Peter Matussek

Medienästhetik der Schrift

10. Von der Gutenberg- zur Turing-Galaxis

10.3.3 Romantik: passioniertes bzw. hermeneutisches Lesen

Anselm Feuerbach: Paolo e Francesca (1864). Schack-Galerie Monaco.
Anker, Albert: Mädchen, die Haare flechtend (1887). Privatbesitz.
Library of Congress in Washington, D.C., 1897 fertiggestellt, Quelle: Blog Books to the Ceiling
Karikatur zur Lesesucht (1863)

Die erzwungene Lage und der Mangel an körperlichen Bewegungen beim Lesen, in Verbindung mit der so gewaltsamen Abwechslung von Vorstellungen und Empfindungen führt zu Schlaffheit, Verschleimung, Blähungen und Verstopfungen in den Eingeweiden, namentlich zu Hypochondrie, die bey dem weiblichen Geschlecht recht eigentümlich auf die Geschlechtsteile wirkt. (Beyer 1795, nach Kottkamp 2005).

Die Lesesucht ist eine unmäßige Begierde, seinen eigenen, unthätigen Geist mit den Einbildungen und Vorstellungen Anderer aus deren Schriften vorübergehend zu vergnügen. Man lieset, nicht um sich mit Kenntnissen zu bereichern, sondern um zu lesen; man lieset das Wahre und das Falsche prüfungslos durch einander, ohne Wißbegier, sondern mit Neugier. Man lieset und vergißt. Man gefällt sich in diesem behaglichen, geschäftigen Geistesmüßiggang, wie in einem träumenden Zustande. (Zschokke 1821)

10.3.3 Romantik: passioniertes bzw. hermeneutisches Lesen

Mit dem Übergang zur Epoche der Romantik Ende des 18. Jahrhunderts wächst das Interesse an märchenhaften, phantastischen und schaurigen Stoffen, die darauf angelegt waren, die Einbildungskraft anzusprechen, um eine Gegenwelt zur rationalisierten Alltagssphäre zu schaffen. Daraus resultiert ein Buchumgang, der als passioniertes Lesen bezichnet werden kann.

In dem Maße, wie die Lektüre nicht mehr nur zu "Nutz und Frommen", sondern zur Unterhaltung und Affektsteigerung diente, wurde es zum Gegenstand einer Lesesuchtkritik. Interessant dabei ist, dass die Argumente, die damals gegen das wilde und passionierte Lesen vorgebracht wurden, den heutigen Kritiken an der Internet- und Computerspielsucht ähneln – die ihrerseits das einst geschmähte Lesen um des Lesens willen als Gegenmittel empfehlen (vgl. Postman).

Auch das wissenschaftliche Lesen ändert sich in dieser Zeit. Die positivistische Überzeugung, Texte ließen sich eindeutig formulieren, wird von der historisch-kritischen Einsicht der Hermeneutik (abgeleitet von Hermes, dem griech. Götterboten) überholt, dass je nach "Erfahrungshorizont" des Lesers, der wiederum einen bestimmten "Erwartungshorizont" mit sich bringt, Texte unterschiedlich ausgelegt werden. Die neuen Lektüreerfahrungen verändern wiederum den urspünglichen Erfahrungshorizont und so weiter. Das hermeneutische Lesen (vgl. Assmann 1985, S. 103–110) vollzieht also eine kreisende Bewegung; nach Dilthey auch "hermeneutischer Zirkel" genannt.

Im Verlauf des 19. Jahrhunderts entstehen große und prächtige Nationalbibliotheken, die sichtbar machen, dass das Buch nun endgültig zum dominanten Träger des kulturellen Gedächtnisses aufgestiegen war. Den bis heute mit 147.093.357 Exemplaren weltweit größten Buchbestand beherbergt die Library of Congress, die Forschungsbibliothek des US-Parlaments, die Ende des 19. Jahrhunderts im Stil der italienischen Renaissance (Foto links unten) erbaut wurde, und an deren Dekoration mehr als 50 Künstler beteiligt waren.

10.3.3 Romantik: passioniertes bzw. hermeneutisches Lesen10.3.3 浪漫主义时期:热情且注疏学的阅读
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