Peter Matussek

Medienästhetik der Schrift

8. Verschriftung und Verschriftlichung im Mittelalter

8.3.3 Scholastisches Lesen

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Der heilige Dominikus. Fresko (Florenz, 1436–43)
Der Heilige Hieronymus (A. Dürer, 1511)
Hieronymus im Studierzimmer (V. Catena, ca. 1513)
Legenda Aurea in der Biblioteca Medicea Laurenziana in Florenz (um 1290) Sailko
Register aus dem Codex Manesse (um 1300) UB Heidelberg

8.3.3 Scholastisches Lesen

Nach Jahrhunderten des "monastischen", das heißt mitsprechenden Lesens in Gemeinschaft kam im 12. Jahrhundert das stille, sogenannte "scholastische Lesen" auf. Damit einhergehend wandelte sich die Buchseite: "Aus der Partitur für fromme Murmler wurde der optisch planmäßig gebaute Text für logisch Denkende" (Illich 1990).

Das Didascalicon von Hugo von St. Viktor (ca. 1090–1141, s. Abb. links) markiert den Übergang. Es ist das erste Buch, das über die Kunst des Lesens geschrieben wurde. In der 1. Hälfte (Kap. 1-3) werden die sieben freien Künste (septem artes liberalis) behandelt, in der 2. Hälfte (Kap. 4-6) das Lesen der Heiligen Schrift. Hugos Lektüreanweisung forderte den Leser zum kontemplativen, stillen Lesen auf. Hierzu war es vorteihafter, sich in eine einsame Zelle oder Studierstube zurückzuziehen (Abb. Mitte.)

Hugo trat zwischen 1115 und 1120 in die Augustinerchorherrenabtei St. Viktor in Paris ein. Er blieb sein ganzes weiteres Leben dort und widmete sich in der Zurückgezogenheit des Klosters der unterrichtenden und vor allem schriftstellerischen Tätigkeit.

Vor Hugo ist das Buch eine Aufzeichnung dessen, was ein Autor geredet oder diktiert hat. Nach ihm wird es zunehmend ein Repertorium der Gedanken eines Autors, geformt zu einer Bildfläche, auf die er seine noch unausgesprochenen Intentionen projizieren kann.

Das Glossieren (in Marginalien oder zwischen den Zeilen) war ein sichtbares Resultat des geistigen Verfahrens beim monastischen Lesen. Zu Beginn des 12. Jahhrhunderts entsteht auf der Manuskriptseite eine neue Ordnung. Interlinearglossen werden seltener. Man schafft absichtlich eine neuartige Verbindung von Glosse und Text, wobei die Glosse dem tonangebenden Haupttext untergeordnet ist und mit kleinen Buchstaben geschrieben wird. Dem Autor wird bewusst, dass das Layout Teil eines sichtbaren Ganzen ist, das dem Leser das Verstehen erleichtern kann. Ein Beispiel dafür ist die Errechnung einer Seitenaufteilung durch Petrus Lombardus. Er setzt Kapitelüberschriften (sententiae) als Hilfe zum schnelleren Lesen ein.

Die neuartige Ordnung durch ein Sachregister in alphabetischer Reihenfolge stellt nach Illich einen technischen Durchbruch dar. Zwar lernten Schulkinder bereits das Aufsagen des ABCs, aber es war bislang nicht als Hilfsmittel zum Auflisten verwendet worden.
Ausdruck eines neuen Ordnungswillens sind das neue Seitenbild, die Kapiteleinteilung, Distinktionen, konsequente Durchnummerierung von Kapitel und Vers, Inhaltsangabe für das gesamte Buch, Übersichten zu Beginn eines neuen Kapitels inkl. Untertitel und Einführungen.

Nach Hugos Tod wird die Seite zu einer Bildfläche für die Ordnung, die der Verstand schafft. Das theologische und philosophische Buch wird zu einer Verkörperung einer cogitatio, eines Denkgebäudes, statt ein Mittel zu sein de narratio wiederzubeleben. Der Autor mutiert vom Erzähler einer Geschichte zum Schöpfer eines Textes.

8.3.3 Scholastisches Lesen写作
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