2.3

Erinnerungsaktivierung durch Leselücken

2.3.1 Die Tachistoskopexperimente von Goldscheider und Müller

Nicht alle Tachistoskopexperimente über den Vorgang des Lesens, die in der Zeit um 1900 durchgeführt wurden (vgl. 2.3), verleiteten zu der irrigen Ansicht, dass wir beim Lesen die einzelnen Buchstaben sukzessive erfassen. Goldscheider und Müller (1893) konnten mit einer anderen Versuchsanordnung zeigen, "dass innerhalb der optischen Sphäre ... Erinnerungen gewisser regelmäßiger, symmetrischer oder häufig vorkommender Formen wachgerufen werden. Durch Erfahrungen des täglichen Lebens (Formen der Gegenstände, Zeichnungen, Lesen etc.) sind wir mit einer ganzen Reihe von Form-Anschauungen bekannt geworden, und diese Erinnerungen spielen ... für das Erkennen der Anordnung der Elemente eine wichtige Rolle." Diese Formen werden, wie die Experimente bewiesen, simultan, als komplette Muster, erkannt.

2.3.2 Goldscheider/Müller über die Ergänzung von Textlücken

Mit einem weiteren Experiment konnten Goldscheider und Müller nachweisen, dass unvollständig geschriebene Wörter unwillkürlich durch den Leser ergänzt werden – und zwar in Korrelation zur Geläufigkeit der Wörter für die Vpn, d.h. in einem Zusammenspiel von Wahrnehmung und erinnerungsgespeister Antizipation bei der Lektüre.

2.3.3. Erinnerungsaktivierung durch Leselücken (Bergson)

Der Philosoph Henri Bergson zog in seinem Werk Materie und Gedächtnis (1896) aus den Befunden von Goldscheider und Müller weitreichende Konsequenzen über den Zusammenhang von Wahrnehmung und Erinnerung.