Peter Matussek

Medienästhetik des Klangs

2. Psychologie des Hörens

2.2.4.4 'Déjà Entendu'

"... Da dirigierte ich eine Partitur zum ersten Mal, und plötzlich sprang mir die Cello-Stimmführung ins Gesicht, und ich wußte, wie das Stück weitergeht, bevor ich das Blatt umgedreht hatte. Eines Tages erwähnte ich das meiner Mutter gegenüber, einer Berufs-Cellistin. Ich dachte, es würde sie verwundern, weil es ja immer die Cello-Stimme war, die mir so klar vor Augen stand. Aber als sie hörte, um welche Stücke es sich handelte, löste sich das Rätsel von selbst: Alle Partituren, die ich ohne Noten kannte, waren diejenigen, die sie gespielt hatte, als sie mit mir schwanger war."


      Der Dirigent Boris Bott in seinen Lebenserinnerungen (Janus 1997: 211)

The recollection is always started by another person's voice, or by my own verbalized thought, or by what I am reading and mentally verbalize; and I […] feel strongly that they resemble what I have felt before under similar abnormal conditions. [I knew] that the recollection is ficiticious [... but I felt] a slight sense of satisfaction as if it had been sought for.

 

John Hughlings-Jackson. On a Particular Variety of Epilepsy ('Intellectual Aura'). In: Brain  11 (1889): 179–207, hier: 202.

Ich weiß, daß Sie hier sind Doktor Sacks. Ich weiß auch, daß ich eine alte Frau in einem Altersheim bin, die einen Schlaganfall gehabt hat, aber ich fühle mich wieder wie als Kind in Irland. Ich fühle die Arme meiner Mutter, ich sehe sie vor mir, ich höre sie singen.

 

 Eine Patientin von Oliver Sacks 

2.2.4.4 'Déjà Entendu'

Als Déjà Entendu (von frz. déjà = schon und entendu = gehört) wird ein auditives Erinnerungserleben bezeichnet, das sich zwar anfühlt, wie eine Wiederkehr von Vergangenem, von dem man aber weiß oder zu wissen glaubt, dass es diese vergangene Erfahrung faktisch nicht stattgefunden haben kann.

Ob die Erklärung stimmt, die der Dirigent Boris Brott im oberen Zitat für sein Déjà Entendu-Erlebnis gibt – eine pränatale Erinnerung, die sich ins implizite, also unbewusste Gedächtnis eingelgert hatte (vgl. Schacter 1996), ist zweifelhaft. Forschungen zum "false memory"-Phänomen (vgl. Hacking 1995, Loftus/Ketcham 1995, Pezdek/Banks 1996) haben u.a. gezeigt, dass Erinnerungen, die unter Hypnose aufsteigen, in der Regel auf Konstruktionen beruhen. Dies liegt an einer Eigentümlichkeit des  Erinnerungsvorgangs: Dort, wo wir auf Lücken stoßen, neigen wir dazu, diese automatisch durch Phantasien auszufüllen (Hyman/Billings 1998).

Die neuropsychologische Erklärung für Déjà Entendu-Erlebnisse ist denn auch eine Art "Kurzschluss" des Gehirns, bei dem die Nervenbahnen einer aktuellen Klangwahrnehmung mit denjenigen einer zwar ähnlichen, aber lebensgeschichtlich unverbundenen auditiven Erinnerung in Kontakt kommen, so dass sich das Gehörte wie eine Erinnerung anfühlt, ohne es zu sein.

Genauere Charakterisierungen des Phänomens verdanken sie insbesondere der Vergleichsperspektive mit dem Déjà Vu. Dieses ist charakterisiert durch das Gefühl der subjektiven Vertrautheit im objektiv Unvertrauten. Unter auditiven  Vorzeichen sind die Begleiterscheinungen andere: Dem Déjà Entendu fehlt in der Regel das Befremdliche oder gar Beängstigende des Déjà Vu.

Diese Beobachtung notierte bereits John Hughlings-Jackson in einem 1889 veröffentlichten Forschungsbericht. Er zitierte darin einen Patienten, der an Temporallappen-Epilepsie litt und von Déjà-Erlebnissen auditiven Inhalts kein Unbehagen berichtete, sondern einen Lustzuwachs (s. zweites Zitat).

Offenbar löst der Eindruck, etwas schon einmal gehört zu haben, ohne dass sich eine Quellenerinnerung einstellt, weniger Befangenheit aus als regressive Sehnsüchte. Der Neurologe Oliver Sacks etwa beobachtete bei einer Patientin, die aufgrund ihrer Temporallappenschädigung in durchdringender Prägnanz Lieder ihrer Kindheit wiederhörte, "nostalgische Ausschweifungen". Dieser Nostalgie-Effekt, der sich bis zur affektiven Hinwendung auf unvordenkliche Ursprünge steigern kann, dürfte grundsätzlich damit zusammenhängen, daß das Hören in zeitlicher Ausdehnung stattfindet, wogegen das Sehen der Raumdimension verhaftet bleibt. Während also das Erlebnis der Vertrautheit im Unbekannten beim Déjà Vu tendenziell mit beklemmenden Empfindungen der situativen Erstarrung einhergeht, bietet das Déjà Entendu einen emotional öffnenden Ausweg aus dieser Paradoxie, da Klänge ihrer Natur nach niemals stillstehen, sich äußerlicher Fixierung entziehen.

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