Peter Matussek

Medienästhetik des Klangs

5. Ursprünge der Musik

5.3 Der medienästhetische Ansatz

"... der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt." (Schiller 1795)

(Der erste Mensch, der ein Schaf sah, sagte nicht: Ich nenne Dich Schaf, sondern:) ‚Ha! du bist das Blökende!‘ … Der Schall des Blö­kens, von einer menschlichen Seele als Kennzeichen des Schafs wahrgenommen, ward, kraft die­ser Be­sinnung, Name des Schafs. … Käme er also auch nie in den Fall, einem anderen Ge­schöpf diese Idee zu geben, und also dies Merkmal der Besinnung ihm mit seinen Lippen vorblöken zu wollen oder zu können, seine Seele hat gleichsam in ihrem Inwendi­gen geblökt  ... Ton der Empfindung soll das sympathetische Ge­schöpf in densel­ben Ton versetzen!

 

     (Herder 1770: 9 u. 16.)

 

Der Autor Steven Johnson über die maßgebliche Bedeutung des Musikspiels für den technischen Fortschritt:

Quelle: https://www.ted.com/talks/steven_johnson_how_play_leads_to_great_inventions

5.3 Der medienästhetische Ansatz

Sowohl der naturalistische als auch der kulturalistische Ansatz zur Beantwortung der Frage nach dem Ursprung der Musik haben ihre Verdienste. Beide machen aber bei aller Gegensätzlichkeit den selben Fehler: Indem sie den menschlichen Antrieb zur Klangproduktion und -rezeption aus Funktionen herleiten – seien diese nun biologischer oder kultureller Art – übersehen sie den wesentlich ästhetischen Charakter des Musikgenusses

Gleich, wie man das "Ästhetische" definiert – der von allen Theorien gemeinsam hervorgehobene Grundzug ist, dass es ein Praxisbereich ist, der sich selbst die Regeln gibt. Und das Modell, das einem entsprechenden Tun um seiner selbst willen am nächsten kommt, ist nicht das der Zweckrationalität, sondern das des Spiels.

Das Spielen ist eine Tätigkeit, die wir sowohl beim Tier als auch beim Menschen finden. Und beide spielen nicht, weil sie es sollen, sondern weil sie es wollen; sonst wäre es kein Spiel mehr. Wie bereits Friedrich Schiller in seiner Schrift Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen ausführte, beginnt der Mensch dort zu spielen, wo er sowohl von biologischen wie von sozialen Notwendigkeiten entbunden ist. Im Spiel also erheben wir uns sowohl über naturalistische wie kulturalistische Zweckbindungen. 

Nicht umsonst belegen wir Formen der Musikproduktion und -rezeption mit dem Spielbegriff ("Geige spielen", "mp3-Player" etc.). Wir bringen damit zum Ausdruck, dass es sich um zweckfreie Praktiken handelt.

Die ursprünglichste Form des Spiels dürfte dasjenige der Imitation sein. Wir alle kennen wohl den Impuls, mit einem Tier dadurch in Dialog zu treten, dass wir seine Lautäußerungen nachahmen (s. Video oben rechts). Der junge Herder griff diese Beobachtung in seiner Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1770) auf, um plausibel zu machen, dass die menschliche Sprache ursprünglich auf dem Versuch der Kontaktaufnahme mit der Umwelt durch Lautnachahmung beruhe (s. Zitat oben rechts).

Demnach ging die Musik der Sprachentwicklung voraus, da sie zunächst Tierlaute nachahmte und sich erst später zu Worten formte. Neben Herders Beispiel des Blökens ist für das Nachahmen von Tierlauten vor allem auf den Vogelgesang (Stumpf 1911; vgl. Cordes 2005: 195) verwiesen worden.

Während jedoch Tiere in ihren Nachahmungsimpulsen angeborenen Reflexen gehorchen, macht Herder darauf aufmerksam, dass Menschen die Nachahmung von Tierlauten aus freiem Willen, vollziehen – dies aber nicht willkürlich, sondern qua "Besinnung", spielerisch mithin nicht aus purem Vergnügungsbedürfnis, sondern im Ineresse der Welterschließung.

Deshalb ist es auch zu kurz gegriffen, wenn neuere Arbeiten den Graben zwischen naturalistischen und kulturalistischen Ansätzen dadurch zu überwinden suchen, dass sie den Vergnügungscharakter von Musik im Namen einer „Auditory Cheesecake"-Theorie betonen – mithin als etwas, das eigentlich überflüssig und nebensächlich ist (vgl. Pinker 1999; 2002: 663 nach Hellbrück 2008: 20; Levitin 2009: 319).

Die ästhetische Spieltheorie verfolgt einen wesentlich weiter gehenden Ansatz. Sie kann deutlich machen, dass das Spiel eine historisch-anthropologische Grundbestimmung des Menschen – und insofern keineswegs nebensächlich ist (vgl. Huizinga 1938; Caillois 1961). Die folgenden Lektionen werden das im Rahmen einer Medienästhetik des Klangs nun ausführen.

5.3 Der medienästhetische Ansatz5.3 Der medienästhetische Ansatz
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