Peter Matussek

Medienästhetik des Klangs

2. Psychologie des Hörens

2.2.4.3 Auditive Mémoire Involontaire

Auditive Mémoire Involontaire
(M. Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, 1927)

C. Franck: Violin Sonata (Perlman, Argerich); ©EMI.

Wie wenn in einer Landschaft, die man nicht zu kennen meint, in die man aber tatsächlich nur von einer anderen Seite her gelangt ist, sich plötzlich nach einer weiteren Biegung des Weges ein neuer auftut, [...] so bemerkte ich, wie ich mich plötzlich inmitten dieser für mich neuen Musik in der Sonate von Vinteuil befand; wunderbarer aber noch als eine Fee trat die kleine Weise mir entgegen, [...] um und um von blitzenden, leichten schleierzarten Klängen überrieselt und dennoch wiederzuerkennen unter ihrem neuen Glanz.[...] schien sie sich in einem schweren, dörflichen, beinahe bäuerlichen Glück zu vollenden, in dem das Schwingen entfesselt hallender Glocken (ähnlich dem, das flammengleich den Kirchplatz von Combray erfüllt und das Vinteuil, der es sicherlich oft gehört, vielleicht in diesem Augenblick in seinem Gedächtnis gefunden hatte wie eine Farbe, die man auf der Palette unmittelbar vor sich hat) zu intensivster Freude sich zu verstofflichen schien." (Proust 1927, 3084—3086)


Vorgeschichte:

Vielmehr blieb mir die Sonate auch noch dann, als ich sie von Anfang bis zu Ende angehört hatte, als Ganzes unsichtbar wie ein Bauwerk, von dem man wegen des Nebels oder der großen Entfernung nur einzelne Partien undeutlich wahrnehmen kann. Daher heftet sich dann eine gewisse Schwermut an die Kenntnis solcher Werke wie an alles, was zu seinem Zustandekommen an die Zeit gebunden ist. Als die Sonate von Vinteuil mir ihr verborgenstes Inneres entdeckte, begann, von der Gewohnheit schon aus dem Bereich meiner Empfänglichkeit entrückt, was ich zuerst daran mit Bewußtsein gleichsam bevorzugt festgestellt hatte, mir bereits zu entschwinden, zu entfliehen. Da ich nur nach und nach hatte lieben können, was diese Sonate mir brachte, besaß ich sie niemals ganz: darin glich sie dem Leben. (Proust 1927: 699)




2.2.4.3 Auditive 'Mémoire Involontaire'

Der Terminus Mémoire Involontaire (frz. für unwillkürliche Erinnerung) geht auf Marcel Proust zurück, dessen Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (1913) auf über 3000 Seiten subtil entfaltet, wie einzelne Sinnesreize in bestimmten Kontexten über Analogiebeziehungen zu ähnlichen Sinnesreizen verschüttete Episoden der eigenen Lebensgeschichte spontan ins Bewusstsein rufen und zu einer intensiven Selbsterfahrung führen können.

Wie oben bereits gesagt, beruhen autobiographische Erinnerungen zu einem erheblichen Anteil auf Phantasien, die unter entsprechenden evokatorischen Anlässen eine Chance bekommen, Aspekte der eigenen Lebensgeschichte neu zu imaginieren. Demzufolge ist es nicht die Genauigkeit, sondern just die Vagheit einer vergessenen früheren Wahrnehmung, was die Intensität des Erinnerungserlebens erhöht (vgl. Bartlett 1932). Voraussetzung hierfür ist ein sensorischer Stimulus, der einen "stimmungskongruenten Abruf" ermöglicht (Bower 1992).

So ist es auch im Fall der auditiven Erinnerung nicht das Klangmaterial als solches, das Erinnerungen auslöst. Vielmehr muss die klangliche Reminiszenz in einen stimmungskongruenten biographischen Kontext geraten, um einen entsprechenden Effekt zu haben.

Bei Goethes Faust war diese Stimmungskongruenz dadurch gegeben, dass im Moment seines Selbsttötungsversuchs höchst empfänglich ist für den Erinnerungsauslöser der österlichen Kirchenmusik. Denn diese trifft auf seine akute Sehnsucht nach Wiedergeburt und kann über die auditive Analogie zu dem lange vergessenen "Klang", an den er "von Jugend auf gewöhnt" war, eine Mémoire Involontaire auslösen, die ihn "mit kindlichem Gefühle" überwältigt.

In Prousts Roman gibt es neben olfaktorisch (von lat. olfacere = riechen), visuell und motorisch ausgelösten Episoden von unwillkürlicher Erinnerung auch solche auditiver Art. Eine von ihnen ist in den beiden Romanauszügen wiedergegeben: das erste Hören einer Violinsonate – der "Sonate von Vinteuil", die zwar fiktiv, aber musikalisch angelehnt ist an César Francks Violinsonate A-Dur. Deren Mémoire Involontaire erfolgt bezeichnenderweise beim Hören eines anderen Musikstücks.

2.2.4.3 Auditive 'Mémoire Involontaire'2.2.4.3 Auditive 'Mémoire Involontaire'
SprechblaseSprechblase
Fragezeichen