0. Einführung

0.2 Deutungen der Mythenstelle

Das Spektrum der Stellungnahmen ist allerding groß. Manche Autoren schließen sich Sokrates' Argumentation an, ja halten sie heute mehr denn je für berechtigt. Andere sehen Sokrates durch die Tatsache widerlegt, dass wir ohne Schriftkultur sicher kein so dauerhaftes kulturelles Gedächtnis hätten ausbilden können – mit der ironischen Konsequenz, dass ohne die Schrift auch Platons Schriftkritik in Vergessenheit geraten wäre.

Was allen Interpreten bis heute Kopfzerbrechen bereitet, ist eben dies: Wenn Platon die Schrift ablehnte - warum schreibt er dann darüber?

War er wirklichso naiv, den performativen Widerspruch nicht zu bemerken? Oder ist seine Schriftkritik differenzierter, als es auf den ersten Blick scheint – indem sie nicht die Schrift pauschal gegenüber der Mündlichkeit abwertet, sondern sich einen Schriftgebrauch vorstellen kann, wie er ihn selber praktiziert, der die aufgezeigten Nachteile gegenüber der Mündlichkeit in bestimmter Weise, die wir noch zu klären haben, kompensiert?