Peter Matussek

Medienästhetik der Schrift

7. Die griechische Schriftrevolution

7.4.5 Die mehrfach hypoleptische Struktur

"Der ausgebettete, 'situationsabstrakt' gewordene und sozusagen schutzlos jedem Missverständnis und jeder Ablehnung ausgelieferte Text bedarf eines neuen Rahmens, der diesen Verlust an situativer Determination kompensiert. [...] Im Falle der Literatur ist es der Text selbst, der dadurch an Selbständigkeit gewinnt, dass er seine eigenen situativen Rahmenbedingungen in sich aufnimmt und explizit macht." (Assmann 1992, S. 284 f.)

7.4.5 Die mehrfach hypoleptische Struktur

Das griechische Wort "hypólepsis" bedeutet "Antwort". Es fand ursprünglich Verwendung in Rhapsodenwettkämpfen, bei denen die Regel galt, dass ein Rhapsode in seiner Homer-Rezitation genau da weitermachen musste, wo ein anderer aufgehört hatte. In diesem Sinne wurde das Wort auch in der Rhetorik gebraucht.

Jan Assmann (1992) erweitert dieses Wort zum Terminus für einen bestimmten Typ von Intertextualität, der dadurch charakterisiert ist, dass ein Text sich auf seinen Vorläufertext bezieht und dabei die eigene Textualität als solche thematisiert. Eben dies ist nach Assmann typisch für die frühen Texte der griechischen Antike. Der Anlass hierfür ist darin zu sehen, dass die Ersetzung der oralen Ãœberlieferung durch die literale die Erfahrung eines Mangels mit sich brachte. An die Stelle der Unmittelbarkeit mündlicher Rede tritt die Anonymität schriftlicher Kommunikation.

Ohne dass Assmann näher auf Platons Phaidros eingeht, können wir doch feststellen, dass sein Begriff der Hypolepse hier geradezu paradigmatisch zur Anwendung kommt: Schon die ausführliche Schilderung zu Beginn des Dialogs, wie Sokrates auf Phaidros trifft, die Schrift des Lysias bei ihm entdeckt und beide dann umständlich einen geeigneten Ort für die Lektüre suchen, rückt die situativen Rahmenbedingungen des Dialoginhalts ins Bewusstsein. Insbesondere aber die verschachtelte Struktur der Mythenstelle, die die Erfindung der Schrift als Dialog im Dialog thematisiert, und damit den Leser dafür sensibilisiert, dass er den Untersuchungsgegenstand nicht unmittelbar, sondern als verschriftlichten vor sich hat, ist hypoleptischer Natur.

Das für die antiken griechischen Schriftsteller charakteristische Verfahren der Hypolepse wird in der Mythenstelle von Platon auf die Spitze getrieben: Das Für und Wider der Schrift (literal) wird durch ein Gespräch (oral) relativiert, über das wiederum nur vom Hörensagen berichtet wird (oral'), was wiederum von Platon aufgeschrieben wurde (literal') und dadurch zu uns gelangt (literal'').

7.4.5 Die mehrfach hypoleptische Struktur der Mythenstelle写作
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