Peter Matussek

Sinnesstille. Zur Naturlyrik des "vorkritischen" Goethe.

 


Vortrag m. Multimedia-Präsentation 26.3.2006, Universität Kyoto.

Japan. Publikation im Druck.

 

     
 

Der Begründer der Neuen Phänomenologie, Hermann Schmitz, rückt anläßlich einer Erläuterung des für ihn zentralen Begriffs der "implantierenden Situation" Goethes Gedicht Über allen Gipfeln ist Ruh ... in die Nähe der Haiku-Lyrik. Das von Schmitz nur beiläufig Konstellierte erweist sich bei näherem Hinsehen als aufschlußreich für das Verständnis der Naturlyrik aus Goethes erstem Weimarer Jahrzehnt. Denn es ist in der Tat die Haiku-Tradition, an der wir unseren Blick für manche Eigenheiten der lyrischen Sprache Goethes in jener Werkphase schulen können – einer Werkphase, die ich als 'vorkritisch' bezeichne, da sie noch nicht unter dem Einfluß der kritischen Philosophie Kants steht und daher noch frei ist vom didaktisierenden Zug transzendentaler Subjektivität. Der japanische Blick auf den 'vorkritischen' Goethe ist nicht nur von philologischem Interesse. Er zeigt uns, sehr viel weiter reichend, die Möglichkeit eines Sprechens über Phänomene, bei dem es kein die Erfahrung begleitendes und in seine Gewalt bringendes 'Ich denke' zu geben scheint.

Im folgenden werde ich, ausgehend von Hermann Schmitz' Begriff der "implantierenden Situation", deren lyrische Entsprechung in der Haiku-Tradition aufzeigen, wobei ich mich auf Yoshito Takahashis grundlegenden Aufsatz über Japanische Lyrik: das Haiku und die lebendige Leerheit [1] stütze, um anschließend die Fruchtbarkeit dieser konstellativen Herangehensweise für ein erweitertes Verständnis der 'vorkritischen' Naturlyrik Goethes zu dokumentieren. [2]

Unter einer "implantierenden Situation" versteht Hermann Schmitz eine Situation, in die zwei Menschen "hineinwachsen" (von lateinisch: implantare) können. Und das können sie nur, schreibt Schmitz,

"wenn diese gemeinsame, implantierende Situation hinlänglich schmiegsam und nicht durch Zersetzung eines beträchtlichen Teiles ihrer Bedeutsamkeit in einzelne Bedeutungen spröde geworden ist. Auch eine lebendige Freundschaft kann nur durch die Binnendiffusion der Bedeutsamkeit einer gemeinsamen zuständlichen Situation bestehen. Freunde helfen einander bei großen und kleinen Problemen; dieser Programmgehalt gehört wesentlich in jene Bedeutsamkeit, aber er darf nicht zu sehr in Gestalt detaillierter einzelner Programme aus ihr hervortreten, denn dann würde die Freundschaft berechnend und wäre auch keine mehr. Viele zarte persönliche Verhältnisse sind an Binnendiffusion der Bedeutsamkeit gemeinsamer Situationen gebunden." [3]

Als Beispiel erwähnt Schmitz einen Briefwechsel zwischen Hegel und seiner Verlobten. Diese war im Sommer 1811 in Zweifel geraten ob er sie liebe und bat ihn aus der Ferne um schriftliche Auskunft über seine Gefühle. Hegel fiel die Antwort nicht leicht. Er schrieb ihr zurück:

"Noch dies, ich war lange zweifelhaft, ob ich an Dich schreiben sollte, weil alles, was man schreibt und spricht, wieder allein von der Erklärung abhängt oder weil ich sie fürchtete, da sie so gefährlich ist, wenn es sich einmal hergeführt hat zu erklären; – aber ich habe auch diese Furcht überwunden und hoffe alles von Deinem Gemüte, wie es dieses Geschriebene empfängt." [4]

Hegel entzog sich der Erklärung seiner Liebe nicht, weil es ihm an Zärtlichkeit mangelte, sondern weil er fürchtete, diese Zärtlichkeit durch Erklärung zu zersetzen. Er reagierte also im Sinne eines Erhalts dessen, was Hermann Schmitz die "Binnendiffusion implantierender Situationen" nennt. Dichtung aber kann, Schmitz zufolge, erklären, was sich nicht erklären läßt; und in diesem Zusammenhang kommt er auf jene Konstellation zu sprechen, um die es mir hier geht:

"Poesie kann man definieren [als] eine geschickte Sparsamkeit der Rede, wodurch Situationen [...] nur so schonend expliziert werden, daß diese […] durch das dünne Netz des Gesagten in ungebrochener Ganzheit durchscheinen. Für die Lyrik (Haiku usw.) wird das unmittelbar einleuchten; in Goethes Kurzgedicht Über allen Gipfeln ist Ruh usw. ist der Sparzwang so groß, daß schon das Ausschreiben des letzten Wortes der zweiten Zeile – 'Ruhe' statt 'Ruh' – den lyrischen Effekt des vielsagenden Eindrucks zerstören müßte." [5]

In der Tat: Würde die erste Zeile "Über allen Gipfeln ist Ruhe" heißen, wäre der lyrische Ausdruck schlagartig dahin. Aus einem Vers, der ein atmosphärisches Bild einfängt, würde ein feststellender Satz. Durch die Auslassung des "e" verwandelt sich der Sachverhalt der "Ruhe" in den Ausdruck seiner leiblichen Erfahrung. "Ruh" beschreibt nicht einen Zustand, sondern ist das Wortgeräusch entlasteten Ausatmens, ist jener "Hauch", der sich am Ende reimt auf "auch".

Sparsamkeit der Rede ist freilich nur ein Kriterium für Haiku-Lyrik. Takahashi nennt weitere, die ebenso charakteristisch sind: die Vermeidung abstrakter Wörter und metaphorischer Ausdrücke (auch und gerade für Gefühlszustände), eine nüchtern-lapidare Sprache von dinghafter Bildlichkeit sowie eine nicht vokative, sondern evokative Ausdruckshaltung, die in der Regel dadurch zustande kommt, daß zwei Elemente über eine Zäsur hinweg zueinander in Beziehung gesetzt werden, ohne diese Beziehung selbst auszusprechen – eine kombinatorische Leerstelle, die eine mentale Bewegung im Rezipienten veranlaßt. [6]

Takahashi weist zu Recht darauf hin, daß diese Merkmale eher untypisch für deutsche Lyrik sind – selbst dort, wie sie als Haiku intendiert ist. [7] Umso bemerkenswerter ist es, wenn wir feststellen, daß der von japanischen Einflüssen gänzlich unberührte Goethe des ersten Weimarer Jahrzehnts    den genannten Merkmalen ungewöhnlich nahe kommt. Sein Nachtlied enthält keinerlei Abstrakta, das Gefühl des Wanderers und die Abendstimmung werden nicht benannt, sondern kommen in drei schlicht feststellenden Naturbeobachtungen zum Ausdruck:

Über allen Gipfeln

Ist Ruh.

In allen Wipfeln

Spürest du

Kaum einen Hauch;

Die Vögelein schweigen im Walde.

Und nach der durch diesen zweiten Punkt gesetzten Zäsur wechselt die Perspektive vom Beobachteten auf den Beobachter, der nun ebenso schlicht als zur Ruhe kommendes Dasein angesprochen wird:

Warte nur, balde

Ruhest du auch.

Freilich bringt dieser Schlußsatz einen Bedeutungshof ins Spiel, der mehr ausdrückt als an Ort und Stelle gesagt ist. Der Wanderer sagt zu sich, daß er bald ebenso schlafen wird wie die Vögel des Waldes; aber gerade dadurch, daß er den Vergleich zieht, spricht er implizit auch den Kontrast zwischen natürlicher und menschlicher Sphäre an – das Moment der Selbstreflexion, durch das die Nachtruhe einen höheren Sinn bekommt: Eingedenken des Todes als nicht nur naturzyklischer, sondern ewiger Frieden des seinen Tod antizipierenden Subjekts.

Wegen der für ein deutsches Gedicht ungewöhnlichen Nähe zur Haiku-Lyrik könnte man annehmen, daß es bei Japanern besser ankommt als in der Heimat des Autors. Nun hat aber eine große Umfrage im Goethejahr 1982 ergeben, daß just diese Verse von den meisten Deutschen als ihr "liebstes Gedicht" genannt wurden. [8] Haben wir Deutschen also eine japanische Seele? Selbst wenn wir uns dessen rühmen könnten, bedarf es doch einer innerkulturellen Erklärung, warum gerade das "japanischste" Gedicht Goethes bei uns auf soviel Einvernehmen stößt. Diese Erklärung möchte ich im folgenden zu geben versuchen.

Einen ersten Zugang finden wir in den Lebensumständen Goethes jener Zeit. Als er am 6. September 1780 das Nachtlied mit Bleistift an die Bretterwand des ehemaligen Jagdhäuschens auf dem Kickelhahn schrieb, waren Zustände der Ruhe äußerst selten für ihn. Überhäuft mit Ämtern und Verpflichtungen in der Politik, getrieben auch durch selbstauferlegte Kunstproduktionen und Naturstudien, und stets aufgerührt durch eine Liebessehnsucht ohne partnerschaftliche Erfüllung, floh er regelrecht in die Einsamkeit der Natur.

Die fernab vom Getriebe gelegene Hütte auf dem Kickelhahn war ein hierfür besonders geeignetes Refugium. Das mag erklären helfen, warum sein Nachtlied einen derart stimmigen Eindruck der Ruhe vermitteln kann. Denn es ist ganz offensichtlich aus dem konkreten Erleben eines jener seltenen Momente heraus geschaffen, in denen Goethe den Rückzug in die Stille genießen konnte. Es handelt sich somit um ein Gelegenheitsgedicht [9] , das – nach einer späteren Bemerkung Goethes – "die erste und echteste aller Dichtarten" [10] ist, "weil etwas Flüchtiges, Lebendiges der Dichtung höchst willkommen sein muß" [11] .

Dennoch – oder gerade deshalb – ist dieses aus einem ephemeren Moment hervorgegangene Gedicht Goethes sein Beständigstes geworden, das sich am tiefsten in das lyrische Gedächtnis der Deutschen eingeschrieben hat. Aber nicht nur der Deutschen: Die Bleistiftspur, die 1870 mit der Hütte einem Brand zum Opfer fiel, war dank eines medienhistorischen Zufalls kurz vorher fotografiert worden und hing bald darauf wieder an der Bretterwand eines Nachbaus, der heute längst zum Wallfahrtsort für Goetheliebhaber aus aller Welt geworden ist.

Um die Fotografie herum zeugen zahlreiche Übersetzungsbeispiele von einem weiteren Charakteristikum der Verse: der Unabhängigkeit ihrer poetischen Wirkung vom jeweiligen Sprachklang. Diese Beobachtung deckt sich mit der Aussage des Gedichts. Denn es besagt ja gerade, daß es nichts zu hören gibt – oder genauer: daß es die Stille ist, die vom Wanderer gehört wird. Er registriert – zunächst an der Unbewegtheit des Himmels, dann am geräuschlosen Windhauch und schließlich am Ausbleiben der Vogelstimmen – eine Schweigsamkeit der Natur, die als "lebendige Leerheit" im Sinne Takahashis begriffen werden kann, und die sich mehr über die Bildlichkeit als über die phonetische Sprache vermittelt. Diese Bildlichkeit möchte ich im folgenden näher betrachten. Dabei werde ich zunächst auf ihre ästhetisch-theoretischen und anschließend auf ihre naturwissenschaftlichen Implikationen eingehen.

Was poetologisch zunächst im Vergleich mit Goethegedichten aus der späteren Zeit ins Auge fällt, ist die Abwesenheit symbolischer Ausdrücke. Es werden schlicht drei Feststellungen über Naturerscheinungen getroffen und ein künftiges Faktum vorausgesagt – ohne Verweis auf einen höheren Sinn, der das von den Sinnen Aufgenommene gleichnishaft oder bildsprachlich transzendieren würde. Elizabeth Wilkinson schreibt dazu: "There is not a simile, not a metaphor, not a symbol." [12] Ich stimme dem zu, allerdings mit einer Einschränkung: Zwar können wir hier nicht von einer Symbolik im klassischen Verständnis Goethes sprechen, das von einer Repräsentation des Allgemeinen durch das Besondere ausgeht, wohl aber von einer Symbolik, die im Besonderen einen tieferen Sinn offenbart. Dieser für das Verständnis der 'vorkritischen' Naturlyrik Goethes wichtige Unterschied bedarf einiger Erläuterungssätze.

Was Goethe unter einem Symbol versteht, hat er in einer berühmten Formulierung aus Über Kunst und Altertum festgehalten:

"Das ist die wahre Symbolik, wo das Besondere das Allgemeinere repräsentiert, nicht als Traum und Schatten, sondern als lebendig-augenblickliche Offenbarung des Unerforschlichen." [13]

Der Begriff der Repräsentation zeigt ein Stellvertreterverhältnis an, das mit dem Anspruch einer "lebendig-augenblickliche[n] Offenbarung des Unerforschlichen" insofern kollidiert, als immer schon ein repräsentiertes Allgemeines vorausgesetzt wird, statt sein Aufscheinen einer unwillkürlichen Semiose zu überlassen. Für diese apriorische Setzung Goethes läßt sich ein präziser Grund angeben: Während seines Frankfurt-Aufenthaltes im Sommer 1797 macht er sich Gedanken darüber, ob die modernen Lebensverhältnisse überhaupt noch symbolisch zur Darstellung gebracht werden können, da in ihnen das Besondere nicht mehr unbedingt als Veranschaulichung eines Allgemeinen gelten kann. [14] So registriert er z.B. die kapitalistische Merkwürdigkeit, daß sein Elternhaus nach dem Abriß aufgrund von Bodenspekulationen einen sehr viel höheren Preis erzielte als es materialiter im unversehrten Zustand wert war. Nur durch Vermittlung einer Abstraktion also – hier: des Marktgesetzes von Angebot und Nachfrage –, nicht in der bloßen Anschauung wäre ein solcher Zusammenhang einsichtig zu machen. Goethes Lösung für dieses Problem besteht nun gleichwohl nicht in der Preisgabe des Anspruchs auf symbolische Kunst, sondern in einer Symboldefinition, die jene Abstraktionsverhältnisse in sich aufzunehmen vermag. In seinem Briefwechsel an Schiller vom 9.8.1797 schreibt Goethe über sein neues Verständnis "symbolischer Gegenstände", es handle sich um

"eminente Fälle, die, in einer charakteristischen Mannigfaltigkeit, als Repräsentanten von vielen andern dastehen [und] eine gewisse Totalität in sich schließen" [15] .

Damit aber degradiert er das Besondere zum Exemplum ("charakteristische Mannigfaltigkeit") eines Repräsentationszusammenhanges, das nicht mehr von sich aus auf höhere Bedeutungen verweist, sondern hierfür kontextueller Hilfskonstruktionen ("Repräsentanten von vielen anderen") bedarf.

Von solchen Hilfskonstruktionen – die erst da ins Spiel kommen, wo zwischen einer nichtartifiziellen "ersten Natur" und einer "zweiten Natur" gesellschaftlich geformter Lebensbedingungen unterschieden wird – ist Wandrers Nachtlied gänzlich frei. Seine drei Feststellungen über die Unbewegtheit des Himmels, die Windstille in den Bäumen und das Schweigen der Vögel besagen genau das, was gesagt wird, nichts weiter. Sie sind keine Repräsentanten von etwas, stehen nicht für anderes, sondern allein für sich selbst.

Der Satz nach der Zäsur freilich – "Warte nur, balde/ Ruhest du auch" – weist dann doch über sich hinaus. Das buchstäblich Ausgesagte – daß der Wanderer in Bälde ebenfalls schlafen wird – produziert in der Konstellation mit dem zuvor Gesagten zwei allgemeinere Bedeutungen: Zum einen wird darauf angespielt, daß der Mensch in die Naturvorgänge eingereiht ist, deren Nachtruhe er als Modell für seine  eigene nimmt; zum anderen darauf, daß die "Ruhe" des Menschen in ihrer Vollendung die "ewige Ruhe" des Todes antizipiert. Diese beiden, sich selbst transzendierenden Aussagen geben Anlaß, hier eben doch von einer Symbolik zu sprechen – allerdings von einer Symbolik, die sich von Goethes klassischer Konzeption unterscheidet. Die Ruhe im Walde repräsentiert nicht die Nachtruhe des Menschen, und die Nachtruhe des Menschen repräsentiert nicht das Ende aller irdischen Betriebsamkeit. Beide Male handelt es sich nicht um eine Synekdoche, bei der – im Modus pars pro toto – das Besondere ein Allgemeines vertritt, [16] sondern um Metonymien, die die Bedeutunghöfe des Besonderen assoziativ auf Allgemeineres hin verschieben.

Die beiden Termini Synekdoche und Metonymie, die ich hiermit zur Kennzeichnung unterschiedlicher Symboltypen heranziehe, haben ihre systematische Grundlage in der Sprachtheorie Roman Jakobsons. Dieser zufolge ist die Metonymie eine durch "Kontiguität", also durch assoziative, reihenartige Verschiebung hergestellte Erweiterung einer Wortbedeutung, wobei Signifikant und Signifikat aneinander gebunden bleiben. Die Metapher hingegen läßt nach Jakobson den Signifikanten im Sinne einer Repräsentationsbeziehung für ein von ihm abgehobenes Signifikat eintreten. [17]

Die Symbolik in Wandrers Nachtlied ist demnach nicht synekdochischer oder metaphorischer, sondern metonymischer Art: Von den "Gipfeln" verschiebt sich die Wortbedeutung durch die Kontiguität des sich senkenden Blicks zu den "Wipfeln", an die sich wiederum metonymisch   der "Wald" anreiht sowie die "Vögelein", deren "Schweigen" wiederum die Bedeutungsverschiebung zu "Ruhe" evoziert, an die sich der Gedanke an den eigenen Nachtschlaf anschließt, zugleich aber auch an die Sehnsucht nach ewigem Frieden. All diese Übergange vollziehen sich hier zwanglos, nahezu übergangslos – getragen von einer unwillkürlich nachvollziehbaren Blickbewegung sowie von subtilen Lautverschiebungen ("Gipfeln–Wipfeln", "Wipfeln–Walde", "Vögelein–Schweigen").

Diese metonymische Symbolik unterscheidet sich also von der durch Repräsentationsverhältnisse charakterisierten synekdochischen Symbolik Goethes, die er erst in der klassischen Phase konzipiert. Wandrers Nachtlied  ist dabei kein Einzelfall. Vielmehr läßt sich zeigen, daß nahezu alle Naturgedichte Goethes in dieser Phase seines Lebens metonymische Symbole verwenden.

Diese Phase beginnt mit Goethes Wechsel von Frankfurt nach Weimar. Die tiefe Zäsur, die dieser Wechsel für sein Leben und Dichten bedeutete, ist dem Gedicht Auf dem See abzulesen, das Goethe am 15. Juni während seiner ersten Schweizer Reise in sein Tagebuch schrieb. [18] Es beginnt im Duktus des Sturm und Drang, mit einer Metaphorik, die für das genialische Naturgefühl dieser Schaffensperiode kennzeichnend ist: "Ich saug an meiner Nabelschnur/ Nun Nahrung aus der Welt." Nach dem achten Vers kommt eine Zäsur, die das extrovertierte Geniegebaren plötzlich  in eine melancholische Introversion umkippen läßt:  "Aug mein Aug, was sinkst du nieder?/ Goldne Träume, kommt ihr wieder?" Der plötzliche Stimmungsumschwung in diesem autobiographisch angelegten Gedicht gilt der ungeklärten Beziehung zu Lili Schönemann, mit der sich Goethe vor kurzem verlobt hatte. Bald darauf schon waren ihm Zweifel an diesem Schritt gekommen. Zur gleichen Zeit erhielt er die Einladung nach Weimar. Goethe war also in einer doppelten Entscheidungskrise. Und wie er sich schließlich entschied, das können wir geradezu paradigmatisch den folgenden Versen entnehmen: Mit einer ruckartigen Geste schiebt das lyrische Ich die Sehnsucht nach einer Paarbeziehung beiseite und verschreibt sich einer selbstbestimmten Geistesgegenwart: "Weg, du Traum, so gold du bist,/ Hier auch Lieb und Leben ist." Die darauf folgenden Verse künden von der neuen Daseinsbestimmung und bringen eine völlig veränderte Wahrnehmungsweise mit sich, die sich auch im Wechsel des Metrums vom Jambus des Anfangs zum Trochäus äußert: Statt über die metaphorische "Nabelschnur" eine abstrakte "Welt" in sich aufzunehmen, tritt der Dichter nun in einen zunehmend sich konkretisierenden Kontakt mit den ihn umgebenden Naturerscheinungen – und zwar als metonymische Reihung von "blinken" über "Sterne", "Nebel", "Morgenwind", "Bucht", "See", "Frucht". Von der "Ferne" rücken die Phänomene immer näher an das Subjekt heran, bis dieses schließlich ein Bild vor sich hat, in dem es den eigenen Zustand wiedererkennt: "Und im See bespiegelt/ Sich die reifende Frucht."

In diesem einen Gedicht also ist Goethes Übergang von der Geniepoetik zur metonymischen Symbolik des ersten Weimarer Jahrzehnts prozeßhaft eingeschrieben. Ähnlich wie später in Wandrers Nachtlied stehen die Phänomene am Ende von Auf dem See erstmals für sich selbst; und ähnlich wie dort vollzieht sich hier ganz unmerklich und zwanglos die Blickbewegung hin zum Subjekt– einem Subjekt, das im Naturbild einer reifenden Frucht, die sich im See bespiegelt, die höhere Bedeutung des eigenen Reflexionsvorgangs anspricht, ohne sie auszusprechen: Auch Goethe hat sich im Zürcher See selbst bespiegelt und für den Reifungsprozeß, als Fürstenerzieher nach Weimar zu gehen, entschieden.

 

So wie sich der Beginn von Goethes metonymischer Symbolik konkret angeben läßt, so auch deren Ende: nämlich mit Bezug auf den Faust-Monolog aus Wald und Höhle. [19]

Wir können nicht mit Sicherheit angeben, wann die Szene geschrieben wurde, sondern nur indirekt aus einer Briefäußerung entnehmen, daß sie wahrscheinlich in Italien ausgearbeitet wurde. Der Ton und die Bildlichkeit allerdings sind deutlich von den Erfahrungen des ersten Weimarer Jahrzehnts durchdrungen: Faust hat sich, ähnlich wie Goethe immer wieder in jenen Jahren, in die Waldeinsamkeit zurückgezogen. Seine Dankesrede an den "erhabenen Geist" gilt offenbar dem Erdgeist, den er in der Osternacht in genialischer Gebärde vergeblich beschwor. Die Formulierung „Du hast mir nicht umsonst / Dein Angesicht im Feuer zugewendet“ (V.1890f) ist eine explizite Reminiszenz an die Beschwörungsszene, wo der Erdgeist Faust "in der Flamme" erschien (nach V. 481). Auch zentrale Vokabeln der Erdgeistbeschwörung werden in Wald und Höhle wieder aufgegriffen: „Kraft“ (V. 462/3221), „fühlen“ (V. 464/3221), „Brust“ (V. 458/3223) „Leben“ (V. 481/3225). Dennoch ist die Naturerfahrung nun der jener Nacht diametral entgegengesetzt. An die Stelle eines unbedingten Einheitsgefühls, das sich als grandioses Mißverständnis entpuppte, ist nun die Empfindung verwandtschaftlicher Vertrautheit getreten: Faust nennt die Naturerscheinungen, die ihm zuvor fremd blieben, nun seine "Brüder" (V. 3226).

Doch nicht der Erdgeist hat sich geändert, sondern Fausts Sichtweise. Der Geist der Natur erscheint ihm nun nicht mehr nicht in allegorischer Personifikation eines Abstraktums, das bloß „bestaunt“ werden kann (V. 3222), sondern er ist wie ein „Freund“ (V. 3224), der sich in konkreten Lebensäußerungen zu erkennen gibt. Auch wenn sich hier ein Anflug von gleichnishafter Rede bemerkbar macht (die "Brust" der Natur ist "wie" der Busen eines Freunds), so ist der Monolog doch grundsätzlich in einem Duktus gehalten, der noch nicht der klassischen Symbolästhetik Goethes entspricht. Wie in Wanderers Nachtlied und Auf dem See sind die Phä­nomene hier nicht Repräsentanten eines Allgemeinen, sondern Einzelmomente einer "Reihe":

"Du führst die Reihe der Lebendigen

Vor mir vorbei, und lehrst mich meine Brüder

Im stillen Busch, in Luft und Wasser kennen." (V. 3225 ff.)

 

Selbst das Wort "Königreich" im Vers "Gabst mir die herrliche Natur zum Königreich" (3220) muß hier nicht gleichnishaft verstanden werden, sondern hat einen doppelten Realitätsbezug: Zum einen impliziert es die geläufige naturwissenschaftliche Terminologie, die Goethe sich in Weimar anzueignen begann, und derzufolge die Natur in drei "Reiche" gegliedert ist. Zum anderen besitzt Goethe über diese Reiche als Minister des Fürstentums, Oberaufseher des Forst- und Bergbauwesens etc. in jener Lebensphase tatsächlich Regierungsgewalt.

Mag man in solchen gleichwohl zur Metaphernbildung neigenden Prägungen auch Vorgriffe auf die synekdochische Symbolik der klassischen Phase sehen, so ist der Monolog insgesamt doch überwiegend noch in einer metonymischen Symbolik gehalten. Die Wendung des Subjekts von der Außen- zur Selbstwahrnehmung geschieht hier noch nicht – wie besonders in den späteren Lehrgedichten – in selbstbestimmter Blickregie, sondern es sind die Naturphänomene und -ereignisse per se, die den Wahrnehmungsvorgang steuern:

"Und wenn der Sturm im Walde braust und knarrt,

Die Riesenfichte stürzend Nachbaräste

Und Nachbarstämme quetschend niederstreift,

Und ihrem Fall dumpf hohl der Hügel donnert,

Dann führst du mich zur sichern Höhle, zeigst

Mich dann mir selbst, und meiner eignen Brust

Geheime tiefe Wunder öffnen sich." (V. 3228–3234)

Die Natur selbst ist es hier, die durch die stürzende Riesenfichte Faust in die Höhle "führt", wo sie ihn dann sich selbst zeigt, und seine eigene Brust ihm als Erkundungshöhle offensteht.

Und wenn Faust schließlich im besänftigenden Mondlicht von „Felsenwänden, aus dem feuchten Busch / Der Vorwelt silberne Gestalten“ "schweben" sieht (V. 3237 f.), ist auch dieses Bild eines Blicks in die frühe Naturgeschichte durchaus noch konkret zu nennen, denn es handelt sich um den Silberglanz der Granitfelsen, wie sie Goethe auf seinen Wanderungen durch den Harz und um Ilmenau zu erforschen begann.

Auch wenn der Abstraktionsgrad hier wesentlich höher ist als bei unserem zentralen Beispiel des Nachtlieds, so sind es doch immer noch metonymische Übergänge, mit denen Mensch und Natur in Beziehung gesetzt werden. Auf semantischer Ebene zeigt sich das im Verfahren der Wortvariation, das in reihenartigen Verschiebungen von einer Wortbedeutung zur nächsten hinübergleitet ("gabst... zugewendet ... Gabst ... erlaubst ... Vergönnest ... führst ... lehrst ... führst ... gabst ... Gaben"; „Angesicht … schauen …  lehrst ... zeigst ... Blick … Betrachtung … Bild“). Syntaktisch sind die Glieder dieser Variationsketten durch eine sequenzielle Struktur verbunden, die mit den Konjunktionen "und" und "dann" sowie repetitiven Fügungen ("Gabst mir, gabst mir alles ... Gabst mir ..."; "sie zu fühlen, zu genießen.") gebildet sind (alle Beispiele aus V. 3217–3248).

Die „Reihe der Lebendigen“ (V. 3225), die Faust auf diese Weise kennenlernt, ist also vernehmbar als eine sprachliche Reihung. Sie hat keine bestimmbaren Grenzen, findet keinen Abschluß in einem repräsentativen Verhältnis von Signifikant und Signifikat, sondern wird kontinuierlich weitergeführt, bis sie sich – im Gestus des schweifend ermüdenden Blicks – allmählich ausblendet: Die im Mondlicht verschwimmenden Konturen „lindern der Betrachtung strenge Lust“ (V. 3239). Faust verzichtet hier auf übergenaue Explikation, auf den strengen Blick eines Analytikers. So findet auch der Monolog aus Wald und Höhle seinen Ruhepunkt in jener Qualität, die Herrmann Schmitz als "Binnendiffusion" bezeichnet.

 

Nachdem ich nun die ästhetischen Merkmale der Naturlyrik Goethes in der Phase von Auf dem See bis Wald und Höhle charakterisiert habe, möchte ich diese ästhetischen Merkmale auf den wissenschaftstheoretischen Hintergrund beziehen, den Goethe in der gleichen Lebensperiode entwickelte.

Goethe bekennt in einem Rückblick auf die Zeit seiner Ankunft in Weimar: „Von dem hingegen, was eigentlich äußere Natur heißt, hatte ich keinen Begriff, und von ihren sogenannten drei Reichen nicht die geringste Kenntnis.“ [20] Das ändert sich in dem Moment, als der Übersiedler durch die beruflichen Aufgaben, die er nun am Fürstenhof übernimmt – unter anderem im Garten- und Bergbau –, mit der zeitgenössischen Naturkunde in Berührung kommt. Er lernt die drei Reiche der mineralia, vegetabilia und animalia, die auch Wanderers Nachtlied gliedern (Berggipfel, Bäume, Vögel), nach Merkmalen unterscheiden und in sich weiter differenzieren.

Die Art und Weise aber, wie er sich mit der naturwissenschaftlichen Terminologie seiner Zeit vertraut macht, ist die eines Ästheten und in ihrem Prozedere ebenso metonymisch wie seine Lyrik. So schildert er den anmutigen Eindruck,

„wenn ein schmucker Land­knabe, im kurzen Westchen, daher­lief, große Bündel von Kräutern und Blumen vor­weisend, sie alle mit Namen, griechischen, lateini­schen, bar­barischen Ursprungs bezeichnend; ein Phänomen, das bei Männern, auch wohl bei Frauen, vielen Anteil erregte.“ [21]

Fausts Monolog in Wald und Höhle beschreibt einen ähnlich gearteten Lernvorgang. Sein Blick ist nicht der eines "kalt staunenden" Taxonomen, sondern er läßt sich durch die Naturerscheinungen "führen", die Abfolge ihren Attraktionskräften überlassend. Seine Rede von der "Reihe der Lebendigen" spielt auf die in den 1780er Jahren immer noch gültige Idee einer "Kette der Wesen" an, legt sie aber anders aus als die naturgeschichtlichen Standardwerke: Sie erscheint nicht als unveränderliche Ordnung, sondern als Kontinuum. So unterscheidet der Monolog zwar die drei Naturreiche voneinander; doch Faust erkennt die Vegetabilia und Animalia "Im stillen Busch, in Luft und Wasser" ebenso wie die Mineralia der "Felsenwände", die ihm von den Geistern der "Vorwelt" beseelt erscheinen, als seine "Brüder". In dieser genealogischen Zusammenschau ist das Interesse des naturforschenden Dichters zu erkennen, über die statischen Klassifikationen, ihr "scharfes […] Absondern" [22] hinauszugelangen, indem er alle Glieder der "Kette der Wesen" als Übergangsformen in einer gemeinsamen Dynamik begreift. Die unterschiedlichen Erscheinungsweisen des Erdgeistes haben allemal Teil an derselben Lebensbewegung, wie sie in Fausts Bedeutungsverschiebungen zum Ausdruck kommt. Ihre "Synonymenvariation" [23] dient nicht nur der objektivierenden Umschreibung, sondern dem performativen Ausdruck einer subjektiv nachvollziehbaren Zeitlichkeit, in der sich Innen- und Außenaspekte zwanglos verbinden. Erst diese Binnendiffusion der Perspektiven ermöglicht die neue Sicht auf die Natur, indem sie Übergänge als Kontinuitäten vorstellig macht, statt an die harten Grenzziehungen der Taxonomie zu stoßen.

Goethe hält dieses Modell für durchaus vereinbar mit wissenschaftlichen Ansprüchen. Ja, er verteidigt in seinem Namen die "mathematische Methode"; sie könne – wie er in dem programmatischen Aufsatz Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt betont – "nicht sorgfältig, emsig, streng, ja pedantisch genug vorgenommen werden". Denn die "Materialien", so fährt er fort, "müssen in Reihen geordnet und niedergelegt sein". [24] Doch "in Reihen" – das heißt für Goethe eben nicht: in einer fixierten Systematik. Anders als Linné, der die wachsende Materialfülle biologischer Entdeckungen durch konsequente Klassifikation einzugrenzen gesucht hatte, setzt er nicht auf eine festgefügte Terminologie, sondern eine, die sich mit ihrem Gegenstand beständig weiterentwickelt:

"Da alles in der Natur, besonders aber die gemeinern Kräfte und Elemente in einer ewigen Wirkung und Gegenwirkung sind, so kann man von einem jeden Phänomene sagen, daß es mit unzähligen andern in Verbindung stehe. […] Die Vermannigfaltigung eines jeden Versuches ist also die eigentliche Pflicht des Naturforschers."

Da nun Goethe zufolge davon auszugehen ist, "daß kein Mensch Fähigkeiten genug habe in irgendeiner Sache abzuschließen", müssen mit den Beobachtungen auch die Begriffe sich fortwährend modifizieren. [25]

Die prinzipielle Unabschließbarkeit der metonymischen Symbolik hat also ihr theoretisches Pendant in einem modifizierten Konzept naturwissenschaftlicher Reihenbildung. Die Naturphänomene werden nicht endgültig erklärt, sondern in einem unendlichen hermeneutischen Prozeß immer wieder neu gedeutet. Die Erwartung freilich, daß damit das Verstehen zunehmend vertieft werde, ist aus diesem Ansatz allein nicht zu rechtfertigen. Er setzt voraus, daß die sprachliche Reihenbildung des Naturforschers und die "Reihe der Lebendigen" korrespondieren. Faust vertraut darauf, daß seine Beobachtungen die Naturvorgänge adäquat wiedergeben.

Will man diese Position auf einen erkenntnistheoretischen Begriff bringen, so bietet sich der des naiven Realismus an, da er durch eine "Einstellung" charakterisiert ist, "in der die Inhalte der Wahrnehmung und das Ansichsein des Wahrgenommenen identifiziert […] werden" [26] . Eben das trifft auf den vorklassischen Goethe zu, der vom Naturforscher verlangt, er solle "die Data der Beurteilung nicht aus sich, sondern aus dem Kreise der Dinge nehmen, die er beobachtet" [27] . Damit grenzt er sich deutlich von der ihm noch unbekannten Position der Kantianer ab, der er sich später dann doch annähern wird. Seine 'vorkritische' Haltung läßt sich mit Bezug auf den Universalienstreit näher bestimmen: Die Allgemeinbegriffe existieren nicht neben den Dingen – seien sie nun ihnen vorgeordnet ("universalia ante rem") oder nachträglich angeheftet ("universalia sunt nomina") –, sondern sie existieren nur zusammen mit den Dingen ("universalia in rebus"). Der ideengeschichtliche Hintergrund seiner Haltung ist Goethe durchaus bewußt. In einer Stellungnahme zum Spinoza-Streit vom 9. Juni 1785 schreibt er an Friedrich Jacobi: "Vergieb mir daß ich so gerne schweige wenn von einem göttlichen Wesen die Rede ist, das ich nur in und aus den rebus singularibus erkenne." Von der Kunst erwartet Goethe entsprechend,

"daß sie die Eigenschaften der Dinge und die Art wie sie bestehen, genau und immer genauer kennen lernt, daß sie die Reihe der Gestalten übersieht und die verschiedenen charakteristischen Formen nebeneinander zu stellen und nachzuahmen weiß." [28]

Goethe verläßt sich hier also auf das Prinzip der Nachahmung, da er die Evidenzgewißheit unterstellt, daß die Natur selbst ihre Gesetzmäßigkeiten offenbart, wenn man sich ihr nur überlaßt. Mit Naivität im umgangssprachlichen Sinne hat dieser Realismus freilich nichts zu tun. Zwar hat Goethe später sich selbst unter dem Einfluß der Etikettierung Schillers, er sei ein "naiver Dichter", dahingehend stilisiert und behauptet, er habe bis zu Kant Subjekt und Objekt "niemals gesondert, und wenn ich nach meiner Weise über die Gegenstände philosophierte, so tat ich es mit unbewußter Naivetät und glaubte wirklich, ich sähe meine Meinungen vor Augen" [29] . Doch die genau abgestufte Verhältnisbestimmung der beiden Seiten der Erkenntnis in den zitierten Texten aus der Zeit vor seiner Rezeption der kritischen Philosophie zeigt, daß er diesbezüglich durchaus zu unterscheiden vermochte. Naiv ist sein erkenntnistheoretischer Standpunkt hier nur insofern zu nennen, als er ihm ein fundamentum in re zuspricht. Auch seine Ästhetik ist in dieser epistemologischen Basis verankert: Für den vorkritischen Goethe "ruht der Stil auf den tiefsten Grundfesten der Erkenntnis, auf dem Wesen der Dinge, insofern uns erlaubt ist, es in sichtbaren und greiflichen Gestalten zu erkennen" [30] .

Goethes Zuversicht in die Möglichkeit einer Wesenserkenntnis der Natur findet ihren deutlichsten Ausdruck in seiner Abhandlung Über den Granit, die viele Parallelen mit Fausts Monolog aufweist. Wie dieser in intimer Zwiesprache dem "erhabnen Geist" für die vergönnte Selbstoffenbarung dankt, so schildert der Granit-Aufsatz "die erhabene Ruhe, die jene einsame stumme Nähe der großen, leise sprechenden Natur gewährt" [31] . Was hier als Bedingung genannt wird: ein Mensch, "der nur den ältesten, ersten, tiefsten Gefühlen der Wahrheit seine Seele eröffnen will" [32] , ist dort eingelöst durch einen Faust, der erfährt, wie seiner "eignen Brust/ Geheime tiefe Wunder (sich) öffnen". Das Subjekt wird – so wiederum der Granit-Aufsatz – in dem "Augenblicke, […] da die Einflüsse des Himmels [es] näher umschweben, […] zu höheren Betrachtungen der Natur hinaufgestimmt" und gelangt vom konkreten Naturphänomen zur Versenkung in geschichtlichen Sinn; die Granitfelsen erscheinen ihm als "Denkmäler der Zeit" [33] . Äquivok "schweben" auch Faust, "von Felsenwänden […] Der Vorwelt silberne Gestalten auf".

Nun ist freilich dieser Zustand einer Binnendiffusion, die das Subjekt mit der Natur in eine implantierende Situation versetzt, nur von kurzer Dauer. Nachdem Faust einen Augenblick der ruhenden Betracherlust, des Schweigens bei offenen Sinnen, genießt – angezeigt durch eine Zäsur im Schriftbild, wo Haikus in der Regel ein Schneidewort einsetzen würden –, fährt sein Monolog mit einem Stimmungsumschwung ganz anders fort:

"O daß dem Menschen nichts Vollkommnes wird,

Empfind' ich nun. Du gabst zu dieser Wonne,

Die mich den Göttern nah und näher bringt,

mir den Gefährten, den ich schon nicht mehr

Entbehren kann, wenn er gleich, kalt und frech,

Mich vor mir selbst erniedrigt, und zu Nichts,

Mit einem Worthauch, deine Gaben wandelt." (V. 3240–3250)

Was hier beschrieben wird, ist nicht nur dem Fortgang der Fausthandlung geschuldet. Wenn Mephisto "mit einem Worthauch" vernichten kann, was Faust erlebt, so bezeichnet das ganz grundsätzlich den wunden Punkt des naiven Realismus: Durch die Nötigung, die eigene Erfahrungsgewißheit eines fundamentum in re zu erklären, wird die Binnendiffusion der implantierenden Situation zersetzt. Sie erscheint nun als bloße Schimäre, als Projektion, hinter der sich die unerbittliche Logik der Naturgesetze als Antrieb offenbart. Das Gefühl einer liebevollen Öffnung für den anderen, das Faust aus der ersten Begegnung mit Margarete in die Natur getragen hatte, wo sich ihm "geheime tiefe Wunder" öffneten, reduziert sich unter Mephistos Explikationszwängen auf eine sexuelle Zweckorientierung, die die unsagbare Bedeutsamkeit der gemeinsamen Situationen zerstört.

Was hätte Faust Mephisto entgegensetzen können?

Wenn wir Hermann Schmitz folgen, hätte er sich ähnlich äußern können wie Hegel in dem Brief an seine Verlobte: durch behutsame Verweigerung gegenüber dem Explikationsverlangen.

Goethe ist einen anderen Weg gegangen. Auf seiner Italienreise stellte er sich, zum ersten Mal in seinem Leben und nach einem quälenden Jahrzehnt platonischer Verliebtheit, seinem sexuellen Begehren. Zugleich gibt er in Italien allmählich die Vorstellung auf, er könne eine Urpflanze in rebus finden. Schiller wird ihm dann den kantianischen Gedanken nahebringen, daß es eine Idee sei, was er für sinnlich erfahrbar hielt. [34] Goethe akzeptierte diesen Gedanken im Grundsatz, wenn er ihm auch eine sehr eigene Prägung gab. [35] Er wandelte sich vom naiven zum kritischen Realisten, da er die Möglichkeit erkannte, seine Bemühungen auf den Gebieten der Wissenschaft und der Kunst stabiler zu begründen. Die Symbolik des klassischen Goethe begreift die Einheit von menschlicher und natürlicher Sphäre nicht mehr als Elemente eines Seinskontinuums, sondern  als Analogie im Sinne der Kritik der Urteilskraft, die es dem Subjekt vorbehält, für das Objekt zu sprechen.

Die neue Begründungssicherheit versetzte Goethe in die Lage, naturwissenschaftliche und kunsttheoretische Positionsbestimmungen vorzunehmen, auf die wir nicht verzichten möchten.  Gleichwohl wurde der an Kant geschulte Explikationsgewinn durch einen Verlust impressiver Qualitäten erkauft. Was wir an der Naturlyrik des ersten Weimarer Jahrzehnts beobachten konnten: ein Situationserleben, das sich ganz der stillen Betrachtung überläßt, ohne seine tiefere Bedeutung auszusprechen, suchen wir in den späteren Gedichten vergebens.

Und doch hat Goethe nie das Gespür für solche impressiven Qualitäten, wie sie besonders in der Sinnesstille von Wandrers Nachtlied zum Ausdruck kommen, verloren und die emotionale Erinnerung daran bewahrt. Davon zeugt sein Wunsch, am Vorabend seines letzten Geburtstags die Hütte auf dem Kickelhahn wieder zu besuchen. Der Bleistiftanschrieb des Nachtlieds war an der Bretterwand noch sichtbar. Bergrat Johann Christian Mahr, der Goethe begleitete, schildert die Szene wie folgt:

"Goethe überlas diese wenigen Verse, und Tränen flossen über seine Wangen. Ganz langsam zog er sein schneeweißes Taschentuch aus seinem  dunkelbraunen Tuchrock, trocknete sich die Tränen und sprach in einem sanften, wehmütigen Ton: 'Ja, warte nur, balde ruhest du auch!', schwieg eine halbe Minute, sah nochmals durch das Fenster in den düstern Fichtenwald und wendete sich darauf zu mir, mit den Worten: 'Nun wollen wir wieder gehen!'". [36]

Ob es sich genau so zugetragen hat, wie Mahr es Jahre später aufzeichnete, können wir nicht wissen – zumal Goethe selbst sich in einem knappen Bericht an Zelter über Einzelheiten ausschweigt. Wohl aber läßt sich unschwer vorstellen, was Goethe empfunden hat, als er die mehr als 50 Jahre alte Schriftspur aus jener hochbewegten Zeit "rekognoszierte" [37] . Das Vorgefühl der Ruhe, das er – den eigenen Tod antizipierend – in den schlichten Versen eingefangen hatte,  war nun, an seinem Lebensabend, der Erfüllung nahe. Dadurch bekam auch die erste Zeile "Über allen Gipfeln ist Ruh" nun eine erweiterte Bedeutung: als abschließender Rückblick auf eine Zeit, in der er den Vorsatz gefaßt hatte, "die Pyramide meines Daseins […] so hoch als möglich in die Lufft zu spizzen“ [38] , und den er nun, in der Rückschau, vollkommen versöhnlich so charakterisiert: "Nach so vielen Jahren war denn zu übersehen: das Dauernde, das Verschwundene. Das Gelungene trat hervor und erheiterte, das Mißlungene war vergessen und verschmerzt." [39] In dieser Situation konnte er, der ansonsten um wortreiche Vollendung seines Lebenswerks bemüht war, gar nicht anders als schweigen, bei offenen Sinnen die Stille der Natur zu vernehmen, die jenseits aller Sagbarkeit zu uns spricht. Schon Schuberts Vertonung des Nachtlieds war ihm "zu geschwätzig". [40]

 



[1] Takahashi, Yoshito: Japanische Lyrik: das Haiku und die lebendige Leerheit. In: Universitas – Zeitschrift für Wissenschaft, Kunst und Literatur Jg. 39 (1984), S. 1199–1206.

[2] Bereits in meinem Faustbuch (Naturbild und Diskursgeschichte. 'Faust'-Studie zur Rekonstruktion ästhetischer Theorie; Stuttgart 1992, S. 257–283) hatte ich mich ausführlich mit Goethes Naturbild jener Zeit beschäftigt. Einiges davon greife ich wieder auf, bereichert durch die "japanische" Perspektive, die mir damals noch fremd war.

[3] Schmitz, Hermann: Hase und Igel. Vom Pech des unbescheidenen Analytikers. In:Adamowsky, Natascha / Matussek, Peter (Hg.) [2004]: Auslassungen. Leerstellen als Movens der Kulturwissenschaft; Würzburg 2004, S. 61–68, hier S. S. 62.

[4] Briefe von und an Hegel, Bd. 1, Hamburg 1952, S. 368.

[5] Schmitz a.a.O., S. 61f.

[6] Vgl. Takahashi a.a.O.

[7] So etwa in Rilkes Grabspruch; vgl. ebd., S. 1199.

[8] Vgl. hierzu Adolf Muschg: Anläßlich einer Umfrage nach Goethes Gedichten. In: ders.: Goethe als Emigrant; Frankfurt am Main 1986, S. 25–32. Muschg wendet sich zwar zu Recht gegen den Populismus solcher Umfragen und die Untauglichkeit von Statistik, ästhetische Urteile zu erfassen. Spontane Vorlieben aber erfassen sie gleichwohl, und diesbezüglich ist die Wahl des Nachtlieds durchaus signifikant – zumal unter insgesamt 1300 nominierten Gedichten vier weitere aus dem Entstehungskontext des Nachtlieds Spitzenplätze belegten.

[9] Für diesen Hinweis danke ich Mario Kumekawa (Tokio).

[10] WA I, 27, S. 295.

[11] WA I, 42.2, S. 485.

[12] Wilkinson, Elizabeth M.: Goethe's Poetry. In: German Life and Letters. N.S. 2 (1949), S. 316–329.

[13] HA 12, S. 471.

[14] Vgl. ausführlich hierzu: Schlaffer, Heinz: Faust Zweiter Teil. Die Allegorie des 19. Jahrhunderts; Stuttgart 1981.

[15] Alle Briefzitate Goethes in diesem Aufsatz sind, auffindbar durch das Datum, zitiert nach Goethe, Johann Wolfgang: Briefe. Hg. v. K. R. Mandelkow. Hamburger Ausgabe in 4 Bänden; München 1962–1967.

[16] Vgl. Kurz, Gerhard: Metapher, Allegorie, Symbol; Göttingen 1982, S. 79.

[17] Vgl. Jakobson, Roman: Zwei Seiten der Sprache und zwei Typen aphasischer Störungen. In: ders.: Aufsätze zur Linguistik und Poetik; Hg. und eingeleitet von Wolfgang Raible; Frankfurt am Main 1979, S. 117–141.

[18] HA 1, S. 102.

[19] Ich zitiere mit Versangaben nach HA 3.

[20] HA 13, S. 149.

[21] Ebd., S. 154.

[22] Ebd., S. 582.

[23] Pörksen, Uwe: Deutsche Naturwissenschaftssprachen; Tübingen 1986, S. 82.

[24] HA 13, S. 20.

[25] Ebd., S. 17 f.

[26] Halbfass, Wilhelm: Kritischer R[ealismus] / Naiver R[ealismus]. In: Ritter, Joachim / Gründer, Karlfried (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 8 R–Sc; Basel Stuttgart 1992, Sp. 159–161, hier Sp. 160.

[27] HA 13, S. 10.

[28] HA 12, S. 32, Hv. P.M.

[29] HA 13, S. 26 f.

[30] HA 12, S. 32.

[31] HA 13, S. 255.

[32] Ebd.

[33] Ebd.

[34] Vgl. HA 10, S. 538–542.

[35] Vgl. HA 13, S. 25–30.

[36] Goethes Gespräche. Auf Grund der Ausgabe und des Nachlasses von Flodoard Frhrn. von Biedermann ergänzt und hg. v. Wolfgang Herwig; 5 Bde. (in 6) München 1998, Bd. 3, S. 811.

[38] An Lavater, ca. 20.9.1780.

[39] An Zelter, 4.9.1831.

[40] Diese Einsicht und viele weitere, die in diesen Text eingeflossen sind, verdanke ich dem freundschaftlichen Gespräch mit Professor Yoshito Takahashi (Kyoto), dem ich hiermit herzlich danken möchte.