Peter Matussek

Medienästhetik der Schrift

5. Ursprünge der Schrift

5.5 Zeichen mit (mutmaßlicher) Schriftfunktion: Jiahu und Vinča


Jiahu-"Schrift" (贾湖契刻符号): um 6600 v. Chr.

Quelle: Nature, April 28 (2003). Wikimedia Commons


Vinča-"Schrift": um 5300 v. Chr.

Quelle: Haarmann (1990), S. 71 u. 76f.

 



Quelle: www. mapartist.com
Abb. PM, unter Verwendung der Karte aus www.atlantis-schoppe.de

 

5.5 Zeichen mit (mutmaßlicher) Schriftfunktion: Jiahu und Vinča

Nach einer geläufigen, bis in die Römerzeit zurückreichenden, These wurde die Schrift in den Hochkulturen des östlichen Mittelmeerraums (Mesopotamien und Ägypten) erfunden. Der lateinische Spruch: "ex oriente lux" – "aus dem Osten (von Rom aus gesehen) das Licht" –, der zunächst die Erleuchtung durch das Christentum meinte, wurde Anfang des 19. Jahrhunderts umgedeutet und auf die Vorläuferrolle des Orients bei der Entwicklung der Schrift und Philosophie bezogen.

Dass die ältesten Schriftsyteme in Ägypten und Mesopotamien entwickelt worden seien, gilt heute als fraglich.

So entdeckten Archäologen 1962 in Zentralchina Ritzzeichnungen auf Schildkrötenpanzern und Flöten aus der neolithischen Jiahu-Zivilisation (ca. 7000 bis 5800 v. Chr.), die Schriftcharakter aufweisen und die den viel später entstandenen chinesischen Schriftzeichen – u.a. für Auge (目) und Sonne (日) – erstaunlich ähnlich sind.

Ebenfalls deutlich älter sind die schriftartigen Zeichen der Vinča- Kultur (ca. 5400 – 4500 v. Chr.) in der Region des heutigen Serbien und angrenzenden Gebieten von Bulgarien und Rumänien. Herkömmlich werden die Überreste dieser Kultur als "'Alteuropa" bezeichnet. Da sie entlang der Donau siedelte, spricht Harald Haarmann auch von "Donauszivilisation" (s. Video). Die Zeichen befinden sich auf Objekten (Tonstatuetten, Tontafeln, Lochspindeln), die offenbar Kultfunktion hatten, da sie ausschließlich an entsprechenden Stellen gefunden wurden (Kultstätten, Weiheplätze in Häusern). Derartige Beschriftungen von Kultobjekten sind typisch für Votivgaben, d.h. für Dankopfer an Gottheiten für Rettung aus Not.

Dass es sich um Schriftzeichen handelt und nicht etwa nur um Ornamente, lässt sich aus zwei Kriterien ableiten:
1. Die Zeichen treten mehrfach auf (andernfalls würde es keinen Sinn machen, sie als Schrift zu verwenden).
2. Es gibt einen relativ eng begrenzten Zeichenvorrat (sonst wäre es zu schwer, solch ene Schrift zu lernen). 

Die These, dass es sich bei den Zeichen auf den Kultobjekten der Vinča um Schrift handelt, geht auf Harald Haarmann (1990#Link!#) zurück. Kritiker seiner These verweisen u.a. darauf, dass das Kriterium (1) nur für rund 15% der Zeichen dokumentiert ist – was natürlich auch daran liegen kann, dass zu wenige Fundstücke vorliegen. Auch die Tatsache, dass die Zeichen offenbar nicht der zwischenmenschlichen Kommunikation dienten, sondern ausschließlich an Götter adressiert waren, provoziert Skepsis: Warum sollten es die Angehörigen der Vinča-Kultur für nötig befunden haben, mit Göttern in schriftliche Kommunikation zu treten, statt Bildzeichen wie die Höhlenmaler zu verwenden? Haarmann hat darauf allerdings eine bedenkenswerte Antwort (s. Video): Da die Völker der Donauzivilisation unter dem Trauma der Sintflut stünden, die sie von ihren angestammten Siedlungsorten in den ca. 6.700 v. Chr. überfluteten Randgebieten des Schwarzen Meers vertrieben habe, seien sie darauf bedacht gewesen, ihre Rituale mit größtmöglicher Präzision zu vollziehen. Um also die Schutzkommunikation mit den Göttern möglichst exakt zu memorieren und zu vollziehen, sei man von der Mehrdeutigkeit der Bilder zur größeren Eindeutigkeit der Schrift übergegangen.

Auch bei den Ägyptern gibt es offenbar Zeichen, die  nur als Lektüre für Götter gedacht waren: an der Spitze von Obelisken, wo kein Mensch sie lesen konnte.

5.5 Zeichen mit (mutmaßlicher) Schriftfunktion: Jiahu undVinca5.5 (可能)具有文字功能的符号:贾湖契刻符号和温查契刻符号
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