Peter Matussek

Medienästhetik der Schrift

2. Psychologie des Lesens

2.2.2 Retention von Gelesenem und Protention erwarteten Sinns

Gelesenes protendiert Gesehenes ("Stroop-Effekt")
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Gelesenes protendiert Gehörtes (Verhören)
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Gehörtes protendiert Gelesenes (Rhythmus-Adaption)
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2.2.2 Retention von Gelesenem und Protention erwarteten Sinns

Wie wir schon anhand der Experimente von Goldscheider und Müller feststellten, sind die beim Lesen antizipierten Textpassagen nur innerhalb relativer Wahrscheinlichkeiten mit denen identisch, die tatsächlich auf dem Papier stehen. Denn für alle Wahrnehmungsakte gilt, dass sie von vergangenen Wahrnehmungen vorgeprägt sind, die bestimmte Erwartungen wecken.

Der Phänomenologe Edmund Husserl führte zur Kennzeichnung dieser Erfahrungs- und Erwartungsaspekte im Wahrnehmungsakt die Begriffe "Retention" (von lat. retento: zurückhalten) und "Protention" (von lat. protendo: vorstrecken)  ein. Und er verdeutlichte ihr Zusammenspiel am Vorgang des Melodiehörens: Um eine Tonfolge als Melodie zu hören, muss eine Retention des unmitelbar zuvor Gehörten stattfinden, die wiederum eine Protention der kommenden Töne bewirkt.

Inwieweit das zuvor Gelesene die Erwartung des Kommenden prägen kann, zeigt das Experiment zum Protentionsnachweis: Die beiden "Sterne" haben die Erwartung erzeugt, dass es sich auch bei dem dritten Wort um einen Stern handelt. Offensichtlich sind die Augen dem Leser vorausgeeilt und haben den dritten "Stern" fälschlicherweise erkannt, bevor der "Zwerg" die "Elstern" herbeizitierte. Entsprechend verhält es sich mit den anderen beiden Wortreihen.

Ungehemmte und gehemmte Protention

Der protentive Akt bietet keine Schwierigkeiten, solange nur die Farbwörter gelesen werden. Wenn wir aber die Farbe nennen sollen, dann wird die unterschwellige Protention, mit der wir die Semantik der Wörter aufnehmen, hinderlich. Die erwartete Bedeutung muss jeweils korrigiert werden.

Dass eine kontinuierliche Lektüre überhaupt möglich ist, beruht auf einem Hiat zwischen zwei Tendenzen, die gleichzeitig für das Textverstehen notwendig sind: dem Vorgriff auf einen erwarteten Sinn (Protention) und der eventuellen rückwirkenden Korrektur dieser Erwartung. Es ist kaum möglich, die Bedeutung eines Wortes beim Lesen "offen" zu lassen; während des Lesens wird sie festgelegt und dann erforderlichenfalls nachträglich korrigiert. 

Ein Beispiel für die starke Tendenz zur Festlegung einer bestimmten Sinnerwartung ist das Phänomen des Verhörens bei der Liedrezeption. Wenn Sie die falschen (oben stehenden) Texte jeweils zuvor lesen, werden Sie feststellen, wie schwer es ist, sich von den unsinnigen Bedeutungen loszumachen, auch wenn man die Musikstücke mit ihren Originaltexten kennen. 

 

 

 

2.2.2 Retention von Gelesenem und Protention erwarteten Sinns2.2.2 所读文本的视觉暂留和对未读文本的先入为主
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