Peter Matussek

Medienästhetik des Klangs

5. Ursprünge der Musik

5.2 Kulturalistische Ansätze

"Tumbling Strains" (Sachs 1962)

5.2 Kulturalistische Ansätze

Aus der Perspektive der natürlichen Selektion folgt allerdings nicht zwangläufig, dass die menschliche Musikalität aus evolutionsbiologischen Faktoren hervorgegangen sei. Musizieren kann auch als ein nutzloser Zeitvertreib angesehen werden, evolutionär also ineffektiv, insofern es keinen Vorteil zum Überleben bringe (Spitzer 2003: 376).

Menschliche Praktiken, die über rein biologische Selbsterhaltung hinausgehen, bezeichnen wir als Kultur. Kulturalistische Theorien über den Ursprung der Musik betonen daher ihre Bedeutung für höhere Zwecke wie Kultpraktiken, soziale Organisation und Gemeinschaftsbildung.

Da diese höheren Funktionen einem fortgeschrittenen Stadium der menschlichen Entwicklung angehören, folgt aus dem kulturalistischen Ansatz zugleich, dass die Musik sich erst nach der Sprache entwickelt haben könne. 

In seinem Buch Die Anfänge der Musik vermutete bereits Carl Stumpf (1911), dass der Gesang sich aus dem Rufen entwickelte, das eine Verständigung über weite Distanzen ermöglichen sollte (vgl. Wörner 1993: 1). Dies findet durch Untersuchungen bei Naturvölkern Bestätigung: Der Musikethnologe Curt Sachs beobachtete an mehreren solcher Völker langgezogene Schreie, sog. "Tumbling Strains", die als Urform des Gesangs in gemeinschaftlichen Ritualen kultiviert worden seien (vgl. Sachs 1943; vgl. Rösing 1985: 356; vgl. Wörner 1993: 1). Die Laute der Tänzer im Video oben links kommen Sachs' Beschreibung nahe.

Eine andere Fraktion des kulturalistischen Erklärungsmodells sieht den Ursprung der Musik nicht im Melos (von griech. mélos = Lied, Melodie), sondern im Rhythmus, wie er inbesondere in schamanistischen Trommelritualen beobachtet werden kann. Die Funktion der Schamanentrommel wiederum wird unterschiedlich gedeutet:

• So geht etwa der Ethnologe Gilbert Rouget davon aus, dass die Trommelrhythmen ein akustisch codiertes "Bild" der vom Schamanen während des Rituals angenommenen Identität aufrechterhalten sollen (Rouget 1985). Das Video oben rechts zeigt ein Besessenheitsritual, in dem die Beteiligten die Identität von Tieren annehmen und dabei von den Trommeln unterstützt werden.

• Andere sehen die primäre Funktion der Schamanentrommel in der Herbeiführung von Trancezuständen durch "hypnotische Suggestion" (Henri A. Junod. The life of a South African tribe; Neufchatel, 1913. Bd. 2, S. 441–445, hier S. 443), "bedingte Reflexe" auf ankonditionierte musikalische Stimuli (Herskovits 1943: 25) oder "driving"-Effekte, die das Alltagsbewusstsein subvertieren (Neher 1990). Das Video unten links zeigt einen nepalesischen Schamanen, der sich durch sein Trommeln in Trance versetzt, um seinen Körper zu verlassen und auf einen "Seelenritt" zu gehen.

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