Peter Matussek

Medienästhetik der Schrift

2. Psychologie des Lesens

2.2.3 Sinnstiftung im Schwebezustand

a) Das prächtige Schloss, das sie gekauft hatten, nachdem sie das Geld, das aus dem Bankraub stammte, gewaschen hatten, klemmte.

b) Das Licht am Ende des Tunnels gehörte zu einem entgegenkommenden Zug.

c) Das einzig Positive auf dieser Etappe war sein Doping-Test.

d) "Is the doctor at home?" the patient asked in his bronchial whisper.
   "No", the doctor´s young pretty wife whispered in reply. "Come right in".
(Raskin 1985, S. 100)

e) Enthält dieser Satz fünf Wörter – oder sieben? (Hofstadter 1979)

f) Wenn du diesen Satz irgendwo liest, ignoriere ihn. (ebd.)

g) Die »Rationalität« – aber vielleicht müsste auf dieses Wort aus dem Grunde, der am Ende dieses Satzes sichtbar wird, verzichtet werden –, die eine derart erweiterte und radikalisierte Schrift beherrscht, stammt nicht mehr aus einem Logos. (Derrida 1967, S. 23)

2.2.3 Sinnstiftung im Schwebezustand

Ambiguitätstoleranz von Protentionen und Retentionen

Mehrdeutige Worte ("es", "Schloss", "waschen", "sie") wecken unter Umständen falsche Bedeutungserwartungen, die dann je nach Kontext korrigiert werden. Dass dies in der Regel möglich ist, ohne dass der Leser den Satz noch einmal von vorne lesen zu müssen, weist darauf hin, dass die Retentionen ambiguitätstolerant sind.

Kollisionen zwischen Protention und Retention als Stilmittel

Die Kollision von Protention und Retention wird bisweilen als Stilmittel zur Erzeugung von Überraschungseffekten eingesetzt.
Denn auch wenn der antizipierte und tatsächliche Sinn sich diametral widersprechen, muss die Kollision nicht zum Verstehensabbruch führen, sondern kann einen neuen, meist ironischen, Sinn erzeugen.

Das Textverständnis erschließt sich beim Lesen nicht im sukzessiven Verlauf, sondern analog zum Wechselspiel von Protention und Retention bei der Worterkennung.

2.2.3 Sinnstiftung im Schwebezustand2.2.3 视觉暂留和先入为主的冲突
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