt verholfen, magst du sie nun selbst gesprochen oder andere auf irgendeine Art dazu genötigt haben – Simmias, den Thebaner, nehme ich aus, die übrigen übertriffst du bei weitem. Auch jetzt kommt es mir wieder so vor, als seist du Anlass geworden für eine Rede, die ich halten muss.

PHAJDROS. Das ist nicht Krieg, was du ansagst! Aber wieso und worüber wirst du reden?

20. SOKRATES. Als ich mich eben anschickte, mein Guter, durch den Bach zu gehen, geschah mir, wie ich es gewohnt, jenes dämonische Zeichen  immer hemmt es mich nur, wenn ich etwas unternehmen will –, und es war mir, als vernähme ich aus diesem Orte eine Stimme, die mir verbot, davonzugehen, bevor ich mich entsühnt hätte, weil ich gegen die Gottheit gefrevelt hätte. Ich bin nun auch ein Seher, keiner von Gewerbe zwar, aber doch, wie die ungeübten Schreiber, soweit ich es für mich selbst brauche. Daher erkenne ich schon deutlich meinen Frevel. Ja, mein Freund, ein seherisches Wesen ist doch auch die Seele. Längst schon, während ich redete, beunruhigte mich etwas, und ich war voller Scham, um mit Ibykos zu sprechen, ob ich nicht »gegen Götter fehlend den Ruhm bei Menschen tauschte«. Nun aber habe ich den Frevel erkannt.

Phaidros. Was meinst du da?

SOKRATES. Arg, Phaidros, arg war die Rede, die du selbst mitbrachtest, und die, die du zu halten mich zwangst

Phaidros. Wieso das?

SOKRATES. Einfältig und bisweilen gotteslästerlich. Und welche ärgere könnte es denn geben?

Phaidros. Keine, wenn deine Behauptung wahr ist.

SOKRATES. Wie denn? Glaubst du denn nicht, dass Eros Aphrodites Sohn ist und ein Gott?

Phaidros. Als solcher gilt er.

SOKRATES. Nicht aber bei Lysias und nicht in deiner Rede, die durch meinen von dir verzauberten Mund gesprochen wurde. Wenn also doch Eros in Wirklichkeit ein Gott oder eine Gottheit ist, so kann er nichts Übles sein. Die beiden Reden aber sprechen eben von ihm, als ob er das wäre. Damit frevelten sie an Eros. Und außerdem ist ihre Einfalt sehr ergötzlich, da sie, nichts Gesundes, nichts Wahres sagend, sich brüsteten, als ob sie etwas wären, wenn sie ein paar Leutchen täuschten und ihren Beifall gewännen. Mir also, mein Freund, ist Sühnung notwendig. Es gibt eine alte Sühne für die gegen die Götter-Sage Verstoßenden, die zwar Homer nicht kannte, wohl aber Stesichoros. Denn als er wegen der Schmähung Helenas des Augen-lichtes beraubt wurde, blieb ihm nicht, wie dem Homer, der Grund unbekannt, sondern als ein den Musen Vertrauter erkannte er ihn und dichtete alsbald:

 

Nein, unwahr ist diese Rede,

Nie stiegest du in wohlgefügte Schiffe,

Nie kamest du zur Feste Trojas.

 

Und kaum hatte er den ganzen sogenannten Widerruf gedichtet, so wurde er wieder sehend. Ich aber will in gleicher Sache weiser sein als jene beiden. Denn bevor mich wegen der Schmähung des Eros ein Leid trifft, will ich versuchen, ihm den Widerruf zu entrichten, mit entblößtem Haupte, und nicht wie vorhin aus Scham verhüllt.

Phaidros. Angenehmeres als dies könntest du, Sokrates, mir gar nicht sagen.

21. SOKRATES. Du siehst also ein, bester Phaidros, wie schamlos beide Reden waren, die letzte ebenso wie die aus der Rolle verlesene. Denn wenn zufällig ein Mann von edlem und zartem Wesen, der in einen andern von gleichem Wesen verliebt ist oder früher einmal verliebt war, uns hätte sagen hören, dass die Liebenden aus kleinen Anlässen großen Streit anheben und dass sie dem Geliebten neidisch und verderblich sind, wie, meinst du etwa denn nicht, er müsste glauben, Leute zu hören, die unter Ruderknechten aufgewachsen sind und niemals eine hochherzige Liebe gesehen haben, und dass er nimmermehr unsern Vorwürfen gegen Eros recht geben würde?

Phaidros. Wahrscheinlich, beim Zeus, Sokrates.

SOKRATES. Aus Scham vor diesem Manne und aus Furcht vor Eros selber treibt es mich, gleichsam mit dem Süßwasser einer Rede den Salzgeschmack des Gehörten hinwegzuspülen. Ich rate aber auch dem Lysias, so bald wie möglich eine Schrift zu verfassen, dass man dem Verliebten bei sonst gleichen Umständen eher als dem Nichtverliebten Freundschaft schenke.

Phaidros. Sei überzeugt, dass dies so geschehen wird. Denn wenn du das Lob des Verliebten verkündet hast, muss notwendig Lysias von mir gezwungen werden, wieder über ebendasselbe eine Rede zu schreiben.

SOKRATES. Ja! Dessen bin ich gewiß, solange du der bleibst, der du bist.

Phaidros. So sprich also getrost.

SOKRATES. Wo aber blieb mir der Knabe, zu dem ich sprach? Denn er soll auch dies hören, damit er nicht voreilig noch unwissend dem Nicht-Liebenden Freund werde.

Phaidros. Der ist immer, sooft du nur willst, ganz nahe bei dir.

 

Schema

 

Sokrates’ zweite Rede

 

22. SOKRATES. »Du mußt wissen, schöner Knabe, dass die vorige Rede vom Myrrhinusier Phaidros ist, dem Sohn Pythokles', die ich aber jetzt sagen werde, vom Stesichoros aus Himera, dem Sohne des Euphemos. Und so muss sie lauten: Nein, unwahr ist die Rede, welche behauptet, man müsse, auch wenn ein Verliebter erscheint, die Freundschaft des Nicht-Verliebten vorziehen, weil jener im Rausche, dieser bei Besinnung ist. Ja, wenn der Rausch schlechthin ein Übel wäre, dann wäre es wohl gesprochen. Nun aber werden die größten aller Güter uns durch den Rausch zuteil, wenn er als göttliches Geschenk verliehen wird. Denn die Prophetin in Delphi und die Priesterinnen in Dodona haben in der Besessenheit vieles Schöne für Haus und Stadt in Hellas getan, bei klarer Besinnung aber Kümmerliches oder nichts. Und wenn wir noch die Sibylle nennen wollten und andere, die, durch die Seherkunst von Gott erfüllt, vielen wahrsagten und ihnen oft für die Zukunft die Richte gaben, so würden wir uns ins Allbekannte verlieren. Aber dies Zeugnis ist wert, nicht üBergangen zu werden, dass auch jene Alten, welche den Namen gaben, den Rausch nicht für Schimpf und Schande hielten, ihn Mania benennend, denn nicht hätten sie der schönsten Kunst, welche über die Zukunft urteilt, eben diesen Namen angeheftet und sie die manische genannt. Nein, im Glauben, dass der Rausch etwas Schönes sei, wenn er durch göttliche Schickung entsteht, setzten sie die Namen Mania und manische Kunst, während man heute recht unschicklich das T einschaltete und sie die mantische nannte. Ebenso haben die Besonnenen mittels der Vogelflüge und anderer Zeichen, weil sie durch Nachdenken der menschlichen Denkungsart Geist und Kunde verschaffen, Oionoistik, das heißt Denkungskunst genannt, welche heute wir Neueren, uns mit einem langen O brüstend, Oionistik, das heißt Vogelschau, nennen. Soviel nun die Kunst des Sehers vollkommener und ehrwürdiger ist als die Vogelschau, Name mit Namen und Sache mit Sache verglichen, um soviel ist, wie die Alten bezeugen, der aus Gott stammende Rausch edler als die von Menschen stammende Besonnenheit.

Aber auch von schwersten Leiden und Nöten, wie sie aus altem Fluche über manchen Geschlechtern walten, brachte der Rausch die Befreiung, wenn er zur rechten Zeit entstand und weissagte, indem er mit Gebeten und heiligen Handlungen zu den Göttern Zuflucht nahm, wodurch er Sühnungen und Weihungen schuf und den, der an ihm teilhatte, für Gegenwart und Zukunft heilte, weil er die Lösung fand vom gegenwärtigen Übel für den im wahren Sinne Berauschten und Besessenen.

Die dritte Besessenheit, der Rausch von den Muse~, welcher die zarte und unentweihte Seele ergreift, erweckt und in Taumel versetzt, verherrlicht unter Gesängen und der andern Dichtung Tausende von Taten der Ahnen und bildet so die Nachkommen. Wer aber ohne den Rausch der Musen den Pforten der Dichtung naht, im Vertrauen, dass er durch sein Können ein zulänglicher Dichter werde, der bleibt selber ungeweiht, und von der Dichtung der Berauschten wird die des Verständigen verdunkelt.

23. So viele und noch mehr herrliche Wirkungen des von den Göttern kommenden Rausches kann ich dir aufzählen. Darum brauchen wir gerade ihn nicht zu fürchten, und nicht soll eine gewisse Rede uns verwirren durch die Sorge, dass man den besonnenen Freund dem schwärmenden vorziehen müsse. Vielmehr erst, wenn sie außerdem noch dies bewiesen hat, dass nicht zum Heile dem Liebenden und dem Geliebten die Liebe von den Göttern gesandt wird, soll ihr der Siegespreis verliehen werden. Wir dagegen haben das Gegenteil zu beweisen, dass zu unserm glücklichsten Geschick die Götter den Rausch von dieser Art gewähren. Diese Lehre wird unglaublich sein den. mächtigen Denkern, glaublich aber den Weisen. Zuerst müssen wir nun die Wahrheit über die Natur der Seele,. der göttlichen und der menschlichen, erkennen, indem wir ihr Tun und Leiden betrachten. Der Urgrund der Darstellung aber ist folgender:

24. Alle Seele ist unsterblich. Denn alles Sich-selberBewegende ist unsterblich. Aber Andres-Bewegendes und von Andern Bewegtes hat, wie Ende der Bewegung, so Ende des Lebens. Allein das Sich-selbst-Bewegende, da es ~a sich selbst nie verläßt, hört niemals auf sich zu bewegen, und dies ist auch für alles andre, was bewegt wird, Quell und Urgrund der Bewegung. Urgrund ist ungeworden.. Denn aus dem Urgrund muss notwendig alles Entstehende entstehen, dieser aber nicht aus irgend etwas. Denn wenn der Urgrund aus einem Etwas entstünde, entstünde er nicht aus dem Urgrund. Da er ungeworden ist, muss er notwendig auch unvergänglich sein. Denn wenn der Urgrund verlorenginge, würde weder der aus etwas, noch ein Anderes aus ihm entstehen, da doch aus dem Urgrunde alles entstehen muss. So ist denn Urgrund der Bewegung das selbst sich selbst Bewegende. Dies aber kann weder vergehen noch entstehen, oder der ganze Himmel und die ganze Schöpfung würden in eins zusammenfallen und zum Stillstand kommen, und niemals wieder hätten sie etwas, woraus Bewegtes entstünde. Da sich so das sich von selbst Bewegende als unsterblich offenbart hat, so darf man sich nicht scheuen, dieses Selbe als Wesen und Sinn der Seele zu erklären, denn jeder Körper, dem die Bewegung von außen kommt, sei unbeseelt, dem aber die Bewegung von innen aus ihm selber komme, sei beseelt, weil darin die Natur der Seele bestehe. Verhält es sich aber so, dass das Sich-selber-Bewegende nichts anderes sei als die Seele, so wäre notwendig die Seele ungeworden und unsterblich.

25. Damit genug von ihrer Unsterblichkeit. Von ihrer Idee aber müssen wir dieses sagen: Wie sich dies wirklich verhält, bedürfte allüberall einer göttlichen und langdauernden Darstellung, aber ein Gleichnis für sie zu geben, genügt eine menschliche und beschränktere. Auf diese Weise laß uns also reden: Verglichen sei sie der zusammengewachsenen Kraft eines geflügelten Gespannes und seines Lenkers. Der Götter Rosse und Lenker sind selbst edel und stammen von Edlen, die der übrigen sind gemischt. Und erstlich lenkt bei uns der Führer ein Zweigespann, aber da ist von den Rossen eines schön und edel und von edler Abstammung, das andere das Gegenteil davon in Abstammung und Artung. Schwer und voller Verdruß muss daher die Lenkung bei uns sein.

Woher nun aber ein Lebendiges als sterblich und als unsterblich benannt wird, soll möglichst erklärt werden. Alle Seele trägt Sorge für alles Unbeseelte, durchwandelt den ganzen Weltraum, überall in wechselnden Gestalten entstehend. Wenn sie nun vollkommen und befiedert ist, so schwebt sie im Äther und durchwaltet die ganze Welt, sind aber ihre Schwingen versehrt, so treibt sie dahin, bis sie sich an irgend etwas Festes klammert, in dem sie Wohnung nimmt. So erwirbt sie einen irdischen Leib, der durch ihre Kraft sich selber zu bewegen scheint, und das Ganze, Seele und Leib zusammengefügt, wird nun ein Lebendiges genannt, das dazu den Beinamen »sterblich« trägt. Auf ein unsterbliches Wesen aber schließen wir nicht aus irgendeinem beweisbaren Grunde, sondern, ohne Gott gesehen oder hinreichend erkannt zu haben, bilden wir ein unsterbliches Wesen, das zugleich Leib und Seele enthält, beides für ewige Zeit zusammengewachsen. Doch soll sich dies verhalten und soll dargestellt wer den, wie es dem Gott gefällt. Aber die Ursache für den Verlust der Schwungfedern, weswegen sie der Seele ausfallen, wollen wir betrachten. Damit verhält es sich so:

26. Es ist die Natur der Schwingen, durch ihre Kraft das Schwere in den Äther zu erheben und bis zu dem Orte zu tragen, wo das Göttergeschlecht haust, denn sie haben am meisten von allen leiblichen Dingen Anteil am Göttlichen. Das Göttliche aber ist schön, weise, edel und alles, was dem verwandt ist. Von diesem also nährt sich und wächst am meisten das Gefieder der Seele, durch das Häßliche aber und das Üble und was sonst jenem entgegengesetzt ist, nimmt es ab und schwindet...Er aber, des Himmels großer Fürst Zeus, den geflügelten Wagen lenkend, fährt als erster dahin, der All-Ordnende und All-Waltende. Ihm folgt sodann in elf Scharen geordnet das Heer der Götter und Dämonen. Hestia . Die anderen führenden Götter, welche eingereiht sind in die Zwölf-Zahl, ziehen ihren Scharen voran nach der Ordnung, in die jeder gereiht ist. Zahlreich sind nun die seligen Sichten und Straßen im Himmelsraum, welche das Geschlecht der glückseligen Götter durchkreist, jeder von ihnen das Seinige verrichtend. Und es folgt ihnen, wer immer will und kann. Neid steht ja außerhalb des göttlichen Reigens. Wenn sie sich aber zu Speisung und Festmahl begeben, so fahren sie steil in die Höhe der innern Himmels-Wölbung. Da fahren denn die Gespanne der Götter, wohlgezügelt, leicht im Gleichgewicht dahin, die andern aber nur mit Not, denn das Roß der Schlechtigkeit drängt zur Erde und lastet mit seiner Schwere, wenn es von seinem Lenker nicht gut erzogen ist. Das legt der Seele härtestes Ringen und Mühsal auf. Wenn aber die, die unsterblich heißen, an den Gipfel gelangen, wenden sie nach außen und halten an auf dem Rücken der Himmelskugel, und während sie stehen, schwingt sie die Umdrehung im Kreise mit sich sie aber schauen, was jenseits des Himmels ist.

27. Den überhimmlischen Raum aber hat noch kein irdischer Dichter nach Gebühr besungen, und es wird keinem nachmals gelingen. Es hat damit diese Bewandtnis ja doch, das Wahre muss man sich erkühnen zu sagen, zumal wenn man über die Wahrheit selbst spricht: das Sein, das bar der Farbe, bar der Gestalt und untastbar wirklich ist, ist allein für den Lenker der Seele, den Geist zu schauen. Den Raum um jenes herum nimmt das Geschlecht des wahren Wissens ein. Da eines Gottes Denken, genährt von ungemischtem Geist und Wissen, und das Denken jeder Seele, welche Sorge trägt, das ihr Gebührende zu empfangen, nach ihrer Frist das Seiende erblickt, so freut sich die Seele daran und nährt sich von der Schau des Wahren und lässt es sich wohl sein, bis die Drehung sie im Kreise wieder auf die gleiche Stelle zurückträgt. In diesem Umlauf erblickt sie die Gerechtigkeit selbst, erblickt die Besonnenheit, erblickt die Erkenntnis, nicht die, der ein Werden beschieden ist, noch die, welche immer eine andre ist in andern Dingen, die wir jetzt wirklich nennen, sondern die im wirklichen Wesen wesende Erkenntnis. Und wenn sie so die übrigen wirklichen Wesenheiten geschaut und sich daran geweidet hat, so taucht sie wieder in das Innere des Himmels und kehrt in ihr Haus zurück. Dort angekommen, führt der Lenker die Rosse an die Krippe, wirft ihnen Ambrosia vor und tränkt sie mit Nektar.

28. Und das ist der Götter Leben. Welche aber von den andern Seelen dem Gotte am besten gefolgt und ihm ähnlich wird, die erhebt das Haupt ihres Lenkers in den jenseitigen Raum, wird in der Umdrehung mit herumgeschwungen, jedoch wird sie durch die Rosse verwirrt und vermag das Seiende nur mit Mühe zu er blicken. Eine andere taucht bald auf, bald sinkt sie unter, aber mitgerissen von den Rossen, sieht sie manches, anderes nicht. Die übrigen insgesamt folgen zwar auch nach oben strebend, aber es gelingt ihnen nicht, und sie werden unter der Oberfläche herumgetrieben, treten und stoßen sich gegenseitig, da jede die andere überholen will. Da erhebt sich wildestes Getöse, Kampf und Entsetzen, wo durch die Schuld der Lenker viele gelähmt, vielen die Schwingen gebrochen werden. Alle diese aber kehren um nach langer Mühe, ohne die Weihe durch die Schau des Seienden, und heimgekehrt nähren sie sich von bloßer Erscheinung.

Der Grund aber für den großen Eifer, das Gefilde der Wahrheit zu finden, ist der, dass auf den Auen dort die dem edelsten Teile der Seele gebührende Weide sprießt, durch die der Wuchs der Flügel, mit denen die Seele sich erhebt, genährt wird. Und dies ist das Gesetz der Adrasteia: Welche Seele dem Gott folgen konnte und etwas vom Wahren erblickte, die soll bis zur nächsten Wiederkehr kein Leid erfahren, und wenn ihr dies immer wieder gelingt, soll sie immer unversehrt bleiben. Wenn sie aber zu schwach war, mitzukommen, und nichts erblickte und sie, von einem Unfall betroffen, schwer wird durch die Last von Vergeßlichkeit und Schlechtigkeit, durch ihre Schwere die Schwungfedern zerstößt und zur Erde stürzt, dann gilt das Gesetz, dass sie bei der ersten Geburt noch nicht eingepflanzt wird in ein tierisches Geschöpf, sondern die, welche von ihnen am meisten geschaut hat, in den Keim eines Freundes der Weisheit oder der Schönheit oder eines Dieners der Musen, oder des Eros, die zweite in den eines gesetzestreuen Königs oder einer Feldherrn- und Herrschernatur, die dritte in den eines Staatsmannes, eines Verwalters oder Geschäftsmannes, die vierte in den eines Mannes, der die Ausbildung oder der die Heilung des Körpers ausübt, die fünfte wird das Leben eines Wahrsagers oder eines Weihepriesters führen, der sechsten wird ein Dichter oder sonst ein nachahmender Künstler gemäß sein, der siebenten das eines Handwerkers oder Landmannes, der achten das eines Sophisten oder Volksschmeichlers, der neunten das eines Tyrannen.

29. Wer unter allen diesen Sein Leben gerecht geführt hat, der erbst ein besseres Geschick, wer aber ungerecht, der ein schlimmeres. Nämlich zum Ort ihres Ursprungs gelangt die Seele nicht zurück unter zehntausend Jahren – denn es wachsen ihr keine Schwingen vor so langer Frist, außer wenn sie ohne Falsch nach Weisheit strebte oder in solchem Geist die Knaben liebte. Diese Seelen werden im dritten der tausendjährigen Umläufe, wenn sie dreimal hintereinander ein solches Leben gewählt haben, wieder beflügelt und kehren so im. drei-tausendsten Jahre heim. Die übrigen aber, wenn sie das erste Leben geendet haben, trifft das Gericht. Gerichtet gelangen die einen von ihnen in die Verließe unter der Erde und leisten Buße, die andern werden auf Dikes Spruch in irgendeinen Ort des Weltraumes erhoben und führen dort ein Leben, wie es ihres Lebens in menschlicher Gestalt wert ist. Im tausendsten Jahre aber sammeln sich beide Gruppen zur Auslosung und zur Wahl des zweiten Lebens, und jede Seele wählt sich, welches sie will. Jetzt kann auch eine menschliche Seele in ein tierisches Leben üBergehen, und aus einem Tiere, wer früher einst ein Mensch war, wieder in einen Menschen. Doch eine Seele, die niemals die Wahrheit erblickt hat, wird nicht in diese Gestalt eingehen, denn zum Menschen gehört es, das gemäß der Idee Gesagte zu verstehen, das aus vielen Wahrnehmungen durch den Verstand in eins zusammengefaßt wird. Dies aber ist Erinnerung an jenes, was einst unsere Seele erblickte, als sie dem Zuge des Gottes folgte und hinwegschaute über das, was wir jetzt Sein nennen, das Haupt auf reckend in das Wirklich-Seiende. Darum wird auch gerechtermaßen allein. der .Geist der Weisheit-Liebenden beflügelt, denn er weilt, soweit er vermag, immerfort im Gedenken bei jenen Dingen, bei denen Gott verweilt, um göttlich zu sein. Der Mann allein, der solche Erinnerungen richtig anwendet, immerdar in vollkommene Weihen eingeweiht, wird endlich der wahrhaft Vollkommene. Tritt er aber aus der Bahn menschlicher Bestrebungen und wird dem Göttlichen hörig, so wird er von der Menge als wahnsinnig gescholten, denn dass er des Gottes voll ist, bleibt ihr verborgen.

30. Hier tritt nun ganz die Rede ein von der vierten Art des Rausches. Wenn nämlich ein Mensch beim Anblick der irdischen Schönheit sich der wahren erinnert, so dass ihm die Flügel wachsen und er die Flügel regt in der Sehnsucht, sich aufzuschwingen – er aber hat nicht die Kraft dazu und blickt gleich wie ein Vogel nach oben, ohne des Unteren zu achten, so gibt er Anlass, dass man ihn wahnsinnig nennt. Diese aber ist unier allen Gott-Begeisterungen die edelste und von edelstem Ursprung für ihren Träger und ihren Genossen, weil um der Teilnahme willen an diesem Rausch der die Schönen Liebende ein Verliebter genannt wird. Denn, wie schon gesagt worden, hat jede menschliche Seele zwar ihrer Natur nach das Seiende geschaut, weil sie sonst nicht in solches Geschöpf eingegangen wäre, doch fällt es nicht allen leicht, sich aus den irdischen Erscheinungen an das Seiende zu erinnern, sei es, dass sie es damals nur kurz gesehen haben, sei es, dass sie beim Sturz auf diesen Ort hier das Mißgeschick betraf, in eine schlechte Gesellschaft zu geraten, so dass sie das Heilige vergaßen, das sie einstmals geschaut. Wahrlich, wenige sind übrig, denen ein zulängliches Gedächtnis innewohnt. Diese aber, wenn sie hier ein Abbild der Wesen droben erblicken, so werden sie erschüttert, und sie sind außer sich – was ihnen aber geschieht, wissen sie nicht, weil sie es nicht recht durchschauen. Denn die irdischen Nachbilder der Gerechtigkeit und Besonnenheit und was sonst der Seele kostbar ist, haben keine Leuchtkraft, und wenn wir mit unsern schwachen Sinnen an die Bilder herantreten, erblicken nur wenige mit Mühe das Geschlecht des Urbildes. Die Schönheit aber war damals leuchtend zu schauen, als wir mit dem glückhaften Chore das selige Gesicht und Schauspiel erblickten, da wir dem Zeus, andre einem andern Gotte folgten und eingeweiht wurden in die Weihe, die nach ewigem Recht die seligste genannt wird, in der wir schwärmten als die Makellosen, noch unversehrt damals von Übeln, die uns in der künftigen Zeit erwarteten, vorbereitet und geweiht für makellose, klare, beharrende und selige Gesichte in reinem Lichte, wir selber rein und nicht behaftet mit dem, was wir jetzt Körper nennen, den wir festgeheftet mit uns herumtragen wie die Purpurschnecke ihr Haus.

31. Das sei der Dank für die Erinnerung, um deretwillen, in Sehnsucht nach dem Vergangenen, die Rede ausgesponnen wurde. Die wirkliche Schönheit aber leuchtete unter jenen Wesen – auch hierhergelangt, erfaßten wir sie durch den hellsten unserer Sinne als das am hellsten Strahlende. Ist doch das Gesicht bei uns die schärfste der körperlichen Wahrnehmungen, durch die aber die Weisheit nicht geschaut wird – denn eine furchtbare Liebe würde entfacht, wenn ein solches helles Bild von ihr selbst in unser Gesicht träte –, so auch das übrige, das der Liebe würdig ist. Nun aber hat die Los, dass sie zugleich höchst klar

Erscheinendes und höchst Liebenswertes ist. Doch wer neu geweiht ist oder wer verdorben ist, der wird nicht heftig von hier zur Schönheit selbst dorthin gerissen, wenn er erblickt, was auf Erden ihren Namen trägt, und empfindet darum nicht Ehrfurcht bei ihrem Anblick, sondern der Lust ergeben strebt er in tierischer Art, sich ihr zu gatten und mit ihr zu zeugen, und scheut sich nicht, widernatürliche Lust zu suchen. Der Jüngst-Geweihte aber, der damals viel geschaut hat – wenn er ein gottähnliches Angesicht erblickt oder eine leibliche Gestalt, welche die Schönheit vollkommen abbildet, so befällt ihn zuerst ein Schauer, und etwas von den damaligen Ängsten überkommt ihn, dann aber, sie anschauend, verehrt er sie wie einen Gott, und fürchtete er nicht den Ruf eines üBergroßen Rausches, so brächte er Opfer vor. dem Geliebten, wie vor einem Götterbilde oder einem Gotte. Und da er ihn geschaut, befällt ihn im Wechsel wie nach Fieberfrost Schweiß und ungewohnte Hitze. Denn wie einen Regen empfängt er durch die Augen die Ausflüsse der Schönheit, die ihn erwärmen und die Keime des Fittichs tränken. Durchdrang ihn die Wärme, so schmilzt die alte Verhärtung um den Keim, die ihn einschloß und am Treiben hinderte, und während die Nahrung zuströmt, schwillt der Kiel des Gefieders' und treibt mächtig von, der Wurzel aus ,an der ganzen Gestalt der Seele, denn ehedem war sie ganz befiedert.

32. Da gärt es nun überall in ihr und bricht auf, und was die Zahnenden an den Zähnen leiden, wenn sie eben durchbrechen, ein Jucken und Unbehagen am Zahnfleisch, das leidet auch die Seele dessen, dem das Gefieder keimt: es gärt und juckt und macht ihr Un-behagen, wenn die Schwingen wachsen. Solange sie nun auf die Schönheit des Knaben blickt und die von dort sich losreißenden und ausströmenden Teilchen empfängt, welche daher Liebreiz benannt werden, und sie getränkt und durchwärmt wird, lässt ihre Pein nach, und sie ist froh. Ist sie aber wieder einsam und trock-net aus, so schrumpfen die Poren ein, durch die die Federn heraustreiben wollen, und ziehen sich zusam-men, so dass sie die treibende Kraft des Gefieders ab-schließen. Diese aber, zusammen mit dem Liebreiz eingeschlossen, springt wie die schlagenden Adern und stößt überall gegen ihre Poren, so dass die ganze Seele, ringsum gestachelt, in Rasen verfällt und gepeinigt ist. Da sie aber wieder Erinnerung an den Schönen in sich trägt, ist sie froh. Und indem beides sich mischt, wird sie unruhig durch den unbegreiflichen Zustand und wird irre in ihrer Hilflosigkeit. So von Raserei befallen, kann sie weder nachts schlafen,, weder des Tags an ihrem Orte verharren, sondern eilt sehnsüch-tig dahin, wo sie glaubt, den Träger der Schönheit zu erblicken. Sobald sie ihn aber schaut und den Liebreiz auf sich einströmen lässt, so löst sich das vorher Ver-schlossene wieder auf, Atem schöpfend fühlt sie sich frei von Stacheln und Schmerzen und erntet wieder jene süßeste Lust der Gegenwart. Weswegen sie auch sich freiwillig niemals von ihm trennt und niemand ihr mehr gilt als der Schöne: Mütter, Brüder und Freunde hat sie insgesamt vergessen und achtet es nicht, dass ihre Habe vernachlässigt wird und zerrinnt, und selbst alle Sittsamkeit und alles. Wohlverhalten, mit denen sie vordem sich schmückte, verschmäht sie und ist bereit, zu dienen und zu lagern, so nahe er es nur immer erlaubt, bei ihrer Sehnsucht. Denn wie sie den Träger der Schönheit verehrte, erfand sie auch ihn allein als Arzt der größten Leiden. Diesen Zustand, schöner Knabe, zu dem sich meine Rede wendet, nennen die Menschen Eros. Wenn du aber hörst, wie die Götter ihn nennen, wirst du vielleicht lächeln, so merkwürdig klingt es. Aus verschollenen Gesängen wiederholen Homeriden, wie ich glaube, zwei Verse auf den Eros, von denen der eine ziemlich übermütig und nicht besonders wohllautend ist.

Sie singen so:

     Ihn benennen die Sterblinge zwar geflügelten Eros,
     
Götter nennen ihn Flügler, weil er die Schwingen heraustreibt.

Mag man das nun glauben oder nicht, so hat es doch diese Bewandtnis mit dem Zustande des Verliebten. und seiner Ursache.

33. Wenn nun aus dem Gefolge des Zeus einer ergriffen wird, so vermag er die Pein des Flügelnamigen standhafter zu tragen. Wenn aber die Diener des Ares, welche einst seinem Schwarme folgten, vom Eros ergriffen werden, so sind sie mordlustig und bereit, sich selber wie den Geliebten hinzuopfern, sobald sie glauben, von diesem gekränkt zu sein. So lebt jeder seinen Gott verehrend, zu dessen Chor er gehörte, und ihn nachahmend, wie er vermag, solang er unverdorben ist und das Dasein seiner ersten irdischen Geburt durchlebt, und in derselben Weise verhält er sich zu den Geliebten und den andern Menschen in Umgang und Begegnung. Nach seiner Artung also erliest sich jeder die Liebe zu einem der Schönen, und als ob es ein Gott wäre, stattet er ihn sich aus und belädt ihn mit Schmuck, um ihm mit begeisterter Feier zu huldigen. Es verlangt also die Folger des Zeus, dass Zeus-ähnlich in seiner Seele ihr Geliebter sei. Sie spähen darum aus, ob eine Philosophen- und Herrscher-Natur habe. Und wenn sie ihn fanden und sich in ihn verliebten, so tun sie alles, damit er~ ein. solcher werde. Wenn sie vor her auch in dieser Lebensführung noch unsicher waren, so bemühen sie sich alsbald, zu lernen, von wem sie immer können, ja auch selber zu forschen. In sich selber spürend erreichen sie es, des eignen Gottes Natur zu finden, weil sie gezwungen sind, unverwandt auf den Gott zu blicken, und indem sie durch die Erinnerung ihn selber fassen, empfangen sie in der Begeisterung aus ihm Sitte und Lebensführung, soweit es dem Menschen möglich ist, an einem Gotte teilzuhaben. Da sie aber als Ursache davon den Geliebten ansehen, so lieben sie ihn um so mehr. Und indem sie aus Zeus schöpfen wie die Bacchantinnen, so überströmen sie damit des Geliebten Seele und machen ihn, soweit es nur möglich ist, ihrem Gotte ähnlich. Die dagegen, welche der Hera folgten., suchen einen Königlichen, und wenn sie ihn fanden, tun sie an ihm in allen Stücken das gleiche. Die aber Apollon oder einem jeden der andern Götter gehören, die suchen, indem sie ihrem Gotte nachgehen, ihren Knaben von g1eicher Natur, und wenn sie ihn gewonnen, so leiten sie ihn zur Lebensführung, Gestalt und Idee des Gottes, soweit es jeder vermag, indem sie selber ihm nachahmen und den Geliebten dazu überreden und ihn mit diesem Maß in Einklang bringen. Neid oder kleinlicher Mißgunst gegen den Liebling geben sie nicht Raum, sondern im größten Eifer, ihn zur vollkommenen Ähnlichkeit mit sich selbst und dem Gotte, den sie ehren, zu führen, tun sie so. So schön also und so selig ist der Eifer der wahrhaft Liebenden und die Weihe, wie ich sage, wenn sie erreicht haben, wonach sie eiferten, die durch den liebeberauschten Freund dem Freunde zuteil werden, wenn er sich gewinnen lässt. Gewonnen aber wird der Erwählte in dieser Weise:

34. Wie ich am Anfang dieses Gleichnisses jede Seele dreifach geteilt habe, in zwei Gestalten von Rosseart und drittens die Gestalt des Wagenlenkers, so wollen wir es auch jetzt weiter gelten lassen. Von den beiden Rossen, so sagten wir, sei das eine edel, das. andere nicht. Welches die Tüchtigkeit des edlen, die Bosheit des unedlen ist, haben wir üBergangen und holen es jetzt nach. Das eine von ihnen in schönerer Haltung, ist aufrecht von Wuchs, feingegliedert, den Hals aufreckend, mit geschwungener Nase, von weißer Farbe, mit dunklem Auge, stolz, aber auch Besonnenheit und Scham hebend, und da es den wahren Gedanken vertraut ist, wird es ohne Schlag, allein durch Befehl und Ermunterung gelenkt. Das andere ist senkrückig, plump und rasselos, steifnackig, kurzhalsig, stumpfnasig, schwarz von Farbe, die Augen mattblau mit Blut unterlaufen, der Ausschweifung und Frechheit freund, zottig um die Ohren, taub, kaum der Peitsche und dem Sporn gehorchend. Wenn nun der Wagenlenker, das liebreizende Antlitz erblickend, die Seele ganz vom Anschauen durchglüht, geschwellt wird vom stachelnden und brennenden Verlangen, so hält das dem Lenker gehorsame Roß, jetzt wie auch sonst immer von Scham beherrscht, sich selbst zurück, dem Geliebten nicht entgegenzuspringen. Das andere aber kehrt sich nicht länger an Stachel noch Peitsche des Lenkers, sondern springt und treibt mit Gewalt, macht dem Mitgespann und dem Lenker alle Not und zwingt sie, den Geliebten anzugehen und in ihm den Gedanken zu wecken an die Genüsse der Liebesgunst. Beide widersetzen sich anfangs zürnend, zu Frevel und Gesetzesbruch genötigt zu werden. Schließlich aber, wenn der Plage kein Ende ist, lassen sie sich mitreißen, geben nach und willigen ein, das Verlangte zu tun. Und so nahen sie sich ihm und schauen sie das Angesicht des Geliebten, das strahlende.

35. Indem aber der Lenker es erblickt, wird seine Erinnerung zur Natur der Schönheit getragen, und wieder sieht er diese neben der Besonnenheit auf heiliger Stufe stehen. Bei diesem Anblick erschrickt er, und voller Ehrfurcht weicht er nach hinten zurück und muss zugleich unwillkürlich die Zügel so hastig zurückreißen, dass beide Rosse sich auf die Schenkel setzen, willig das eine, weil es nicht widerstrebt, höchst widerwillig das zuchtlose. Indem sie nun weiter zurückweichen, benetzt das eine vor Scham und Staunen die ganze Seele mit Schweiß, das andre aber – kaum dass der Schmerz nachließ, den der Zaum und der Sturz verursachte, und es wieder Atem geschöpft – bricht in zornige Schmähungen gegen den Lenker und den Spanngenossen aus, dass sie feige und unmännlich vom Platze gewichen und das Versprechen verletzt hätten.

Und sogleich will es die Widerstrebenden nötigen, wieder sich zu nähern, kaum dass es ihren Bitten nachgibt, es noch einmal aufzuschieben. Kam aber die verabredete Stunde, so erinnert es die beiden, welche tun, als hätten sie es vergessen, versucht sie wiehernd mit Gewalt zu zwingen, sie mitzuzerren, dass sie wieder dem Geliebten nahen, um ihm jene Worte zu sagen, den Kopf senkend und den Schweif reckend, auf den Zaum beißend, reißt es ohne Scham. Den Lenker aber überfällt noch stärker das gleiche Gefühl, wie vor dem Sperrseil wirft er sie zurück, reißt noch stärker den Zaum zwischen den Zähnen des zuchtlosen Rosses mit Gewalt nach hinten, so dass ihm die schmähsüchtige Zunge und die Lippen bluten, und stößt ihm Schenkel und Flanken zu Boden, dass sie ihm schmerzen. Und wenn das schlechte Roß dies oftmals erdulden musste, lässt es ab vom Frevelmut, und gedemütigt folgt es nun dem Plane des Lenkers und vergeht in Furcht, wenn es den Schönen erblickt. So kommt es endlich dahin, dass die Seele des Liebenden dem Geliebten bescheiden und zaghaft nachgeht.

36. Da diesem also, als wäre er gottgleich, mit jedem Dienste gehuldigt wird von einem, der sich nicht verliebt gebärdet, sondern von wahrer Leidenschaft ergriffen ist, und da er selbst von Natur dem ihm Dienenden freund ist, so führt ihn im Laufe der Zeit seine Jugend und die natürliche Bestimmung dazu, sich den Verkehr mit ihm gefallen zu lassen – wenn er auch vordem den Liebhaber abgewiesen hätte, weil ihn oder andere Leute irregeführt hatten durch die Verleumdung, es sei Schande, sich einem Liebenden zu nahen. Denn niemals will es das Schicksal, dass der Schlechte dem Schlechten freund, noch dass der dem Edlen nicht freund sei. Läßt er sich so herbei und nimmt Gespräch und Umgang auf, dann erschüttert die durch die Nähe wachsende Neigung des Liebenden den Geliebten, denn er empfindet, dass die andern Freunde und Verwandten in ihrer Gesamtheit ihm nichts an Freundschaft gewähren, was heranreichte an den gotterfüllten Freund. Wenn er dabei verharrt und sie sich nahe kommen und in den Gymnasien und im übrigen Verkehr sich berühren, dann ergießt sich der Quell jenes Stromes, den Zeus, als er in Ganymed verliebt war, Liebreiz nannte, in seiner Fülle auf den Liebenden und dringt teils in ihn ein, teils strömt er wieder nach außen ab, wenn jener erfüllt ist. Und wie der Wind oder der Schall von glatten festen Flächen abprallt und dahin zurückgetrieben wird, von wo er entsprang, so fließt der Strom der Schönheit durch die Augen, den natürlichen Eingang zur Seele, wieder in den Schönen zurück mit befiedernder Kraft, netzt die Poren der Federn und treibt die Flügel zum Wachsen und füllt auch die Seele des Geliebten mit Liebe. Nun liebt er und weiß nicht was. Weder weiß er, was ihm geschah, noch findet er ein Wort dafür, sondern er gleicht einem, dem ein anderer eine Augenentzündung übertrug und der die Ursache nicht zu nennen weiß, denn dass er wie in einem Spiegel im Liebenden sich selber erblickt, bleibt ihm verborgen. Und wenn der andere zugegen ist, so ist er ganz wie jener von seinem Schmerz befreit, ist er aber abwesend, dann sehnt er sich wieder ebenso und wird ersehnt: trägt er doch in sich das Abbild des Eros, den Anteros. Er nennt es aber nicht so und glaubt, dass es nicht Liebe, sondern Freundschaft sei. Zwar ähnlich wie jener, aber doch weniger heftig, begehrt er, sehen, zu berühren, zu küssen, nebeneinander zu liegen, und wahrscheinlich wird er es bald danach tun. Dann hat auf dem gemeinsamen Lager das zügellose Roß des Liebhabers manches dem Lenker zu sagen und heischt für die vielen Mühen einen kleinen Genuß. Das Roß des Geliebten aber findet keine Worte, brünstig und ohne sich selbst zu verstehen, umarmt es den Liebhaber und küßt ihn, denn es liebt ihn wegen seiner innigen Zuneigung, und wenn sie zusammenliegen, wäre es an seinem Teil imstande, dem Liebenden die Gunst nicht abzuschlagen, um die er bäte. Aber gemeinsam mit dem Lenker widerstrebt dem der Spanngenoß aus Scham und Vernunft.

37. Wenn jetzt die edleren Kräfte des Geistes den Sieg erringen und zu einer geordneten Lebensführung und zur Philosophie leiten, so führen sie hier schon ein seliges und einträchtiges Leben, denn sie leben ihrer selbst mächtig und edelmütig, knechteten sie doch die Seelenkraft, in der die Schlechtigkeit, befreiten sie die, in der die Tüchtigkeit wurzelt Sterben sie aber, so haben sie, beflügelt und unbeschwert, von den drei olympischen Wettkämpfen schon in Einem den Sieg errungen, der das. größte Gut ist, das menschliche Besonnenheit oder göttlicher Rausch dem Menschen zu verleihen imstande ist. Wenn sie aber einer derberen und unphilosophischen, aber doch ehrliebenden Lebensweise folgen, dann überraschen wohl einmal im Trunke oder im Augenblick der Sorglosigkeit die beiden zuchtlosen Rosse die unbewachten Seelen, führen sie zusammen, so dass sie wählen und vollziehen, was der Menge die seligste Wahl scheint. Und haben sie es einmal getan, so wiederholen sie es auch in der Folge, aber nur selten, weil sie es nicht mit Zustimmung ihrer ganzen Seele tun. Einander freund geworden sind also auch diese, wenn auch weniger stark als jene, und sie verbringen so während dieser Liebe und darüber hinaus ihr Dasein  erzeugt, dass sie untereinander die höchsten Pfänder gegeben und empfangen haben, so dass es frevelhaft  wäre, sie wieder zu lösen und jemals in Feindschaft zu geraten. Beim Tode verlassen sie zwar ungeflügelt, doch mit schon keimenden Flügeln den Leib, so dass auch sie einen nicht kleinen Siegespreis ihres Liebesrausches mit sich nehmen. Denn in Finsternis und den unterirdischen Pfad zu wandeln ist denen nicht verhängt, welche den himmlischen Weg schon beschritten hatten, sondern ein lichtes Leben im gemeinsamen Wandel glücklich zu sein und, nach der beschiedenen Frist, um der Liebe willen zu gleicher Zeit geflügelt zu werden.

38. So große, Kind, und so göttliche Geschenke wird dir die Freundschaft eines Verliebten spenden. Jene Vertraulichkeit aber des Nichtlieben den, die mit sterblicher Besonnenheit verdünnt ist, Sterbliches und Dürftiges haushälterisch zuteilend, gebiert die von der Menge als Tugend gepriesene Gemeinheit in der lieben Seele und bewirkt, dass sie sich neuntausend Jahre um die Erde und vernunftlos unter der Erde herumwälzt.

Dieser Widerruf, geliebter Eros, sei dir so schön und gut, wie wir nur irgend vermochten, gewidmet und entrichtet, und wenn er hier und da, zumal in der Wahl der Worte, dichterisch klingen musste, so war's um Phaidros' willen. Möchtest du dem vorhin Gesagten Verzeihung, diesem hier deine Gunst gewähren und wohlgesonnen und gnädig die Liebeskunst, die du mir schenktest, nicht entziehen noch verkümmern im Zorne. Gib mir, dass ich nur noch mehr als jetzt bei den Schönen in Ehren stehe. Haben wir aber, Phaidros und ich  in der vorhergehenden Rede etwas gesagt, was dir verhaßt ist, so rechne es Lysias, dem Vater jener Rede zu und gebiete ihm Einhalt in solchen Reden und wende ihn zur Philosophie, wie sein Bruder Polemarchos sich zu ihr gewandt hat, damit auch dieser hier, sein Liebhaber, nicht weiter nach beiden Seiten schwanke wie jetzt, sondern ungeteilt unter philosophischer Gesprächen dem Eros sein Leben widme.«

 

 

Zwiegespräch über die Redekunst

 

39. Phaidros. Ich bete mit dir, Sokrates, dass es so geschehen möge, wenn es ,besser für uns ist. Schon lange bewunderte ich deine Rede, um wieviel schöner sie dir geriet als die erste. Daher bin ich bedenklich, ob Lysias mir nicht armselig erscheinen würde, wenn er es unternehmen wollte, ihr eine andere gegenüberzutellen. Hat ihn doch neulich, du Bewundernswerter, einer von den Staatsmännern in einer Schmährede gerade deswegen gescholten und ihn die ganze Rede hindurch einen Redenschreiber genannt. Vielleicht, dass

er sich nun aus Ehrgeiz enthält, für uns eine Rede zu verfassen.

SOKRATES. Was du da berichtest, du Jüngling, ist eine lächerliche Ansicht, und du beurteilst deinen Freund von Grund aus falsch, wenn du glaubst, er sei so scheu vor bloßen Worten. Solltest du ernstlich glauben, dass jener Schmähredner das wirklich für einen Vorwurf hielt, was er ihm vorwarf?

Phaidros. So schien es allerdings, Sokrates. Du weißt ja auch selbst, dass die in den Städten einflußreichsten und geehrtesten Männer sich schämen, ihre Reden zu schreiben und Schriften von sich zu hinterlassen, denn sie fürchten, sie könnten danach in den Ruf kommen, Sophisten zu sein.       

SOKRATES. Da hast du nicht bemerkt, Phaidros, dass dem Fuchs die Trauben zu sauer waren. Und außerdem bemerkst du nicht, dass die unter den Staatsmännern, die das Höchste erstreben, am meisten das Schreiben ihrer Reden und das Hinterlassen ihrer Schriften lieben, denn wenn sie eine Rede geschrieben haben, so schätzen sie deren Lober so hoch, dass sie jedesmal derer an den Anfang schreiben, welche sie loben.

Phaidros. Wie meinst du das? Ich verstehe es nicht.

SOKRATES. Begreifst du nicht, dass am Anfang der Schrift eines Staatsmannes zuerst der Lober steht?

Phaidros. Wie das?

SOKRATES. »Es hat gefallen« – so sagt er – »dem Rate« oder »dem Volke« oder beiden, und dann, wer gesprochen hat – womit also der Verfasser sich selber sehr würdevoll und preisend nennt. Nach dieser Einleitung redet er sodann und stellt vor den Lobern seine eigene Weisheit zur Schau, indem er bisweilen eine sehr lange Schrift verfasst. Oder hältst du dies für etwas anderes als eine geschriebene Rede?

Phaidros. Nein, ich nicht.

SOKRATES. Nicht Wahr, wenn solche Schrift stehenbleibt, so tritt der Dichter froh von der Bühne ab, wird sie aber ausgestrichen und wird ihm nicht das Los des Redeschreibens und die Würde des Verfassers zuteil, so trauert er selbst und mit ihm seine Genossen.

Phaidros. Wirklich, so geschieht es.

SOKRATES. Offenbar doch nicht, weil sie ein solches Gewerbe verachten, sondern weil sie es bewundern.

Phaidros. Zweifellos.

SOKRATES. Und weiter! Wenn ein Redner oder ein König es dahin bringt, die Macht eines Lykurg oder Solon oder Dareios zu erringen und ein unsterblicher Redeschreiber im Staat zu werden, hält er sich selbst nicht schon, während er noch lebt, für gottgleich, und glauben nicht die folgenden Geschlechter ganz das gleiche von ihm, wenn sie seine Schrift betrachten? Phaidros. Ja, du hast recht.

SOKRATES. Glaubst du also, dass irgendeiner von diesen, so mißgünstig er auch dem Lysias sei, wirklich eine Schande darin sehe, dass er Reden verfasst?

Phaidros. Nein, das ist nicht wahrscheinlich nach deiner Erklärung, denn er müsste ja dann sein eigenes Begehren schmähen.

40. SOKRATES. Das ist also jedem klar, dass das Redeschreiben an sich nichts Häßliches ist.

Phaidros. Ja.

SOKRATES. Sondern erst das, glaube ich, ist häßlich. nicht schön, sondern häßlich und schlecht zu reden und schreiben.

Phaidros. Offenbar.

SOKRATES. Welches ist nun die Weise des Schön- und Ünschön-Schreibens? Sollen wir, Phaidros, darüber Lysias und jeden andern prüfen, der geschrieben hat oder noch schreibt, sei es nun eine öffentliche oder eine private Schrift, sei es in Versen als Dichter oder ohne Versmaß als Laie?

Phaidros. Du fragst noch, ob wir sollen? Zu welchem Zwecke lebte man denn, sozusagen, wenn nicht um solcher Freuden willen? Doch wohl nicht um jener willen, die mit Schmerzen erkaufen muss, wer nicht verzichten will, wie sich nahezu alle körperlichen Genüsse verhaken, weswegen sie mit Recht als sklavisch bezeichnet werden?

SOKRATES. Muße haben wir ja offenbar dazu. Und zugleich kommt es mir vor, als ob in dieser Glut die Zikaden, die über unsern Häuptern singen und miteinander Zwiesprache halten, auch auf uns herabsehen. Wenn sie nun sähen, dass wir beide nicht anders als die meisten andern verstummen und einnicken und uns aus Trägheit des Geistes von ihnen in Schlaf singen lassen, so würden sie mit Recht lachen und glauben, ein paar Sklaven seien in ihre HerBerge gedrungen, um wie die Schäfchen ihren Mittagschlaf an der Quelle zu halten. Wenn sie aber sähen, dass wir im Zwiegespräch begriffen sind und unbezaubert an ihnen wie an den Sirenen vorbeisteuerten, dann würden sie wohl entzückt sein und uns die Auszeichnung verleihen, welche von den Göttern ihnen als Gabe für die Menschen verliehen wurde.

41. phaidros. Welche ist denn das? Ich erinnere mich nicht, von gehört zu haben.

SOKRATES. Einem Musenfreunde allerdings steht es nicht an, solcher Dinge unkundig zu sein. Man erzählt aber, das diese Zikaden einstmals Menschen waren, ehe es noch Musen

gab. Als aber die Musen entstanden und der Gesang an den Tag trat, da wurden einige von jenen so hingerissen vor Lust, dass sie singend Speise und Trank vergaßen und, ohne es innezuwerden, dahinstarben. Von diesen stammt seitdem das Geschlecht der Zikaden, das von den Musen dies Geschenk empfing, von ihrer Entstehung an keinerlei Nahrung zu bedürfen, sondern ohne Speise und Trank ,sogleich zu singen, bis sie sterben, dann aber zu den Musen kommen, um ihnen zu melden, wer von den Menschen hier eine von ihnen verehre. Der Terpsichore also melden sie die, welche sie in den Reigentänzen ehrten, und steigern so noch ihre Gunst, der Erato, welche sie durch Liebesgesänge feierten, und so bei den übrigen, jeder nach ihrer Weise der Verehrung. Kailliope aber, der Altesten, und Urania, der ihr Näch,ten, melden sie die, welche in Philosophie leben und ihre Musenkunst ehren, denn diese, unter den Musen besonders dem Himmel und den göttlichen und menschlichen Reden obwaltend, lassen die schönste Stimme tönen. Aus vielerlei Gründen also müssen wir reden und nicht schlafen am Mittag.

Phaidros. Dann also müssen wir reden.

42. SOKRATES. Nicht wahr, was wir uns eben vorgenommen hatten zu betrachten, nämlich worauf es beruht, dass eine Rede, eine gesprochene oder geschriebene, schön sei oder nicht, das soll betrachtet werden?

Phaidros. Offenbar.

SOKRATES. Ist nun nicht notwendig die Bedingung, wenn gut und schön gesprochen werden soll, dass der Geist des Redenden die Wahrheit dessen weiß, worüber er reden will?

Phaidros. Hierüber, lieber Sokrates, habe ich soviel gehört: es sei für den, der Redner werden will, nicht nötig, das in Wirklichkeit Gerechte zu lernen, sondern das, was der Menge so scheint, die das Richteramt hat, auch nicht das wirklich Gute und Schöne, sondern was so scheinen wird, denn darauf gründe sich das Überreden den, nicht auf die Wahrheit.

SOKRATES. »Nicht sei verworfen das Wort«, Phaidros, wenn Weise es gesagt haben, sondern man muss prüfen, ob sie damit nicht wirklich etwas sagen. So wollen wir auch das jetzt Gesagte nicht auslassen.

Phaidros. Du hast recht.

SOKRATES. Laß es uns folgendermaßen betrachten.

Phaidros. Nun?

SOKRATES. Wenn ich dich überreden würde, du solltest dir für den Krieg ein Pferd kaufen, wir beide aber wüßten nicht, was ein Pferd ist, nur so viel wüßte ich zufällig von dir, dass Phaidros das von unseren Haustieren, welches die längsten Ohren hat, für ein Pferd hält.

Phaidros. Das wäre lächerlich, Sokrates.

SOKRATES. Noch nicht! Aber wenn ich dich nun im Ernst überreden wollte, indem ich eine Lobrede auf den Esel verfaßte, ihn ein Pferd nennte und behauptete, dies Vieh sei unbezahlbar in der Heimat und auf dem Feldzuge, brauchbar im Gefecht selbst, aber auch fähig, das Kriegsgerät zu tragen und zu vielem anderem nützlich.

Phaidros. Das wäre doch gar zu lächerlich!

SOKRATES. Ist es denn nicht immer noch besser, ein lächerlicher als ein gefährlicher und feindlicher Freund zu sein?

Phaidros. Offenbar.

SOKRATES. Wenn nun der Rede-Geübte, nicht wissend, was gut und schlecht, auf eine Stadt von gleicher Beschaffenheit einredet, nicht so, dass er über den Schatten eines Esels eine Lobrede hält, als wäre er der eines Pferdes, sondern über Schlechtes, als wäre es Gutes, und wenn er nun wirklich die Menge, da er sich immer um ihre Meinungen gekümmert hat, dazu überredet, Schlechtes statt Gutes zu tun: was für eine Frucht, glaubst du, wird nach dieser Aussaat die Redekunst ernten?

Phaidros. Keine sehr anständige.

43. SOKRATES. Vielleicht aber haben wir, mein Guter, die Kunst der Reden gröber gescholten, als sie verdient? Vielleicht möchte sie antworten: »Was faselt ihr da, ihr Wunderlichen! Denn ich zwinge ja kein ei der Wahrheit Unkundigen das Reden zu lernen, sondern wenn mein Rat gilt, so erwirbt er zuerst jene, dann nimmt er auch mich dazu. Das aber nehme ich in Anspruch: ohne mich wird auch der Wirklichen Kundige um nichts besser imstande sein, kunstmäßig zu überreden.«

Phaidros. Hat sie nicht recht, wenn sie dies behauptet?

SOKRATES. Das gebe ich zu, falls nämlich die jetzt herantretenden Reden für sie Zeugnis leisten, dass sie überhaupt eine Kunst sei. Ist mir doch so, als hörte ich gewisse Reden vortreten und Zeugnis wider sie ablegen, dass sie lüge und keine Kunst sei, sondern eine kunstlose Betriebsamkeit. Und ohne Erfassen der Wahrheit – sagt der Lakonier – gibt es keine echte Kunst des Redens und wird es niemals eine geben.

Phaidros. Diese Reden brauchen wir, Sokrates! Lade sie also vor und frage sie aus, was und wie sie es meinen.

SOKRATES. Tretet heran also, ihr schöne Brut, und überzeugt Phaidros, den Vater schöner Sprößlinge, dass er, so er nicht zulänglich philosophieren wird, niemals und über nichts zulänglich reden werde. Rede stehen soll euch der Phaidros.

Phaidros. So fragt!

SOKRATES. Wäre also im ganzen die Redekunst nicht eine Art Führung der Seelen durch Reden, nicht allein vor Gerichten und andern öffentlichen Versammlungen, sondern auch in privaten Vereinigungen immer dieselbe, mag es sich um kleine oder um große Dinge handeln, und ist das Richtige, wenn es sich am Ge-ringen zeigt, nicht ebenso wertvoll wie am Gewichti-gen? Oder was hast du hierüber gehört?

Phaidros. Nein, beim Zeus, durchaus nicht so! Son-dern nach der Kunst wird vor allem in Rechtssachen gesprochen und geschrieben, gesprochen aber auch bei den Volksreden. Weiteres aber habe ich nicht gehört.

SOKRATES. Aber hast du denn nur von Nestors und Odysseus' Kunstlehren über die Reden etwas erfahren, die sie bei ihrer Muße vor Ilion verfasst haben, und bist du der des Palamedes unkundig geblieben?

Phaidros. Ja, beim Zeus, ich sogar der eines Nestor, es sei denn, dass du einen.Gorgias zum Nestor machst, oder einen Thrasymachos und Theodoros zum Odysseus.

44. SOKRATES. Vielleicht. Aber lassen wir diese aus dem Spiel. Sage mir aber: Was tun die Gegner vor Gericht? Reden sie nicht gegeneinander? Oder wie sollen wir das nennen?

Phaidros. Eben so.

SOKRATES. Über das, was recht und unrecht ist?

Phaidros. Ja.

SOKRATES. Wird nun nicht der, welcher dies kunstmäßig betreibt, bewirken, dass dieselbe Sache denselben Leuten bald als recht, wenn er es aber will, als unrecht erscheint?

Phaidros. Nicht anders.

SOKRATES. Und bei einer Volksrede, dass der Stadt dasselbe bald gut, bald das Gegenteil zu sein scheint?

Phaidros. So ist es.

SOKRATES. Wissen wir nun nicht vom eleatischen Palamedes, dass er mit Kunst spricht, so dass dem Hörenden dasselbe als gleich und ungleich, als eins und vieles, als ruhend und bewegt erscheint?

Phaidros. Ganz recht.

SOKRATES. Also nicht nur für die Gerichte und Volksreden den ist die Kunst des Widerspruchs, sondern für alles, was geredet wird ,gäbe es anscheinend nur diese einzige Kunst- wenn es denn eine solche ist -, durch welche man imstande wäre, alles Mögliche allem Möglichen gleichzumachen oder, wenn es ein andrer gleichgemacht und dadurch versteckt hat, wieder ans Licht zu ziehen.

Phaidros. Wie meinst du das?

SOKRATES. Also, dünkt mich, wird es den Suchenden deutlich: Entsteht Täuschung eher bei den Dingen, die weit oder die wenig verschieden sind?

Phaidros. Bei den wenig verschiedenen.

SOKRATES. Nun gelingt dir doch aber der Übergang zum Gegenteil leichter unbemerkt mit kleinen als mit großen Schritten.

Phaidros. Sicherlich.

SOKRATES. Wer also den andern täuschen, sich selbst aber nicht täuschen lassen will, der muss die Gleichheit und Ungleichheit der Dinge gründlich kennen.

Phaidros. Notwendig.

SOKRATES. Wird er denn nun imstande sein, wenn er nicht die Wahrheit eines Dinges kennt, die geringe oder große Ähnlichkeit mit diesem Unbekannten in anderen Dingen zu beurteilen?

Phaidros. Unmöglich.

SOKRATES. Und, nicht wahr, bei denen, die sich falsche Vorstellungen von den Dingen machen und sich täuschen lassen, hat sich dieser Zustand offenbar durch irgendwelche Ähnlichkeiten eingeschlichen?

Phaidros. So geschieht es allerdings.

SOKRATES. Kann nun jemand die Kunst besitzen, mit kleinen ÜBergängen durch Ahnlichkeiten vom Wirklichen jedesmal zum Gegenteil zu führen oder sich selber gegen diese Täuschung zu sichern, wenn er nicht Kunde hat, was der Gegenstand in Wirklichkeit ist?

Phaidros. Niemals.

SOKRATES. Eine lächerliche und kunstlose Redekunst wird offenbar der zustande bringen, mein Freund, der die Wahrheit nicht kennt, aber Meinungen nachgejagt hat.

Phaidros. So mag es wohl sein.

45. SOKRATES. Willst du nun, dass wir in der Rede des Lysias, die du bei dir trägst, und in denen, die wir gehalten haben, etwas betrachten von dem, was wir kunstlos und was wir kunstmäßig nannten?

Phaidros. Nichts lieber als das! Denn wir sprechen jetzt in kahlen Worten, ohne anschauliche Beispiele zu haben.

SOKRATES. Da ist es doch offenbar ein Glück, dass die beiden Reden gehalten wurden, die ein Beispiel enthalten, wie einer, der die Wahrheit weiß, spielend mit Reden die Hörer in die Irre führen kann. Ich wenigstens, Phaidros, glaube, dass die Götter dieses Ortes daran schuld sind. Vielleicht auch, dass die Prophetinnen der Musen, die Sängerinnen über unsern Häupten uns ihre Gabe eingehaucht haben, habe ich doch keinerlei Anteil an der Kunst des Redens.

Phaidros. Mag es so sein. Aber erkläre nur deutlich, was du meinst.

SOKRATES. Wohlan, so lies mir den Anfang der Lysias-Rede.

Phaidros. »Wie es um mich steht, weißt du nun und hast gehört, dass ich glaube, es fördere uns beide, wenn solches geschieht. Ich glaube aber, ich sollte, um was ich bitte, nicht darum verfehlen, weil es sich fügt, dass ich nicht in dich verliebt bin. Denn die Verliebten gereut es ...«

SOKRATES. Halt ein! Was also dieser verfehlt und wie fern kunstlos verfährt, soll besprochen werden. Nicht wahr?

46. SOKRATES. Ist nun nicht jedermann so viel klar, dass wir über manche solcher Gegenstände uns. sind, über manche uneinig?

Phaidros. Ich glaube zwar zu verstehen, was du meinst aber sage es noch deutlicher.

SOKRATES. Wenn jemand das Wort Eisen oder Silber ausspricht, denken wir uns nicht alle dabei dasselbe?

Phaidros. Durchaus.

SOKRATES. Wie aber bei den Worten gerecht und gut? Wird da nicht jeder nach anderer Richtung gelenkt – und geraten wir dann nicht untereinander auch mit uns selber in Widerspruch?

Phaidros. Allerdings.

SOKRATES. In manchem stimmen wir also zusammen in anderm nicht.

Phaidros. So ist es.

SOKRATES. Auf welcher Seite sind wir nun leichter täuschen, und wo vermag die Redekunst mehr?

Phaidros. Offenbar dort, wo wir im unklaren sind.

SOKRATES. Muß nun nicht, wer sich mit der Redekunst befassen will, zuerst dies planmäßig gesondert und sich eines Kennzeichens für jede der beiden Forme bemächtigt haben, für die, bei welcher die Menge not wendig schwankt, und für die, bei welcher dies nich geschieht?

Phaidros. Wer dies erfaßte, Sokrates, dem wäre schöner Begriff einsichtig geworden.

SOKRATES. Alsdann darf er, so glaube ich, in jeder Fall, der ihm vorkommt, nicht unbeachtet lassen, sondern muss aufs schärfste beobachten, zu welchem beiden Geschlechter das gehört, worüber er zu reden hat.

Phaidros. Nicht anders.

SOKRATES. Wie ist es also mit der Liebe? Wollen wir sagen, dass sie zu den widerspruchsvollen Dingen oder zu den andern gehöre?

Phaidros. Doch zu den widerspruchsvollen, oder glaubst du, du hättest sonst über sie sagen können, was du vorhin sagtest, dass sie ein Schaden für den Geliebten und den Liebenden wäre, und dann wieder, sie sei das größte der Güter?

SOKRATES. Sehr gut bemerkt! Aber sage auch dies – denn ich selbst kann mich wegen jener Besessenheit nicht genau  erinnern -, ob ich am Anfang der Rede den Begriff der Liebe bestimmt habe.

Phaidros. Ja, beim Zeus, wunderbar gründlich.

SOKRATES. Ha! Um wieviel besser beherrschen nach diesem Zeugnis die Nymphen, die Acheloostöchter und Pan, der Hermessohn, die Regeln der Redekunst als Lysias, der Kephalossohn. Oder irre ich mich? Hat Lysias am Beginn seiner Liebesrede uns gezwungen, die Liebe als ein bestimmtes Wesen aufzufassen, so wie er es selbst wollte, und erst darauf alles aufbauend die folgende Rede vollendet? Wollen wir ihren Anfang noch einmal lesen?

Phaidros. Wenn du meinst. Doch was du suchst, steht nicht darin.

SOKRATES. So lies, damit ich ihn selbst höre.

47.Phaidros. »Wie es um mich steht, weißt du nun und hast gehört, dass ich glaube, es fördere uns beide, wenn solches geschieht. Ich glaube aber, ich sollte, um was ich bitte, nicht darum verfehlen, weil es sich fügt, dass ich nicht in dich verliebt bin. Denn die Verliebten gereut es ihrer Wohltaten, sobald ihre Leidenschaft erloschen ist.«

SOKRATES. Da scheint freilich viel zu fehlen, dass er das leistet, was wir suchen, da er die Rede nicht einmal vom Anfang, sondern vom Ende her rücklings in umgekehrter Richtung zu durchschwimmen versucht und von da anfängt, was der Liebhaber erst am Schluß seiner Rede zum Geliebten sagen würde. Oder irre ich wirklich, Phaidros, mein liebes Haupt?

Phaidros. Es ist wohl eigentlich der Schluß, Sokrates worüber er seine Rede hält.

SOKRATES. Und dann das übrige? Scheinen die Teile der Rede nicht nur so hin geschüttet? Oder ist die Notwendigkeit ersichtlich, warum das als Zweites sagte als Zweites gesetzt werden musste, oder so irgendein anderes des Geredeten? Mir wenigstens, der ich ja nichts davon verstehe, schien der Verfasser nicht eben kleinlich zu sagen, was ihm gerade einfiel. Du aber kennst wohl die schriftstellerische Notwendigkeit, nach der er dies alles in solche Reihenfolge nebeneinander gesetzt hat?

Phaidros. Du bist zu gütig, wenn du annimmst, ich sei fähig, seine Rede so gründlich zu durchschauen.

SOKRATES. Aber dies, glaube ich, wirst du doch zugeben, dass jede Rede in sich bestehen muss wie ein lebendiges Geschöpf, das seinen eigentümlichen Leib hat, dass ihm weder Fuß noch Kopf mangele, sondern sie muss ihren Rumpf und ihre Gliedmaßen haben, alle so verfasst sind, dass sie sich gegenseitig und der Ganzen entsprechen.

Phaidros. Wie sollte ich nicht?

SOKRATES. Betrachte also, ob die Rede deines Freundes sich so oder anders verhält, und du wirst finden, dass sie sich durch nichts unterscheidet von jener Inschrift, die auf den Phrygischen Midas gedichtet sein soll.

Phaidros. Wie heißt sie und welche Bewandtnis hat es mit ihr?

SOKRATES. Sie heißt so:

    »Eherne Jungfrau bin ich und lieg auf dem Grabe des Midas,
     Während die Wässer noch strömen und mächtige Bäume noch grünen
     Hier am Orte verharrend am tränenbefeuchteten Hügel,
     Wandrern gebe ich kund, hier lieget Midas begraben

Dass es nichts ausmacht, was du davon zuerst, was zuletzt liest, bemerkst du wohl, wie ich denke.

Phaidros. Du verspottest unsre Rede, Sokrates.

48.SOKRATES. Lassen wir sie also beiseite, um dich nicht zu erzürnen, wiewohl sie mir viele Beispiele zu enthalten scheint, bei deren Betrachtung man Gewinn haben kann, wenn man sie nur ja nicht nachahmt. Wir wo1len also zu den andern Reden üBergehen. Es war nämlich, wie mir scheint, etwas in ihnen, was denen, welche über die Reden nachdenken wollen, wohl zu betrachten ziemt.

Phaidros. Was meinst du damit?

SOKRATES. Beide waren doch einander entgegengesetzt. Denn die eine sagte, dass man die Gunst des Verliebten, andre, dass man die des Nichtverliebten erwidern solle.

Phaidros. Und zwar auf recht mannhafte Weise.

SOKRATES. Ich glaubte, du würdest der Wahrheit gemäß sagen: in wahrhafter Weise. Eben dies ist doch, was ich suchte. Wir behaupteten nämlich, die Liebe sei eine Art Wahnsinn. Nicht wahr?

Phaidros. Ja.

SOKRATES. Es gibt aber zwei Arten, Wahnsinn. Einer entstammt den menschlichen Krankheiten, der andre dem göttlichen Heraustreten aus herkömmlicher Gewohnheit.

Phaidros. So war es.

SOKRATES. Dann unterschieden wir im göttlichen Rausch nach vier Göttern vier Teile, indem wir die Begeisterung des Sehertums dem Apoll, die der Weihen dem Dionysos, die dichterische den ,Musen, die vierte der Aphrodite und dem Eros zuschrieben. Und wir sagten,  der erotische Rausch sei der beste. Da wir dann den erotischen Zustand, ich weiß nicht mehr wie, abbildeten, wahrscheinlich damit an etwas Wahres rührend, vielleicht auch wohl anderwärts abschweifend, mischten wir eine nicht ganz unglaubwürdige Rede und spielten maßvoll und gottesfürchtig, Phaidros, einen mythischen Hymnos vor meinem und deinem Herrscher Eros, dem Anführer schöner Knaben.

Phaidros. Mir aber war er überaus angenehm zu ren.

49. SOKRATES. Daraus wollen wir nun entnehmen, wie die Rede vom Tadel den Übergang finden konnte zum Lob.

Phaidros. Wie meinst du das also?

SOKRATES. Mir scheint zwar das übrige wirklich ein Spiel, das wir spielten, die beiden Prinzipien aber, die durch glückliche Fügung in diesen Reden enthaltet waren, wenn deren Kraft sich jemand kunstmäßig aneignen könnte, so wäre das nicht unwillkommen. Phaidros. Welche Prinzipien denn?

SOKRATES. Das vielfach Zerstreute durch Zusammenschau auf Eine Idee zu führen, um jedesmal den Gegenstand bestimmend deutlich zu machen, worüber man immer lehren will, so wie eben über die Liebe, erst nachdem sie bestimmt war, gesprochen wurde, sei es nun gut oder schlecht – wenigstens hat daher die Rede die Klarheit im Ausdruck und die Übereinstimmung mit sich selbst.

Phaidros. Und welches zweite Prinzip meinst du, Sokrates?

SOKRATES. Die Kunst, wieder nach Begriffen zu zerlegen, nach Gliedern, wie sie gewachsen sind, ohne dass man versucht, nach Art eines schlechten Koches irgendeinen Teil zu zerbrechen, sondern wie eben unsere beiden Reden das Unbesonnene der Seele in Einen Begriff zusammenfaßten und dann – wie unser Leib als Eine in doppelte und gleichbenannte Teile wächst, die man] als linke und rechte bezeichnet – so auch einen gemeinschaftlichen Begriff der Verrückung in uns gebildet hatten, so schnitt die eine Rede den linken Teil ab, ließ nicht ab, ihn weiter zu zerlegen, bis sie darin eine Liebe fand, die man die linkische benennen kann und die sie mit Recht schmähte, während die andere Rede uns auf die rechte Seite des Rausches führte und jene mit ihr gleichbenannte, aber göttliche Liebe fand und sie darstellte, die sie als Ursache der größten Güter für uns pries.

Phaidros. Du sprichst die volle Wahrheit.

50. SOKRATES. Darein bin ich nun selber verliebt, Phaidros, in diese Teilungen und Zusammenfassungen, damit ich imstande sei, zu reden und zu denken, und wenn ich einen andern für fähig halte, das Wirkliche als Eins und Vieles zu sehen, so folge ich »ihm nach wie auf göttlicher Fußspur«. Ob ich aber solche, die dies zu tun vermögen, richtig bezeichne oder nicht, weiß Gott allein: ich nenne sie nämlich bisher Dialektiker. Nun aber sage auch, wie man die nennen muss, die von dir und Lysias gelernt haben. Oder ist dies eben die Redekunst, durch deren Anwendung Thrasymachos und die übrigen selbst Meister im Reden geworden sind und andere dazu machen, wenn diese gewillt sind, ihnen Geschenke wie Königen darzubringen?

Phaidros. Königlich sind diese Männer zwar, aber kundig dessen, wonach du fragst. Doch scheinst du mir jene Art richtig zu benennen, wenn du sie die dialektische nennst. Die rhetorische aber ist uns, wie mir scheint, bis jetzt entgangen.

SOKRATES. Wie meinst du? Etwas Schönes muss es wohl sein, das, wenn man jenes abgezogen hat, gleichwohl durch Kunst erworben werden kann? Keinesfalls dürfen wir es vernachlässigen, weder du noch ich, sondern es muss ausgesprochen werden, was denn dieser Rest ist, der von der Redekunst übrigbleibt.

Phaidros. Ja, es ist doch wohl sehr viel, Sokrates, den Büchern, die über die Kunst der Reden geschrieben sind.

51. SOKRATES. Gut, dass du mich erinnerst! Also die Einleitung, denke ich, zuerst – dass sie am Anfang der Rede gesprochen werden muss. Dies meinst du, nicht wahr? Die Feinheiten der Kunst?

Phaidros. Ja.

SOKRATES. Zweitens dann eine Darstellung, inbegriffen die Zeugnisse, drittens die Beweise, viertens die Wahrscheinlichkeiten. Und von einer Beglaubigung und einer Nachbeglaubigung spricht, wie ich glaube der beste Reden-Daidalos aus Byzanz.

Phaidros. Du meinst den wackern Tileodoros?

SOKRATES. Wen sonst? Und auch Widerlegung und Nachwiderlegung, wie man sie bei Anklage und Verteidigung behandeln muss. Und führen wir den schönsten Euenos, den Parier, nicht ins Feld, der als erster die Unteranzeige und die Nebenlobe erfand – manche behaupten, er habe auch die Nebentadel in Gedächtnis – Verse gebracht – denn er ist ein weiser Mann! Oder sollten wir Teisias und Gorgias schlafen lassen, welche sahen, dass man das Wahrscheinliche höher schätzen müsse als das Wahre, und welche das Kleine groß, das Große klein erscheinen lassen durch die Kraft der Rede, ebenso das Neue in alter Art, das Gegenteilige in neuer, und auch die Kürze und  die unbegrenzte Länge der Reden über alle Dinge erfanden? Als einst Prodikos dies von mir hörte, lachte er und sagte, er allein habe gefunden, welche Reden die Kunst brauche: sie brauche weder lange noch kurze, sonder angemessene.

Phaidros. Höchst weise, Prodikos!

SÖKRATES. Und sollten wir Hippias nicht nennen ? Denn ich glaube, dieser Gast aus Elis stimmte mit jedem überein.

Phaidros. Warum auch nicht?

SOKRATES. Wie aber sollten wir wieder sprechen von Polos und seinen »Musenstätten der Reden« – vom Doppelgliederstil und Sprichwörterstil und Bilderstil – und »den Likymnischen Ausdrücken«, mit denen ihn jener zur Bewirkung der Wohlredendheit beschenkt hatte?

Phaidros. Waren nicht die Werke des Protagoras von dieser Art, Sokrates?

SOKRATES. Ja, eine gewisse Sprachrichtigkeit, Kind, und vielerlei Schönes sonst. In der Kunst der Klageseufzereden, die sich über Greisenalter und Armut hinschleppen, scheint mir die Gewalt des Chalkedoniers den Sieg errungen zu haben. Mächtig aber ist er auch darin, die Menge in Zorn zu versetzen, und wiederum, wenn die erzürnt ist, sie zu beschwören und zu besänftigen, wie er sagte. Im Verleumden und im Entkräften von Verleumdungen, woher sie auch kommen, ist er besonders stark. Über den Schluß der Reden scheinen sie aber alle in einer Meinung zusammenzustimmen, wobei manche den Namen »Rückblicke«, andre einen andern anwenden.

Phaidros. Du meinst, dass man am Schluß die Hörer in einer Zusammenfassung an alles Gesagte erinnere?

SOKRATES. Dies meine ich, und ob du sonst noch etwas über die Kunst der Rede zu sagen hast?

Phaidros. Nur Kleinigkeiten, nicht der Rede wert.

SOKRATES. ÜBergehen wir diese Kleinigkeiten. Vielmehr laß uns bei Lichte betrachten, welche Gewalt der Kunst in diesen Dingen beruhe und in welchem Falle?

PHÄIDROS. Doch eine sehr starke, Sokrates, wenigstens bei den Versammlungen der Menge.

SOKRATES. Das allerdings. Aber, du Wunderbarer, siehe auch du zu, ob dir ihr Gewebe ebenso fadenscheinig vorkommt wie mir.

Phaidros. Erkläre es nur.

52. SOKRATES. Sage mir also: Wenn jemand zu deinem Freunde Eryximachos oder zu dessen Vater Akumenos käme und sagte: »Ich verstehe allerhand solche Mittel auf den Körper anzuwenden, dass ich ihn erwärme, wenn ich es will, und abkühle und, wenn es mir gutdünkt, Erbrechen errege, andererseits auch wieder abführe und noch vielerlei dergleichen. Und da ich dies verstehe, behaupte ich, Arzt zu sein und jeden zum Arzt zu machen, dem ich das Wissen hiervon weitergebe«, was, glaubst du, würden jene darauf antworten?

Phaidros. Natürlich würden sie fragen, ob er dazu auch wüßte, bei wem und in welchen Fällen diese Mittel anzuwenden seien und in welchem Maße.

SOKRATES. Wenn der nun sagte: »Keineswegs. Aber behaupte, wer jenes alles von mir gelernt hat, der wird von selbst imstande sein, das zu leisten, wonach du fragst«?

Phaidros. Dann würden sie, glaube ich, sagen: Dieser Mensch ist toll, und weil er aus irgendeinem Buche etwas erfuhr oder zufällig Heilmittel fand, glaubt er ein Arzt geworden zu sein, obwohl er doch nichts von der Kunst versteht.

SOKRATES. Und ferner, wenn jemand zu Sophokles und Euripides käme und sagte, er verstünde über einen kleinen Vorgang ganz lange Reden zu verfassen und über einen großen ganz kurze und, wenn er wolle, jammernde und im Gegenteil auch wieder furchterregende und drohende, auch sonst allerhand dergleichen, und als Lehrer hiervon glaubte er die tragische Dichtkunst zu übermitteln?

Phaidros. Auch diese, glaube ich, würden lachen, Sokrates, wenn jemand glaubte, die Tragödie sei etwa andres als die Fuge solcher Stücke, wie sie untereinander und auch mit dem Ganzen zusammenpassen.

SOKRATES. Aber ich denke, sie würden nicht grob schelten, sondern wie ein Musiker, der einem Manne begegnete, der sich für einen Harmonie-Künstler hält, weil er eine Saite ganz hoch und ganz tief zu stimmen versteht, ihn nicht grob anfahren würde: »Du erbärmlicher Wicht, irrsinnig bist du«, sondern, weil er ja Musiker ist, würde er sanfter sagen: »Bester, notwendig zwar muss auch dieses verstehen, wer ein Harmoniker werden will, trotzdem braucht der, welcher deine Ferrtigkeit besitzt, noch nicht das Geringste von Harmonie zu verstehen, denn du besitzt die Vorkenntnisse, die zur Harmonie notwendig sind, aber nicht die Kunst der Harmonie.

Phaidros. Sehr richtig.

SOKRATES. So möchte wohl auch Sophokles dem sagen, wenn vor ihm einer erschiene, dass er die Vorkenntnisse der Tragödie, nicht die tragische Kunst, und Akumenos, dass er die Vorkenntnisse der Heilkunst, nicht die Heilkunst selber besäße.

Phaidros. Ja, durchaus.

53. SOKRATES. Was aber sollen wir glauben, würden jener Adrastos mit der Honigstimme oder auch Perikles, wenn sie von den wunderschönen Kunstmitteln hörten, die wir jetzt eben durchsprachen – vom Kurzredestil und Bilderstil und den übrigen, die wir erwähnten und von denen wir meinten, sie müßten bei hellem Lichte betrachtet werden -, würden jene wohl so ungehalten wie ich und du, sich mit Grobheit in einer so unhöflichen Rede gegen die auslassen, die solches geschrieben haben und es lehren, als ob es die Redekunst wäre, oder würden sie, da sie ja weiser sind als wir, nicht auch uns tadeln mit den Worten:. »Aber, Phaidros und Sokrates, man muss nicht ungehalten sein, sondern nachsichtig, wenn einige, die nicht dialektisch untersuchen können und daher unfähig sind, zu bestimmen, was die Redekunst überhaupt ist, infolge dieses Zustandes, wenn sie nur die notwendigen Vorkenntnisse der Kunst haben, die Redekunst selber erfunden zu haben glauben, und indem sie andere dar unterrichten, sich einbilden, sie hätten vollständig in der Redekunst unterrichtet – dass sie dagegen glaubten, alles Einzelne überzeugend darzustellen und ein Ganzes zu schaffen, das sei keine Sache, und ihre Schü1er müßten das ganz von selbst in den Reden anbringen  können.«

Phaidros. Ja, Sokrates, so muss es wohl um die Kunst stehen, die jene Männer als Redekunst lehren und verfassen, und du scheinst mir die Wahrheit gesagt zu haben. Aber nun die Kunst des wirklichen und zeugenden Redners, wie und woher kann man sich wohl die erwerben?

SOKRATES. Was das Können anbelangt, Phaidros, so dass man es im Wettbewerb mit jedem aufnehme kann, so wird es sich wohl wahrscheinlich oder auch notwendig so verhalten wie auch in den übrigen Künsten: wenn du die natürliche Anlage zum Redner hast, so wirst du ein berühmter Redner werden, falls du Erkenntnis und Übung damit verbindest, soweit es dir aber an diesen fehlt, soweit wirst du unvollkommen sein. Was aber die Kunst angeht, so scheint mir der Weg, den Lysias und Thrasymachos einschlagen, nicht der richtige.

Phaidros.  Aber welcher dann?

SOKRATES. Perikles, mein Bester, ist doch wohl unter allen der Vollkommenste in der Redekunst Wesen?

Phaidros. Warum?

54. SOKRATES. Alle Künste, welche Größe haben, bedürfen jenes »müßigen und überirdischen Geschwätzes von der Natur«, denn es scheint, dass nur daher jenes Hochsinnige und überallhin Schaffende sich ihnen mitteilte, was auch Perikles zu seiner natürlichen Anlage sich erworben hatte. Ich glaube nämlich, weil er mit Anaxagoras, einem Manne von solcher Art, in Berührung kam, so wurde er angefüllt von dieser Kunde des überirdischen  und drang vor bis zur Natur des Geistes und des Geistlosen, worüber sich Anaxagoras in so weiter Lehre ausgelassen hatte, so dass er von dort in die Redekunst herüberführte, was für sie nützlich ist.

Phaidros. Wie meinst du das?

SOKRATES. Die Weise der ärztlichen Kunst ist wohl dieselbe wie die der rednerischen.

Phaidros. Wieso?

SOKRATES. In beiden mußt du die Natur unterscheiden, die des Leibes in der einen, die der Seele in der andern, wenn du nicht bloß nach Gewohnheit und Übung, sondern mit Kunst jenem durch Anwendung von Heilmitteln und Pflege Gesundheit und Kraft verschaffen, dieser aber durch Reden und gesetzliche Lebensführung die Überzeugung, welche du willst, und die Tugend mitteilen willst.

Phaidros. Sehr wahrscheinlich ist es so, Sokrates.

SOKRATES. Hältst du es nun für möglich, die Natur der Seele sinngemäß zu erkennen, ohne die Natur des Ganzen zu kennen?

Phaidros. Wenn man dem Asklepiaden Hippokrates trauen muss, nicht einmal die Natur des Leibes ohne dies Verfahren.

SOKRATES. Sehr schön, mein Freund, ist sein Ausspruch. Doch außer dem Hippokrates müssen wir den Sinn selber befragen und sehen, ob er einstimmt.

Phaidros. Das gebe ich zu.

SOKRATES. So betrachte denn, was Hippokrates und der wahre Sinn über die Natur sagen. Muß man nun nicht solchermaßen über eines jeden Dinges Natur nachdenken: erstens, ob das einfach ist oder vielgestaltig, worin wir selber Meister der Kunst sein oder andere dazu erziehen wollen? Dann aber, wenn es einfach ist, sein Wesen betrachten, welche Fähigkeit es hat, auf etwas zu wirken, und welche, von einem anderen etwas zu erleiden? Wenn es aber mehrere Arten hat, so muss man diese aufzählen und dann, wie vorher bei der einen Art, so jetzt an jeder einzelnen betrachten, was es nach seiner Natur bewirke und was und von wem es etwas erleide.

Phaidros. So scheint es wohl, Sokrates.

SOKRATES. Wenigstens gliche ein Verfahren ohne solche Betrachtung etwa der Wanderung eines Blinden. Ge-wiß aber darf der, der etwas kunstmäßig behandelt, weder einem Blinden oder einem Tauben gleichen, son-dern wer einem andern kunstmäßig das Reden beibringt, wird offenbar die Natur des Dinges, an das sich seine Reden richten, in ihrem Wesen genau aufzei-gen. Dies aber wird wohl die Seele sein.

Phaidros. Nichts anderes.

SOKRATES. Hierauf also muss sein ganzer Eifer gespannt sein, denn darin versucht er, Überzeugung zu bewirken. Nicht wahr?

Phaidros. Ja.

SOKRATES. Offenbar ist also, dass Thrasymachos und wer sonst etwa ernstlich eine Kunst des Redens mitteilen will, zuerst mit aller Genauigkeit die Seele beschreiben und anschaulich machen muss, ob sie ihrer Natur nach eins und dasselbe ist oder ob sie entsprechend der Gestalt des Leibes gegliedert ist. Das nämlich meinen wird, wenn wir sagen: ihre Natur erklären.

Phaidros. Allerdings.

SOKRATES. Zweitens aber, worauf sie ihrer Natur nach wirkt und von was sie leidet.

Phaidros. Auch das.

SOKRATES. Drittens wird er, nachdem er die Gattungen der Reden und der Seele und die Zustände dieser beiden geordnet hat, auch sämtliche Ursachen durchgehen, indem er jedes mit dem Zugehörigen zusammenpaßt und lehrt, aus welcher Ursache und was für Seelen von welcherlei Reden notwendig die eine überredet wird, die andere nicht.

Phaidros. So wäre zweifellos das schönste Verfahren.

SOKRATES. Niemals also, mein Freund, wird kunstmäßig gesprochen oder geschrieben werden, was auf andere Art dargelegt oder gesprochen wird, sei es über diesen, sei es über einen andern Gegenstand. Aber die jetzigen Verfasser von Kunstlehren der Rede, die du gehört hast, sind Schlauköpfe und halten geheim, dass sie über die Seele bestens Bescheid wissen. Bevor sie also in dieser Weise reden und schreiben, wollen wir ihnen nicht glauben, dass sie kunstmäßig schreiben.

56. Phaidros. Welches ist jene Weise?

SOKRATES. Zwar ist es nicht leicht, das in Regeln zu fassen, doch soweit es tunlich ist, will ich sagen, wie man schreiben müsste, wenn es kunstgemäß sein soll.

Phaidros. Ja, sage es.

SOKRATES. Da die Kraft der Rede nun einmal Seelenführung ist, so muss, wer Redner werden will, notwendig wissen, wieviel Arten die Seele hat. Deren gibt es nun soundso viele, soundso beschaffene, woher denn die Menschen sich einige so, andere so entwickeln. Sind diese nun so unterschieden, so gibt es auch wieder soundso viele Arten von Reden, jede in ihrer Eigenheit. Nun sind die Menschen solcher Art durch so beschaffene Reden aus solcher Ursache zu solchen Zwecken  leicht zu überreden, die andern aber aus andern Gründen schwer. Wer dies gehörig begriffen hat, muss es dann im wirklichen Leben anschauen, wie es ist und sich auswirkt, und er muss es mit scharfer Wahrnehmung verfolgen können – sonst wird er nicht mehr haben als die Lehren, die er einst mit angehört hat. Wenn dann aber gehörig zu sagen weiß, was für ein Mensch durch welcherart Reden überzeugt wird, und er fähig wenn ihm einer begegnet, ihn zu durchschauen Lind sich selber klarzumachen: Ein solcher ist er, und eben diese Natur, von der damals die Rede war, ist nun in Wirklichkeit zugegen, bei der man also diese bestimmte Art Reden anwenden muss, um sie zu etwas Bestimmtem zu überreden – wenn einer dies alles schon innehat und dazu auch den Augenblick erkennt, wann man reden, wann man sich zurückhalten muss, und wohl unterscheidet die rechte Zeit und die Unzeit für die Kurzrede und Rührungsrede und Steigerung alle Redeformen, die er erlernt hat: erst dann ist Kunst schön und vollkommen ausgebildet, vorher aber nicht. Wenn aber jemand als Redner oder Lehrer oder Schriftsteller es an einer dieser Forderungen ermangeln lässt und doch behauptet, er rede nach der Kunst so ist der überlegen, der ihm nicht glaubt. »Wie a1so nun, Phaidros und Sokrates – würde vielleicht der Schriftsteller fragen –, dünkt es euch so? Oder man eine andre Art der sogenannten Redekunst kennen? «

Phaidros. Unmöglich, Sokrates, eine andere, obwohl dann die Arbeit nicht gering erscheint.

SOKRATES. Du hast recht. Deswegen muss man sämtliche Reden von allen Seiten betrachten, ob irgendwo ein leichterer und kürzerer Weg zur Kunst sich zeigt, um nicht umsonst einen weiten und steinigen Umweg zu nehmen, wenn ein kurzer und ebener möglich ist. Hast du aber irgendeine Hilfe von Lysias oder einem anderen gehört, so versuche sie aus der Erinnerung anzugeben.

Phaidros. Gern möchte ich des Versuches halber etwa haben, aber ich habe so im Augenblicke nichts.

SOKRATES. Soll ich dir also eine Lehre vortragen, die ich von irgendwelchen Redelehrern gehört habe?

Phaidros. Aber natürlich.

SOKRATES. Heißt es doch, Phaidros: »Gerechtigkeit üben und selbst des Wolfes Rechte vertreten.«

Phaidros. So tue auch du so.

57. SOKRATES. Sie behaupten also, man brauche jenes mit solcher Ehrfurcht zu behandeln noch es so umständlich herzuleiten, denn, was wir schon am Anfange dieses Gespräches berichteten, wer ein tüchtiger Redner werden wolle, brauche keineswegs an der Wahrheit über die gerechten und guten Handlungen teilzuhaben oder über die Menschen, die von Natur oder durch Erziehung diese Eigenschaften besitzen, denn bei den Gerichten kümmere sich niemand bei diesen Dingen im geringsten um die Wahrheit, sondern um das Glaubhafte. Dies sei die Wahrscheinlichkeit, und an sie müsse der sich halten, der kunstgemäß reden will. Ja bisweilen dürfe man nicht einmal die Tatsachen selbst berichten, wenn sie nämlich nicht wahrscheinlich verlaufen wären, sondern man müsse bei Anklage und Verteidigung das Wahrscheinliche sagen. So müsse der Redende unbedingt der Wahrscheinlichkeit folgen und oftmals der Wahrheit Lebewohl sagen. Denn dass die ganze Rede hindurch die Wahrscheinlichkeit sich entwickelt, mache das Wesen der Kunst aus.

Phaidros. Sokrates, gerade das, was du eben ausführtest, ist es ja, was jene sagen, die sich als Meister der Redkunst ausgeben. Es fiel mir nämlich ein, dass wir früher schon so etwas kurz berührt haben. Es dünkt aber die, die sich mit diesen Sachen abgeben, etwas ganz Großes zu sein.

SOKRATES. Aber du hast ja doch den Teisias selbst so gründlich durchackert. Teisias also soll uns auch dies sagen, ob er unter dem Wahrscheinlichen etwas andres versteht als das, was der Menge scheint.

Phaidros. Nichts anderes.

SOKRATES. Er hat dies, wie es scheint, ebenso  wie  kunstmäßige Beispiel erfunden und geschrieben, dass nämlich, wenn ein schwacher, doch mutiger Mann einen starken und feigen niedergeschlagen hat und ihm den Mantel oder sonst etwas entrissen hat und nun darum vor Gericht gezogen wird, so darf keiner von beiden die Wahrheit sagen, sondern der Feige darf geben, dass er vom Mutigen allein niedergeschlagen wurde, dieser aber muss zwar beweisen, dass sie allein waren, dann aber sich dieser Wendung bedienen: »Wie hätte ich, der ich so schwächlich bin, an einen solche Mann Hand anlegen können.« Dieser aber wird seine Feigheit nicht eingestehen, sondern indem er irgend etwas anderes zu erlügen versucht, würde er bald auch seinem Gegner eine neue Widerlegung an die Hand geben. So etwa steht es auch mit dem übrigen, was kunstgemäß geredet wird. Oder nicht, Phaidros?

Phaidros. Nicht anders.

SOKRATES. Ha! Eine unheimlich versteckte Kunst hat Teisias entdeckt oder sonst einer, wer es gerade sein mag und welches Namens er sich erfreut. Aber, mein Freund, wollen wir diesem wohl antworten oder nicht.

Phaidros. Was denn?

58. SOKRATES. Dieses: »Schon längst ehe du kamst, Teisias, sagten wir gerade, dass diese Wahrscheinlichkeit bei der Menge durch die Ähnlichkeit mit dem Wahren entsteht. Die Ahnlichkeiten aber, so stellten wir sogleich fest, wisse in jedem Falle der am besten zu finden, der die Wahrheit kenne. Wenn du also etwas anderes über die Kunst der Reden zu sagen hast, wollen wir zuhören – wo nicht, so werden wir von dem überzeugt sein, was wir eben sagten: dass einer, wenn er nicht die Naturen seiner Hörer aufzählen kann und auch nach Arten die Dinge zu unterscheiden und alles Einzelne wieder in Einer Idee zusammenzufassen  imstande ist, niemals in dem Maße, wie es den Menschen möglich ist, Meister der Rede sein wird. Dies aber wir er niemals erwerben ohne große Übung, welche Mühsal der Besonnene nicht um des Redens und Tuns unter den Menschen willen auf sich nehmen soll, sondern im das den Göttern Wohlgefällige reden zu können und nach Vermögen das Ganze ihnen wohlgefällig zu tun. Denn, Teisias, es sagen, die da weiser sind als wir, es dürfe, wer Vernunft hat, nicht darum sorgen, seinen Mitknechten zu gefallen, es sei denn nebenbei, sondern den guten Gebietern und ihren Sendlingen. Daher wundre dich nicht, wenn der Umweg groß ist. Denn um großer Dinge sollen wir den weiten Weg gehen, nicht um deswillen, was dir scheint. Allerdings wird, wie der Sinn ergibt, auch dieses Ziel, wenn jemand es will, am schönsten sich aus jenem Tun entwickeln.«

Phaidros. Vollendet schön wird dann, glaube ich, Sokrates, geredet werden, wenn nur jemand dazu imstande wäre!

SOKRATES. Aber wer nach dem Schönen strebt, dem ist es auch schön, zu leiden, was ihm bestimmt ist.

Phaidros. Ja.

SOKRATES. Damit soll es genug sein über die Kunst und die Kunstlosigkeit der Reden.

Phaidros. Gewiß.

SOKRATES. Die Frage aber nach der Angemessenheit und  der Unangemessenheit der Schrift, wo ihr Gebrauch schön und wo er unschicklich ist, ist noch übrig. Nicht wahr?

Phaidros. Ja.

59. SOKRATES. Weißt du nun, wie du ganz dem Gotte wohlgefällig wirst, wenn du das Reden ausübst oder darüber sprichst?

Phaidros. Ich nicht. Und du wohl?

SOKRATES. Eine Sage hierüber kann ich von den Alten berichten, die Wahrheit aber wissen nur jene selbst. Wenn wir selber aber diese fänden, würden wir uns dann noch irgend um menschliche Meinungen kümmern ?

Phaidros. Du fragst zum Scherz. Aber erzähle, was du gehört zu haben behauptest.

SOKRATES. Ich habe also gehört, zu Naukratis in Ägypten habe es einen der alten Götter des Landes gegeben, dem auch der heilige Vogel, den sie Ibis nennen, geweiht war. Diese Gottheit trage den Namen Theuth. Dieser habe zuerst Zahl und Rechnung erfunden, und Meßkunst und Sternkunde, dann Brettspiel und Würfelspiel und schließlich auch die Buchstaben. König über das gesamte Ägypten war damals Thamus in der großen Stadt des oberen Landes, welche die Hellenen das ägyptische Theben, wie sie Königs-Gott Ammon nennen. Zu diesem kam Theuth und zeigte ihm seine Künste und sagte, man müsse sie auch den anderen Ägyptern mitteilen. Thamus aber fragte von jeder, welchen Nutzen sie brächte, und wie jener es erklärt, so lobte er und tadelte was ihm gut oder nicht gut erklärt schien. Thamus soll nun dem Theuth vieles für und gegen jede dieser Künste erklärt haben, was zu weitläufig zu erzählen wäre. Als aber zu den Buchstaben kam, sagte Theuth: »Diese Kunde, o König, wird die Ägypter weiser machen und ihr Gedächtnis erhöhen, denn zur Arznei für Gedächtnis. und Weisheit wurde sie erfunden.« Der aber erwiderte: »O kunstreicher Theuth, ein anderer ist fähig, Werkzeuge der Kunst zu erzeugen, ein andrer wieder zu beurteilen, welches Los von Schaden und Nutz sie denen erteilen, die sie gebrauchen werden. Auch du sagtest jetzt als Vater der Buchstaben aus Zuneigung das Gegenteil dessen, was sie bewirken. Denn wer dies lernt, dem pflanzt es durch Vernachlässigung des Gedächtnisses Vergeßlichkeit in die Seele, weil er im Vertrauen auf die Schrift von außen her durch fremde Zeichen, nicht von innen her aus sich selbst die Erinnerung schöpft. Nicht also für das Gedächtnis, sondern für das Erinnern erfandest du ein Mittel. Von der Weisheit aber verleihst du deinen Schülern den Schein, nicht die Wahrheit. Denn wenn sie vieles von dir ohne Unterricht gehört haben, so dünken sie sich auch Vielwisser zu sein, da sie doch größtenteils Nichtwisser sind, und sie sind lästig im Umgang, da sie statt Weise Dünkelweise geworden sind.

Phaidros. Ach, Sokrates, leicht erdichtest du ägyptische oder andre fremdländische Erzählungen, wie es dir beliebt.

SOKRATES. Mein Freund, im Heiligtum des Zeus zu Dodona sagten die Menschen, die ersten Weissagungen seien von einer Eiche ausgegangen. Ihnen, weil sie keine Weisen waren, wie ihr Jünglinge heute, genügte es in ihrer Einfalt, der Eiche und dem Stein zuzuhören, wenn sie nur die Wahrheit sagten. Dir aber macht es vielleicht einen Unterschied, wer es sagt und aus welchem Land er kommt, denn du siehst nicht allein darauf, ob es sich so oder anders verhält.

Phaidros. Dein Tadel ist gerecht, und auch ich glaube, dass es so um die Buchstaben steht, wie der Thebaier sagt.

60. SOKRATES. Wer also glaubt, seine Kunst in Buch-staben zu hinterlassen, und wer sie wieder aufnimmt, ob etwas Klares und Festes aus Buchstaben zu ge-winnen sei, der strotzte von Einfalt und kennte in Wirklichkeit nicht den Wahrspruch Ammons, da er sich einbildete, die geschriebenen Reden bedeuteten irgend etwas mehr, als den schon Wissenden an das zu erinnern, wovon das Geschriebene handelt.

Phaidros. Ganz richtig.

SOKRATES. Denn dies Bedenkliche, Phaidros, haftet doch an der Schrift, und darin gleicht sie in Wahrheit der Malerei. Auch deren Werke stehen doch da wie lebendige, wenn du sie aber etwas fragst, so schweigen sie stolz. Ebenso auch die geschriebenen Reden. Du könntest glauben, sie sprächen, als ob sie etwas verstünden, wenn du sie aber fragst, um das Gesagte zu begreifen, so zeigen sie immer nur ein und dasselbe an. Jede Rede aber, wenn sie nur einmal geschrieben, treibt sich allerorts umher, gleicherweise bei denen, sie verstehen, wie auch bei denen, für die sie nicht paßt, und sie selber weiß nicht, zu wem sie reden soll, wem nicht. Gekränkt aber und unrecht getadelt, bedarf sie immer der Hilfe des Vaters, denn selbst vermag sie sich weder zu wehren noch zu helfen.

Phaidros. Auch das ist von dir ganz richtig gesagt.

SOKRATES. Und weiter! Wollen wir nicht eine andere Rede betrachten, den echtgeborenen Bruder von dieser, in welcher Art sie entsteht und um wieviel sie durch Wesen besser und mächtiger ist als diese?

Phaidros. Welche meinst du, und wie soll sie entstehen?

SOKRATES. Jene, die mit Erkenntnis geschrieben wird in die Seele des Lernenden, die fähig ist, sich selbst zu verteidigen, die zu reden und zu schweigen weiß, gegen wen sie beides soll.

Phaidros. Du meinst die lebende und beseelte Rede des Wissenden, deren Abbild man mit Recht die geschriebene nennen kann.

61. SOKRATES.  Die meine ich. Sage mir also dies: Ein Landmann, der Verstand hat, wird der den Same, um den er Sorge trägt und von dem er Früchte ernten möchte, ernstlich in der Sommerhitze in ein Adonisgärtchen säen und sich freuen, wenn er sieht, in acht Tagen schön aufgegangen ist? Oder wird dies nur als Spiel und um der Festtage willen tun, wenn er es einmal tut? Den Samen aber, mit dem es ihm ernst ist, wird er nach den Regeln der Kunst des Landbaues aussäen, wohin es sich gehört, und froh sein, wenn das, was er säte, im achten Monat seine Bestimmung erfüllt.

Phaidros. Ja, Sokrates, so wird er dies im Ernste, jenes, wie du sagst, in ganz anderm Sinne tun.

SOKRATES. Wer aber Erkenntnis des Gerechten und Schönen und Guten hat – werden wir zugeben, dieser habe weniger Verstand für seinen Samen als der Landmann?

Phaidros. Ganz unmöglich.

SOKRATES. Also nicht ernsthaft wird er ihn in schwarzem Wasser schreiben, ihn durch das Schreibrohr aussäend mit Reden, die unfähig sind, sich selbst durch das Wort zu helfen, unfähig, das Wahre zulänglich zu lehren.

Phaidros. Nein, das ist unwahrscheinlich.

SOKRATES. Das also nicht. Sondern um des Spieles willen wird er die Gärten der Schrift, denke ich, besäen und beschreiben, wenn er schreibt, und sich damit selbst einen Schatz von Erinnerungen sammeln für die Zeit, da er ins Alter des Vergessens gelangt

, und auch für jeden, der mit ihm derselben Spur folgt, und er wird seine Freude daran haben, wenn er ihr zartes Wachstum betrachtet. Wenn andre aber mit andern Spielen sich unterhalten, indem sie auf Gastmahlen zechen und mit anderen Dingen verwandter Art, dann wird jener, wie ich denke, statt dessen mit diesen Spielen, von denen ich spreche, sein Leben führen.

Phaidros. Ein gar schönes Spiel, Sokrates, nennst du neben einem geringen: das Spiel dessen, der in Reden zu spielen vermag, indem er den Mythos erzählt von der Gerechtigkeit und worüber du sonst sprichst.

SOKRATES. Ja, lieber Phaidros, so ist es. Aber viel schöner, glaube ich, ist der Eifer um die gleichen Dinge, wenn jemand, dialektische Kunst anwendend, die gee-ignete Seele wählt und sie bepflanzt und besät mit Reden der Erkenntnis, die sich selber und dem Sä-mann zu helfen geschickt und nicht früchtelos sind, sondern Samen tragen, aus dem sie immer von neuem in andern Seelen keimend ihn für ewig unsterblich zu machen geeignet sind und seinen Träger so glücklich machen, als es einem Menschen nur möglich ist.

Phaidros. Ja, ein noch weit Schöneres nennst du.

62. SOKRATES. Jetzt endlich, nachdem wir hierin übereinkamen, können wir auch jenes entscheiden.

Phaidros. Was meinst du?

SOKRATES. Das, bei dessen Betrachtung wir hierher gelangten: wie wir nämlich den Vorwurf prüften, gegen Lysias wegen der schriftlichen Abfassung Reden erhoben wurde, und über die Reden selber, ob sie mit Kunst oder kunstlos abgefaßt sind. Was kunstmäßig ist und was nicht, scheint mir jetzt schon angemessen erklärt zu sein.

Phaidros. So schien es. Aber erinnere mich doch noch einmal, wie?

SOKRATES. Bevor einer das Wahre der einzelnen Gegenstände, über die er spricht und schreibt, erkannt hat und fähig geworden ist, es als Ganzes zu bestimmen und, nachdem er es bestimmt hat, wieder in Arten bis zum Unteilbaren zu teilen versteht, und bevor er weiter in die Natur der Seele eben solche Sicht hat und für jede Natur die angemessene Art entdeckt, um danach die Rede einzusetzen und zu ordnen, indem er der bunten Seele bunte und klangreiche Reden, der einfachen aber einfache Reden bietet: eher wird er nicht imstande sein, mit Kunst, soweit es seiner Natur entspricht, das Geschlecht der Reden zu handhaben, weder um zu lehren noch um zu überreden, wie unsere ganze bisherige Rede kundgetan hat.

63. Phaidros. Ja, so etwa erschien es wohl überall.

SOKRATES. Aber über diese Frage, ob es schön oder schimpflich sei, Reden zu sprechen oder zu schreiben und in welchem Falle man mit Recht Vorwurf macht, in welchem nicht – hat nicht das eben Gesagte auch darüber etwas kundgetan?

Phaidros. Welches denn?

SOKRATES. Dies:  wenn Lysias oder irgendein andrer persönlich und öffentlich geschrieben hat oder schreiben wird, um Gesetze vorzuschlagen, indem er eine staatliche Schrift verfaßte und sich einbildete, sie enthalte große Festigkeit und Klarheit, so ist das eine Schande für den Verfasser, mag es jemand aussprechen oder nicht. Denn wer träumend und wachend unkundig ist des Gerechten und Ungerechten, des Bösen und Gu-ten, der entrinnt wahrlich nicht der größten Schande, auch wenn der ganze Haufe es loben sollte.

Phaidros.  Ja, so ist es.

SOKRATES. Wer aber glaubt, dass in jeder geschriebenen Rede notwendig vieles Spiel sein muss und dass niemals eine Rede in gebundener oder ungebundener Sprache, geschrieben oder gesprochen, wenn sie nach Rhapsodenart ohne Untersuchung oder Belehrung nur der Überredung halber vorgetragen wird, eines großen Eifers wert sei, sondern dass in Wirklichkeit die besten unter ihnen nur zur Erinnerung der schon Wissenden entstanden sind – wer vielmehr glaubt, dass in den belehrenden und um der Erkenntnis willen gesprochenen und in Wirklichkeit in die Seele geschriebenen Reden über das Gerechte und Schöne und Gute allein das Einleuchtende und Vollkommene und des Eifers Werte enthalten sei und dass solche Reden gleichsam seine echtgeborenen Söhne genannt werden müßten, zuerst das Wort in ihm selbst, wenn er es in sich entdeckt hat, und dann dessen Sprößlinge und Brüder, wenn einige von ihnen zugleich durch ihren Wert in andern Seelen keimen, während er um die übrigen sich nicht kümmert: dieser, Phaidros, wird vielleicht ein solcher Mann sein,wie ich und du beten würden, dass du und ich würden.

Phaidros. Ja, auch ich wünsche es von Herzen und bete darum. 

 

Schluß

64. SOKRATES. Damit sei es genug unsers Spieles über die Reden! Du aber gehe und melde Lysias, dass wir beide zum Quell der Nymphen und zum Musenheiligtum hinabgingen und Reden vernahmen, die uns Auftrag gaben, dem Lysias und jedem andern, der sonst Reden verfasst, dann dem Homer und wer sonst eine Dichtung ungebunden oder als Gesang dichtete, drittens auch dem Solon und wer sonst in Staats-Reden Schriften verfasst hat, die er Gesetze nennt, zu sagen: Wer dies verfaßte mit dem Wissen, wie sich das Wahre verhält, und ihm beizustehen imstande ist, indem er den Beweis des Geschriebenen unternimmt und dann so zu reden vermag, dass dagegen das Geschriebene als gering erscheint, der soll nicht nach einem von diesen Dingen seinen Namen tragen, sondern von jenen, denen sein Eifer galt.

Phaidros. Welchen Namen teilst du ihm also zu?

SOKRATES. Jemanden einen Weisen zu nennen, Phaidros, scheint mir etwas Großes zu sein und einem Gott allein zu gebühren. Ihn aber einen Philosophen oder einen Freund der Weisheit zu nennen, das ,möchte wohl ihm selber besser passen und würde schicklicher sein.

Phaidros. Auch würde es dem Brauche nicht widersprechen.

SOKRATES. Wer dagegen nichts Wertvolleres hat, als was er nach dauerndem Hin- und Herwenden, bald zusammenleimend, bald wieder auflösend verfasst und geschrieben hat, nennst du den wohl nicht mit Recht einen Dichter oder Redenverfasser oder Gesetzesschreiber?

Phaidros. Nicht anders.

SOKRATES'. Das also berichte deinem Freunde! –

Phaidros. Wie aber du? Was wirst du denn tun? Wir dürfen doch auch deinen Freund nicht üBergehen.

SOKRATES. Wen meinst du damit?

Phaidros. Isokrates, den Schönen. Was wirst du diesem melden, Sokrates? Was werden wir sagen, dass er sei?

SOKRATES. Isokrates ist noch jung, Phaidros. Was ich aber voraussehe, will ich von ihm sagen.

Phaidros. Was ist es ?

SOKRATES. Er scheint mir zu gut in seiner Natur, als dass man ihn an den Reden des Lysias bemessen könnte, auch von einer edleren Mischung des Gemütes, so dass es kein Wunder wäre, wenn er bei vorrückendem Alter den gleichen Reden, mit denen er sich jetzt befaßt, alle die sich je mit Reden abgegeben haben, wie die Kinder und noch weiter hinter sich ließe, ja noch mehr, dass, wenn ihm auch dies nicht genügte, ein göttlicher Drang zu etwas größerem führte. Denn ein Streben nach Weisheit, mein Freund, ist von Natur im Geiste dieses Mannes. Dies  also will ich von den Göttern dieses Ortes, dem Isokrates als ,meinem Lieblinge melden, du aber melde jenes dem deinigen, dem Lysias.

Phaidros. Das soll geschehen. Aber laß uns gehen, da auch die Hitze gelinder geworden ist.

SOKRATES. Aber ziemt es nicht, zu diesen hier zu beten, ehe wir aufbrechen?

Phaidros. Du hast recht.

SOKRATES. O lieber Pan und alle ihr andern Götter an diesem Orte! Gebt mir schön zu werden im Innern und laßt, was ich außen besitze, dem Innern befreundet sein. Für reich möge ich den Weisen halten, und die Art des Goldes sei mir in Fülle, die weder bringen noch nehmen kann ein andrer als der Besonnene. Bedürfen wir noch etwas anderes,Phaidros? Denn für mich ist um das Angemessene gebetet.

Phaidros. Bete hierum für mich mit. Denn Freunden ist das Gut gemeinsam.

SOKRATES. So laß uns gehen.