Peter Matussek

Medienästhetik der Schrift

8. Verschriftung und Verschriftlichung im Mittelalter

8.1.1 Vom Rotulus zum Codex

Der Kodex ist der Schriftträger, der sich im Mittelalter zunehmend gegenüber dem Rotulus, der Schriftrolle, durchsetzt. Der praktische Pergamentcodex wurde zunächst im 1. Jh. n. Chr. für Bücher kleinen Formats verwendet (Geschenke, Reisebücher, Rechnungs- u. Schulbücher). Schon der Dichter Martial (43-104 n. Chr.) staunte, dass sich selbst die längsten Werke in ein derart kleines Format bringen ließen. Die Kodices, schrieb er, verstopften nicht die Bibliotheken, seien für Reisen geeignet und könnten in einer Hand gehalten werden.

Der mittelalterliche Kodex besaß – ebenso wie die Schriftrollen – kein Titelblatt; der Text begann mit einer Einleitungsformel, in der aber niemals der Verfasser genannt wurde. Dieser Anfang wurde durch rote Farbe oder Großbuchstaben kenntlich gemacht. Die Angaben über Titel und Autor wurden an den Schluss des Werkes gesetzt und mit dem Wort explicit (von lat. "explicare" = abwickeln, aufrollen – bezogen auf das Ende der Schriftrolle) eingeleitet. Umgekehrt bezeichnet die Formel incipit den Anfang einer Manuskriptrolle.

Im Mittelalter enden die Texte oft abrupt, nur mit den Worten finis operis oder explicit liber. Ausführlichere Unterschriften finden sich im 14. und 15. Jh., wo die Kopisten ihre Fähigkeiten rühmten, um eine Belohnung für die aufgewendete Mühe baten und den Segen Gottes für sich selbst und ihre Leser erflehten.

Sowohl auf Papyrus als auch auf Pergament bestimmte der Kopist das Verhältnis zwischen Schrift und Rändern, das von der Breite und Höhe des Kodex abhängig war (meist im Verhältnis 4:5). Er führte diese Arbeit mit Messer und Winkelmaß aus (s. Abb. links). Um die Regelmäßigkeit der Schrift und die Harmonie der Seitenaufteilung zu gewährleisten, ritzte man horizontale Linien in das Pergament und markierte die Ränder mit zwei senkrechten Strichen (und zwar mit einem Metallstift, der ab der 2. Hälfte des 11. Jahrhunderts aus Blei war). Ende des 12. Jahrhunderts begann man schwarze, später farbige Tinte für die Zeilen zu benutzen.

"Mit der Ersetzung des Papyrus durch das Pergament und der Schriftrolle durch den Kodex sind Veränderungen in der Schriftgestaltung, der Buchillustration und -einbände sowie letztlich im praktischen Umgang mit Büchern (Leseweise, Aufbewahrung, wissenschaftliche Arbeit usw.) verbunden, die den Übergang von der antiken zur mittelalterlichen Schriftkutur bezeichnen. Es gibt Forscher, die den Schriftträgerwechsel und seine Folgen eine 'Buchrevolution' nennen und ihn in seinen Auswirkungen sogar mit der Einführung der Drucktechnik verglichen haben. Diese Einschätzung ist überspitzt, auch wenn unverkennbar ist, dass mit dem Wechsel markante Änderungen begannen. Das Entscheidende liegt nicht im technischen Wandel, sondern in der Einstellung zum Geschriebenen." (Stein 2006, S. 94)

 

Bildquellen:

• Bibliothek von Aleandria (Rekonstruktion); alamy/stockfoto

• Rupertsberger Riesenkodex der Hildegard von BIngen (12. Jh., Landesbibliothek Wiesbaden), umfasst 481 Blatt Pergament und wiegt ca. 15 Kilogramm; wikimedia-commons

https://www.fromoldbooks.org/Andrews-CuriositiesOfTheChurch/pages/133-Chained-library-at-Wimborne-Minster/133-Chained-library-at-Wimborne-Minster-1709x1021.jpg

8.1.1 Vom Rotulus zum Codex写作
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