0. Einführung

Übersicht

Die Urszene einer medienkritischen Betrachtung der Schrift ist ein von Sokrates in Platons Dialog Phaidros fingierter Mythos: Thoth (oder Theuth), der Gott, der nach ägyptischer Überlieferung die Schrift erfunden hat, soll seine Erfindung dem König Thamus zur Beurteilung vorgestellt haben, und dieser habe bemängelt, dass die Menschen durch die neue Aufzeichnungstechnik ihr Erinnerungsvermögen schwächen würden, da sie es im Vertrauen auf das neue Speichermedium nicht mehr übten (0.1).

Zweieinhalb Jahrtausende später, am Ende der Schriftkultur, scheint das Argument aktueller denn je: Kaum eine medienwissenschaftliche Abhandlung der letzten vierzig Jahre kommt nicht auf die Mythenstelle aus dem Phaidros zu sprechen – freilich mit sehr unterschiedlichen Bewertungen (0.2).

Die populärsten Positionen sind nach der Abstimmung, die wir durchgeführt haben, diejenigen, die Platos Schriftkritik als unangemessen und selbstwidersprächlich zurückweisen (0.3).

Das gibt uns Anlass zu untersuchen, was denn tatsächlich die Auswirkungen des Schreibens und Lesens auf den Menschen sind (Lektion 1–4), welche kulturhistorischen Veränderungen die Einführung der Schrift mit sich brachte (Lektion 5–8) und welchen Einfluss die Mechanisierung und Digitalisierung der Schrift sowohl auf ihre Verbreitung wie auf ihre Marginalisierung im Mediensystem hatten (Lektion 9–12).