Peter Matussek

Medienästhetik der Schrift

5. Ursprünge der Schrift

5.1 Vorstufen der Schrift I: Höhlenbilder

Datierung der ältesten Höhlenbilder durch Messung des Zerfalls von Uran-Isotopen. Die gelbe Skala zeigt den Bereich von 20.000 bis 45.000 Jahren Mindestalter.

Quelle: Pike et al. (2012), Fig. 3.

40.000 Jahre alte Handumrisse wurden 2014 in Indonesien entdeckt. Sie gelten als die ältesten bisher gefundenen Höhlenbilder.

Höhlenimpressionen

5.1 Steinzeitliche Vorstufen der Schrift I: Höhlenbilder

Erste Spuren bildhafter Darstellung finden wir in den Höhlen der ältesten Periode der Jungsteinzeit, dem sog. "Aurignacien". Sie reichen rund 40.000 Jahre zurück, wie sich heute durch Uran-Isotop-Zerfallsanalysen nachweisen lässt (vgl. Pike et al. 2012). Die frühesten bisher gefundenen Bildmotive sind Umrisszeichnungen der eigenen Hand, die offenbar durch das Aufsprühen flüssiger roter Farbe mit dem Mund entstanden. Sie wurden erst kürzlich in einer Höhle auf der indonesischen Insel Sulawesi entdeckt und haben bemerkenswerte Ähnlichkeit mit den vor rd. 37.000 Jahren in Spanien entstandenen Handschemata (Abb. u. rechts), die über viele tausend Jahre populär blieben (Abb. o. links).

Sind also die ältesten Bildwerke "Selfies"? Resultiert alles Aufzeichnen aus einem urspünglichen menschlichen Bedürfnis nach Selbstdarstellung und Selbstverewigung im Sinne der Aussage "Ich war hier"? So plausibel das aus heutiger Sicht erscheinen mag, müssen wir uns doch vor Augen halten, dass unsere Art, die Welt zu sehen und zu interpretieren, das Ergebnis einer langen kulturhistorischen Entwicklung ist, die wir den Menschen der Steinzeit nicht unterstellen dürfen. Über deren Wahrnehmungsweisen und bildnerischen Motive können wir nur spekulieren, indem wir versuchen, ihre Lebensbedingungen zu imaginieren.

Die Erforschung der Höhlen-"Malereien" (auch dieses Wort ist nicht im heutigen Sinne zu verstehen!) hat diverse solcher Spekulationen hervorgebracht, die insbesondere hinsichtlich der Frage differieren, ob die Höhlenmalereien pragmatischen oder kultisch-religiösen Zwecken dienten:

• Zur ersten Richtung gehört die von Reinach (1910) aufgestellte These von der "Jagdmagie" (s. 5.1.1). Ihr zufolge suchten die Steinzeitmenschen ihren Jagderfolg zu verbessern bzw. der Gefahr, selbst zur Beute zu werden, zu entgehen, indem sie die Tiere durch Abbildung "bannten" – eine magische Praxis also, die nicht in erster Linie um einer spirituellen Erfahrung willen, sondern aus Zwecken der biologischen Selbsterhaltung ausgeübrt wurde.#ausführen: welche Höhlenbeispiele als Grundlage? Lascaux war noch nciht entdeckt. Auch die Astrologiehypothese s. Lascaux-Film gehört hierher#

• Dieser These widerspricht die in der neueren Forschung, v.a. von Clotte (1997), vertretene Richtung, die die Höhlenmalereien als Ausdruck schamanistischer Tranceefahrungen deutet und somit auf spirituelle Motive zurückführt (s. 5.1.2). "Schamanismus" (vom tungusischen, d.h. sibirischen Wort šaman), wobei bestimmte Charakteristika der Malereien (u.a. stroboskopartige Wiederholungen einzelner Bildelemente als Darstellungen tranceartiger Wahrnehmung erklärt werden . Insbesondere an der 1940 entdeckten Höhle von Lascaux: die  am reichsten bebilderte Höhle, die bislang entdeckt wurde, rd. 1900 dokumentierte Motiven aus dem Périgordien (38.000 bis 21.000 v.u.Z.). #ausführen.vgl. Vierzig (2009): Gegen Jagdmagie#

Beide Forschungsrichtungen, die evolutionsbiologische und die religionspsychologische, können gute Gründe für ihre Interpretationen liefern. Sie galten jedoch lange Zeit für unvereinbar. So ist insbesondere die These, dass die Höhlenbilder von Lascaux von Schamanen in Trance oder nach der Trance als Erinnerung gemalt seien, für Evolutionsbiologen inakzeptabel, da es sich bei Schamanen in der Regel um psychotische Individuen handelt, die mithin besonders ungeeignet sind, #ausführen, dann die These von Whitley. Hierzu den Film von Herzog über Chauvet.: 1994 entdeckt, 35.000 Jahre alt, ca. 500 teils gemalte, teils geritzte Bilder.#

Eine dritte Richtung: kunsthistorisch #ausführen: Leroi-Gourhan' Vielleicht ist die Lösung aber auch viel einfacher, wie der Hamburger Germanist Thomas Zabka in einem humoristischen Gedicht zu bedenken gibt (5.1.3).

Einen Schriftcharakter kann man diesen Bildern freilich noch nicht zusprechen. Hierfür müssen erst die im Folgenden thematisierten Merkmale hinzu kommen. Wie wir aber sehen werden, evoziert auch die Frage, was die Erfindung der Schrift motiviert haben mag, einen ähnlichen Richtungsstreit der Spekulationen.

5.1 Vorstufen der Schrift I: Höhlenbilder5.1 石器时代的文字雏形I: 洞穴壁画
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