Peter Matussek

Goethe trifft Gopher.
Zum Verhältnis von Literatur- und Medienkulturwissenschaft.

 


Vortrag m. Multimedia-Präsentation 18.6.2005, HU Berlin.

 

     
 

Additionen von nicht eben knapp bemessenen Gegenstandsfeldern, wie sie in meinem Untertitel vorkommen, erscheinen manchem als Überfütterung einer vormals schlanken Disziplin. Dabei wird übersehen, daß das Schlankeitsideal der Germanistik mit seinen drei Teilfächern Linguistik, Ältere und Neuere Literaturwissenschaft Ergebnis einer Aushungerung war. Nach dem Untergang des Nazi-Regimes hatte man sich einseitige Diät verordnet, um nicht wieder ideologieanfällig zu werden.

Mit dem urspünglichen Verständnis von deutscher Philologie hatte das nichts zu tun.

Heyne-Zitat mit Jahreszahl 1868

Man könnte hier eine ganze Phalanx von Gründungsvätern anführen:

Ich zitiere nur stellvertretend Moritz Heyne, Professor für Germanistik in Basel und Göttingen:

 

"[Die Aufgabe der deutschen Philologie liegt] in der Erfassung des gesamten Geisteslebens unserer Nation und seiner Entfaltung soweit es uns in Denkmälern überliefert. Diese Denkmäler sind nicht blos solche der Litt., sondern auch solche der Kunst, des Gewerbes, der mündl. Überlieferung." [1]

Erst Ende der 60er Jahre begannen wir, dieser dezidiert kultur- und medienwissenschaftichen Ausrichtung wieder näherzukommen.

Schilder nebeneinander

Symptomatisch für diesen Trend war die Umbenennung des Tübinger "Ludwig-Uhland-Instituts für Volkskunde" in " Ludwig-Uhland-Institut für empirische Kulturwissenschaft" durch Hermann Bausinger, ...

Bausinger liest Tarzan: Zeitungsmeldung

... der sich zugleich als ein Wegbereiter für medienwissenschaftliche Fragestellungen betätigte. Das wurde – wie diese Schlagzeile in der Boulevardpresse zeigt – seinerzeit als skandalöse Entgrenzung wahrgenommen, als würden Erörterungen zum Verhältnis von Schrift und Bild nicht seit je zum klassischen Repertoire deutscher Philologie gehören – nicht etwa nur im Laokoon-Streit,

Klick: Töpffer

sondern z.B. auch in Goethes enthusiastischer Aufnahme der Bildgeschichten Töpffers, dem Vorläufer der Comix,

man kann sagen: nach denen er geradezu bettelte.

– eine Wertschätzung, die übrigens bis heute noch keine angemessene wissenschaftliche Untersuchung erfahren hat.

 

Die kultur- und medienwissenschaftlichen "Erweiterungen" der Germanistik kommen also auf unser Fach nicht von außen zu, sondern ergeben sich aus den immanenten Erfordernissen der philologischen Arbeit selbst.

Ein Gedicht wie z.B. Rilkes Archaischer Torso Apolls aus Der Neuen Gedichte anderer Teil (1908)

Demo Rilke

läßt sich nur dann angemessen interpretieren, wenn man kultur- und medienhistorische Kenntnisse heranzieht.

Ob es wirklich dieser Torso war oder ein Jnglingstorso, den Rilke aus seinen Louvre-Besuchen vor Augen hatte, ist nicht klar. Aber der Text spielt zweifellos an auf

a

• die Kunstgeschichte – hier insbesondere Winckelmanns Studien zur Skulptur der klassischen Antike, [2] die schon vor Rilke den Torso als Anlaß für imaginative Ergänzungsleistungen durch den Betrachter beschreiben

b

• die Technikgeschichte, die zu bedenken gibt, daß Rilke mit der Formulierung vom "Kandelaber, in dem das "Schauen zurückgeschraubt" sei, auf industrielle Lebensbedingungen anspielt [3]

So jedenfalls die These von Uwe Steiner – mit Recht, denn "Kandelaber" als Kerzenständer paßt schlecht auf "zurückschruaben", wohl aber auf die Gaslaternen, die man ebenfalls KANdelaber nannte

– so wie auch "Bug" an Schiffsbug und "Sturz" an den Fachausdruck aus der Architektur denken lassen.

c

• die Mentalitätsgeschichte, die die Wendung von den "flimmernden Raubtierfellen", die angesichts einer Marmorskulptur seltsam klingt, auf Rilkes Beschäftigung mit dem Exotismus der Zeit zurückzuführen vermag,

d

• die Geschichte der Wahrnehmungstheorie, die die lyrische Wendung von der Objekt- zur Selbstaufmerksamkeit – das Sehen des Sehens – kontextualisierend erhellt. Ernst Machs Analyse der Empfindungen, [4] an die man hier denken könnte, kannte Rilke zwar nicht, wohl aber

e: Argus-Bild

Hegels Ästhetik, wo von der Kunst #ausgesagt wird,

"daß sich jede Gestalt an allen Punkten der sichtbaren Oberfläche zum Auge verwandle" [5]

ARGUS#

f: Apoll und Dionysos

• Zur Interpretation des Gedichts gehört schließlich die Kulturphilosophie denn als Resultat der Reflexionsbewegung im Gedicht wird Apoll in Dionysos verwandelt [6] – was der durch Lou Salome und Simmel vermittelten Nietzsche-Adaption Rilkes entsprach.

 

Insofern sie derartige Verzweigungen ihrer Gegenstände verfolgen, sind zweifellos alle Literaturwissenschaftler auch Medienkulturwissenschaftler. Um mich also auf Ihre Denomination zu beziehen, muß Spezifischeres genannt werden. Und dies Spezifischere liegt m.E. in einer bestimmten Fokussierung begründet, einer bestimmten Frageperspektive.

Um diese Frageperspektive in der hier gebotenen Kürze zu verdeutlichen, wähle ich ein Seminarthema, das ich zur Zeit in Düsseldorf behandle: "Medien des Schauderns."

Faustvideo

Der Ausgangspunkt ist hierbei das berühmte zitat aus der Mütterszene im Faust, wo das Schaudern als "... der Menschheit bestes Teil" bezeichnet wird.

Die Stelle ist rätselhaft und hat schon manche Deuter gleich Faust in Verlegenheit gebracht. 

"Was sind die Mütter und warum schaudert Faust bei ihrer Erwähnung?"

Als ich meinem Seminar zu Beginn des Semesters diese Frage vorlegte, schwieg es geraume Zeit, bis endlich einer mit dem befreienden Kalauer aufwartete:

"Vielleicht handelt es sich ja um Schwiegermütter!"

Die meisten Deutungsangebote helfen auch nicht viel weiter. Zwar deutet manches auf eine Natur-Matrix im Sinne der Urphänomene, von denen Goethe ja auch aussagt, daß sie ein Schaudern bewirken können:

"Vor den Urphänomenen," schreibt er, "wenn sie unseren Sinnen enthüllt erscheinen, fühlen wir eine Art von Scheu, bis zur Angst. "

Rudolf Ottos Begriff des 'Mysterium tremendum', der explizit unter Hinweis auf das Faust-zitat entwickelt wurde, kommt dieser Scheu im Angesicht der Urphänomene nahe. Allerdings paßt es nicht zu den Urphänomenen, daß das Mütterreich als dezidiert unanschaulich charakterisiert wird, als "ein Nichts", in dem das "All zu finden" sei (V.#).

Andere Interpreten haben daher den Gang zu den Müttern als Gang in die eigene Innerlichkeit interpretiert. So sieht Thomas Zabka in der Szene eine ironische Anspielung auf die romantische Idee der "Selbstverabsolutierung des Subjekts", was er mit zitatparallelen bei Friedrich Schlegel und Novalis gut plausibilisieren kann. Denn Schlegels Rede über die Mythologie verweist die Dichter auf einen "mütterlichen Boden", der "aus der tiefsten Tiefe des Geistes herausgebildet werden" müsse. Und Novalis schreibt im 17. Blütenstaub-Fragment (1798): "Nach Innen geht der geheimnißvolle Weg. In uns oder nirgends ist die Ewigkeit mit ihren Welten".

Albrecht Schönes Faustkommentar von 1994 wischt das als "frei schwebende Interpretenkonstrukte" beiseite. Stattdessen erklärt er die rätselhaften Attribuierungen der Mütter und das anschließende "Fratzengeisterspiel" als Effekte einer "Laterna Magica".

Robertson

Die Belege dafür, daß ein solcher Projektionsapparat, der im 18. Jahrhundert sehr verbreitet war, auch im Faust eine Rolle spielt, sind überdeutlich – Goethes Regietätigkeit deutet darauf hin, und der Text selbst spricht in der Mummenschanzszene von einer "magische(n) Laterne" (V.#).

Man wundert sich also, warum dieser evidente Sachgehalt erst so spät erörtert wurde. Eine Erklärung könnte sein, daß erst die Reetablierung einer medienkulturwissenschaftlichen Perspektive den Blick für das technische Medium freimachte.

Lat_mag(s. Ab. Demos

So entspricht es dem Einsatz der Laterna Magica, daß dabei, wie in der Faustszene, Rauch gemacht wurde und darauf Bilder projiziert wurden, die dann wie wirkliche Gestalten im Raum standen.

Und Fausts fälschlicher Versuch, die Figuren zu halten, kann als ein Fehlgriff gedeutet werden, der Simulation und Wirklichkeit verwechselt.

Explosionen wie am Ende der Szene schließlich werden von solchen Vorführungen häufig berichtet, da man  – anders als hier zu sehen – nicht bloß mit Kerzen, sondern auch mit "Knallgasbrennern" (Schöne 478) arbeitete, was bisweilen spektakulär endete – entweder durch Mißgeschick oder aber in Form von planmäßig durchgeführten "Schluß-Explosionen".

Allerdings machen solche Hinweise interpretatorisch erst Sinn, wenn sie nicht gegen die Ideengeschichte ausgespielt, sondern zu ihr ins Verhältnis gebracht werden. Gerade der Zusammenhang von romantischer Innerlichkeit und Animationstechnik ist hier aufschlußreich, da er Fausts Abstieg in die "Tiefe seines Geistes" als Projektion charakterisiert, die – wie heute die Virtual Reality-Szenarios – das Virtuelle, Real Virtuality sozusagen, durch Aktualisierung vernichten. Dazu paßt Goethes Maxime: 

„Fehler der Dilettanten: Phantasie und Technik unmittelbar verbinden zu wollen“. (MuR 1214)

Das war gegen die jüngere Generation der Romantiker gerichtet, insbesondere gegen E. T. A. Hoffmann, den Goethe entschieden ablehnte. Dabei gestattet gerade Hoffmanns Sandmann eine genauere Analyse der schauerlichen Indifferenz von Innerlichkeit und Technizität.

Bild Sandmann (Nathanael)

Tiefste Innerlichkeit beweist die Automate Olimpia für Nathanael gerade dadurch, daß sie nur "Ach! Ach!" sagen kann, im Gegensatz zum "oberflächlichen" Geschwätz der anderen Leute.

Das Unheimliche daran hat Sigmund Freud präzise herausgearbeitet: Wir schaudern nicht vor dem, was unmenschlich ist, sondern vor dem, was allzu menschlich ist, so daß wir es als solches nicht anerkennen wollen. In Anlehnung an Schellings Bemerkung,

"Un-heimlich" nenne man "Alles, was im Geheimnis, im Verborgnen... bleiben sollte und hervorgetreten ist",

erklärt Freud:

"Die Vorsilbe »un« an diesem Worte ist ... die Marke der Verdrängung " (S. 267).

Bild Plattencover

Und das Verdrängte ist allemal das uns Nächste. Abgetrennte Körperteile z.B. sind unheimlich, weil uns bei ihrem Anblick etwas Ureigenes als Äußeres  entgegentritt.

Erst recht gilt das für die Augen, die in Hoffmanns Geschichte geraubt und der Automate eingesetzt werden – nach Freud eine Kastrationsphantasie.

Almodovar

Die früheste und für Verdrängungen anfälligste Erfahrung der Nähe aber ist der

"Leib der Mutter. Das Unheimliche," schreibt Freud, "ist … auch in diesem Falle das ehemals Heimische, Altvertraute." (267).

Besonders bei neurotischen Männern sei das Schaudern vor dem Mutterschoß zu finden. Sie sagten, berichtet Freud, in der analytischen Praxis häufig aus, ihnen sei das weibliche Genital unheimlich.

Die lüsterne Phantasie vom Leben im Mutterleib – die wir hier in Pedro Almodovars Film Sprich mit ihr visualisiert finden – ist nach Freud zugleich der Ursprung für die schrecklichste aller Phantasien, nämlich die, lebendig begraben oder eingemauert zu werden.

Poe

Das bringt uns zu E. A. Poe, der diese schrecklichste aller Phantasien in seiner Erzählung in seiner Geschichte The Cask of Amontillado ausformuliert hat. Auch hier finden wir die bei Goethe und Hoffmann beobachtete Konvergenz von Innerlichkeit und Technizität, deren Unheimlichkeit aber hier dadurch gesteigert wird, daß der Erzähler selbst mit unmenschlicher Berechnungskälte in Erscheinung tritt. Man kennt diese Unheimlichkeit von der Konfrontation mit den kalkulatorischen Welterklärungsmodellen Wahnsinniger. Um so bemerkenswerter ist es, daß Poe in seiner Philosophy of Composition glaubhaft zu machen sucht, daß sein Erfolgsgedicht The Raven nicht etwa aus dichterischer Inspiration geschaffen sei, sondern allein aus dem streng berechneten Einsatz eines seelenlosen Räderwerks von Wirkmechanismen. Natürlich war es seine Intention, mit genau dieser Pseudo-Offenbarung einen zusätzlichen Schauder zu erzeugen, was er in folgendem Passus zu erkennen gibt:

"Most writers would positively shudder at letting the public take a peep behind the scenes, at the ... wheels and pinions – […] which […] constitute the properties of the literary histrio."

 

Achterbahnfilm

Poe steht am Beginn einer Industrialisierung des Schauderns, die in dem Moment möglich wurde, als man der Natur ihre Schrecken durch technische Beherrschung genommen hatte. Denn nun konnte man Lust daraus gewinnen, daß die alten, immer noch vorhandenen, aber weitgehend nutzlos gewordenen Angstreflexe mit technischen Mitteln aktiviert werden, während man sich in Sicherheit weiß. Michael Balindt nannte diese lustvolle, weil gefahrlose Angst "Philobatismus", und seine Erklärung des Phänomens hilft uns, poetische Hervorbringungen, die in dem Ruf stehen, archaische Gefühle zu aktivieren, als Ausdruck hochtechnisierter Lebensbedingungen zu deuten:

Rilke

Rilkes Dritte Elegie beschreibt den Abstieg in den eigenen Innenraum als einen Gang von der beschützenden Mutter durch die chaotischen "Fluten der Herkunft" ins furchtbare "Flußbett einstiger Mütter". 

Doch was hier in dionysischer Archaik daherkommt, ist in eine apollinische Schutzvorrichtung eingelassen. Die Elegie endet mit der Aufforderung an die Geliebte:

"O leise, leise,

tu ein liebes vor ihm, ein verläßliches Tagwerk, – führ ihn

nah an den Garten heran, gieb ihm der Nächte

Übergewicht ......

Verhalt ihn ....."

Das entspricht peinlich genau der Arbeitssituation, die sich Rilke in Muzot geschaffen hatte, um die Elegien fertigzustellen. Frieda, die 26-jährige Haushälterin hatte für die ihm gemäßen Arbeitsbedinungen gesorgt, wie er berichtet:

"Frieda hat brav standgehalten in diesen Tagen, da Muzot auf hoher See des Geistes trieb. Nun war sie wirklich das ... 'Geistlein' – kaum da und doch sorgend und ohne Angst, wenn ich hier oben … Signale aus dem Weltraum empfing … !" (Bio 148)

Die Konstellation – hier der Mann, der auf der "See des Geistes" treibt und "Signale aus dem Weltraum" empfängt, dort die Frau, die als "Geistlein" vor allem dazu da ist, "leise, leise, ein verläßliches Tagwerk" zu verrichten ohne ansonsten mit ihrer Anwesenheit zu stören – diese Konstellation entnahm Rilke dem Mythos von Orpheus und Eurydike.

Rodin

Die Sonette an Orpheus, die als Etuden für die Elegien entanden, gelten einer jungen Frau, die Rilke kaum kannte, die aber die wichtigste Bedingung einer Eurydike erfüllte: nämlich tot, also verläßlich still zu sein. Die Sonette sind denn auch seltsam freudig gestimmt; in ihrem Zentrum steht nicht die Klage um Eurydike, sondern die Apotheose des Künstlers.

Das mag man freilich schon dem Mythos anlasten. der an dieser Verteilung der Geschlechterrollen partizipiert.

Seit Vergil vermag Orpheus Eurydike aus dem Hades zu führen, solange er sich nicht umdreht – genauer: solange er sie nicht "begierig (avidus) ansieht" – wie es bei Ovid heißt. Das Erinnerungsbild ist nur solange lebendig, wie es Schatten bleibt und man sich mit seiner Schattenhaftigkeit begnügt.

Inszenierung HUB

Die Gluck-Inszenierung hier vor einigen Jahren hat diese Schattenbegegnung im Bühnenbild stimmig realisiert. Auch die Angewiesenheit dieser Konstellation auf technische Stützung wurde dabei sinnfällig.

Für den Mythos läßt sich das damit belegen, daß Orpheus buchstäblich eines "Instrumentes" für seinen Gesang bedarf, der Kithara, die nach Nietzsche die "erschütternde Macht des Tons" gerade fernhält, wie die apollinische Musik überhaupt nicht wirklich Musik sei, sondern lediglich "Architektur in Tönen.

Analog dichtet Rilke: "Ordne die Schreier,/ singender Gott", befestigt also das Chaos der Natur im disziplinierenden Gesang.

Dessen instrumenteller Charakter ist nicht zu leugnen, aber entgegen der geläufigen Ansicht leugnet Rilke ihn auch  nicht.  Die Sonette an Orpheus kommen immer wieder auf das Thema der Maschine zu sprechen, die als Symbol der neuen Zeit angesehen wird, wie in Abhebung von Hermann Mörchen festgestellt werden muß.

Freilich werden andere deutlicher. Der neu-sachliche Brecht z.B., in dessen Stück Mann ist Mann angekündigt wird:

 "Hier wird heute abend ein Mensch wie ein Auto ummontiert

Ohne daß er irgend etwas dabei verliert" [7]

Deutlicher werden auch Ivan Goll und Gottfried Benn, Lyriker, die sich ebenfalls mit Orpheus identifizieren, aber dabei sehr viel heftiger moderne Töne anschlagen – was ihren Eurydices allerdings keine Fortschritte bringt:

"Seit ich, Eurydike, dich verlor

Weil ich mich einmal umsah

Muß ich mich umsehn

Nach allen Frauen der Erde"

dichtet Goll.

Und Benn heiratet etwas zu schnell Ilse Kaul, um den lyrischen Abschied von Herta vor Klaus Theweleits Verdacht der Instrumentalisierung zu bewahren:

"An Tote zu denken ist süß.

So Entfernte, man hört die Stimme reiner, "

...heißt es in seinem Gedicht Tod des Orpheus.

Orphee: Radio

Cocteaus Orphée scließlich empfängt die "Signale aus dem Weltraum" offen technizistisch über das Autoradio,

Je répète, Eurydike

und seine Eurydike wird ebenso offen nur als Störende dargestellt, die sich der Dichter vom Leib halten muß.

Spiegelszene:

Dem entspricht, daß der Gang in die Unterwelt als ein narzißtischer Gang in die eigene Innenwelt inszeniert wird, als buchstäblicher Gang in den Spiegel.

Nach romantischer bis moderner Lesart wird das zum Anlaß, im Durchgang durch die äußerste Entfremdung wieder zu sich, zum eigensten Ursprung zu finden – wie in Kleists Marionettentheater, das einen Hintereingang des Paradieses kennt, oder Heiner Müllers Hamletmaschine, wo es unverblümt heißt: "Der Mutterschoß ist keine Einbahnstraße."

Matrix

Nach postmoderner Lesart ist das Bild im Spiegel das Original, das Gespiegelte nur defizitäres Abbild. Michel Houellebeqcs zynische Optimierungsphantasien zehren davon ebenso wie The Matrix der Brüder Wachowski, wo der Protagonist auf unsanfte, wahrhaft schauderhafte Art darüber aufgeklärt wird, daß seine Selbstwahrnehmung nur Effekt einer Simulation ist, und daß sein organischer Körper in Wirklichkeit als bloße Energiekonserve für ein Maschinenimperium dient, das den Strom für seine – ein erträgliches Leben vorgaukelnde – Simulationstechnik aus menschlichen Batterien  speist. Die Matrix ist hier buchstäblich die Mutter eines scheinbar behüteten Daseins, das zwar nicht von Orpheus, aber von Morpheus auf die weniger schöne, dafür authentische Realität hin überschritten wird.

(Willkommen in der Wirklichkeit)

Seit Platons Höhlengleichnis unterscheiden wir simulierte von echten, "höheren" Realitäten. Was aber geschieht, wenn wir anerkennen müssen, daß diese Hierarchisierung nur eine relative ist, abhängig vom Beobachterstandpunkt – wie es für Systemtheorie und Konstruktivismus selbstverständlich ist?

Szene aus 13th floor: Ende der Welt

Daniél Galouye hatte bereits 1980 in seinem mehrfach, u.a. von Faßbinder verfilmten Science-Fiction-Roman Welt am Draht ausphantasiert, welchen Schauder jemand erlebt, der feststellt, daß seine Lebenswelt genauso ein Konstrukt ist, wie die Welten, die er für andere programmiert.

Und er macht uns, ähnlich wie Platon, plausibel, daß so jemand von der "höheren" Wirklichkeit, die ihm verschlossen ist, lieber gar nichts wissen will, um nicht in einen nihilistischen Abgrund zu stürzen.

Szene vom Cop, der sagt, laßt uns in Ruhe

Mit anderen Worten, in Anlehnung an Kant: Es genügt, wenn wir es für seiend halten, was unserer Wahrnehmung dargeboten wird, um die Welt schön zu finden.

Die Perspektive eines Ebenenwechsels dagegen irritiert – und zwar nicht so sehr wegen der Einsicht in die computergenerierte Irrealität der Außenwelt, sondern wegen der Einsicht in die Realität der computergenerierten Innenwelt.

neuromancer

Ein entsprechendes Gedankenexperimnet findet sich in William Gibsons Neuromancer: 

Dessen Protagonist Case wird in der holographischen Projektion seiner eigenen Erinnerungen und Phantasien gefangen, die ein Computer aus seinem Gehirn ausgelesen hat. Er reagiert, wie wir nun einmal reagieren, wenn wir erfahren, daß wir nichts als neurologische Reflexbündel sind: Wir fahren fort mit der Unterstellung, daß unser Tun und Lassen einen Sinn habe. So verhält sich auch Case, der sich in seiner Erinnerungsprojektion an einem Strand befindet und sich ein Feuer macht.

"I knew," heißt es, "none of this was real, but cold was cold."

Was Case schließlich aus den Fesseln der Cyberspace-Existenz befreit, ist der stärkste somatische Impuls, zu dem sein künstliches Dasein noch fähig ist: Haß auf die Täuschung. Dieser Haß gibt ihm das Körpergefühl hinter dem simulierten Körpergefühl zurück und damit das Empfinden der eigenen Hände an der Computerkonsole, so daß er sich aus der Simulation ausloggen kann.

Haß als Ausstiegsoption aus einer Welt der Täuschung ist nicht nur eine Science-Fiction-Phantasie.

Cave-Cover, dazu leise einspielen

Nick Cave invertiert auf seinem aktuellen Album mit dem Song The Lyre of Orpheus die Versöhnlichkeit des Mythos, um den apollinischen Illusionscharakter zu durchbrechen.

Hier wird Eurydike durch den Klang des Instruments nicht vom Tod ins Leben geholt, sondern vom Leben in den Tod geschickt, zu den Müttern – "Oh Mama".

Orpheus' Wirkung auf die Tiere ist entsprechend: Sie explodieren in der Luft

"they burst"

Schuld an all dem ist das Saiteninstrument – dem aber offensichtlich gewaltige Verstärkerfunktionen innewohnen, die Friedrich Kittlers Diktum zu bestätigen scheinen: "Rockmusik ist Mißbrauch von Heeresgerät".

Einen anderen Weg, das Schaudern als conditio humana wiederzuentdecken, geht Peter Handke in seinem neuen Stück

Handke-Cover

Untertagblues, das in einer U-Bahn spielt.

Hier die Skizze für das Bühnenbild von#

Darin beschimpft ein WILDER MANN – mit einer expliziten Reminiszenz an die Mütterszene – die Mitfahrenden:

"Ich zittere, ich bebe, ich erbebe, und es schüttelt mich. Es rüttelt mich, aber das kommt nicht vom Fahren. Es schaudert mich vor euch. Aber dieser Schauder ist nicht mehr, wie einst einmal, mein bester Teil."

Wie wir dann aber doch erfahren, entfaltet der Schauder seine alte Transformationskraft, vor der Erstarrung zu bewahren. Der WILDE MANN empfängt im Verlaufe des Stücks die Belehrungen einer WILDEN FRAU, die ihn #vpon sdeiner Höllenfahrt ins eigene Bewußtsein #zur Besinnung bringt und sich als eine Eurydike erweist, die Orpheus aus dem Hades führt: Denn in Anspielung an den mythischen Ausgang aus der Unterwelt ist das letzte Streckenstück der U-Bahnfahrt oberirdisch (S. 77).

Schlußbild

Meine eigene Unterweltfahrt nähert sich ebenfalls Ihrem Ende. Sie führte von Goethes Mütterreich zu Handkes U-Bahn über Zwischenstationen, die jeweils das Schaudern als Reaktion auf eine Enthüllung des eigenen Inneren thematisierten. Denn diese Enthüllungen offenbarten Ambivalenzen – zwischen Fülle und Leere, Mensch und Maschine, Gewalt und Versöhnung.

Selbstverständlich kam es mir hier nicht darauf an, Sie von der Angemessenheit meiner Interpretationen zu überzeugen. Sondern es ging mir darum zu exemplifizieren, welche Verknüpfungen literarhistorischen Materials sich ergeben, wenn man eine medienkulturwissenschaftliche Perspektive einnimmt.

Diese Verknüpfungen folgten weniger gattungspoetischen, motiv- oder formgeschichtlichen Zusammenhängen, sondern Assoziationen, die sich ergeben, wenn nach der Medialität und der Kulturalität der untersuchten Phänomene gefragt wird, also z.B. dem Verhältnis von psychischer und technischer Projektion, apollinischer und dionysischer Musik, Virtual Reality und Platons Höhle.

Es handelt sich dabei, wie ich eingangs zu verdeutlichen versuchte, weniger um eine "Erweiterung" der Germanistik – denn Weite ist eher eine Kategorie des Reflexionsvermögens – als vielmehr um einen Beitrag zur Befreiung unseres Fachs von den disziplinären Zumutungen der Nachkriegszeit, sich ausschließlich mit Texten in Form der linguistischen Analyse oder der Untersuchung älterer oder neuerer Literatur zu beschäftigen.

Nun bin ich Ihnen aber immer noch den angekündigten Gopher schuldig, den Sie vielleicht inzwischen schon als McGuffin abgeschrieben haben.

Gopher (1:54)

Es handelt sich um dieses Musikvideo von Alex Gopher, das mir nicht zufällig in den Sinn kam, als ich über meinen Bewerbungsvortrag nachdachte.

Auf den ersten Blick könnte man es für eine Illustration des Paradigmas "Kultur als Text" halten – einer Strategie, die Zuständigkeit der Textwissenschaften zu erweitern, indem man sämtlichen Kulturphänomenen Textförmigkeit und damit wohlfeile Lesbarkeit unterstellt. Was hier demonstriert wird, ist etwas anderes: Die Partizipation von Schrift an der visuellen und auditiven Kultur, an Ritualen, Gesten und Performanzen. Zugleich wird uns vor Augen geführt, daß unsere Wahrnehmungs- und Handlungsformen immer schon codiert sind – andernfalls könnten wir # und # hier nicht als solche wiedererkennen –, und daß wir dieser Codiertheit schwerlich entgehen: Selbst eine Zerstörung von Code wird uns unter Bedingungen der Computermoderne noch als Code, in der Regel als Fehlerprotokoll, begegnen.

Diese Unentrinnbarkeit des Codes mag uns in ähnlicher Weise wie Faust Schaudern machen, da sie uns in einen Abgrund substantieller Leere schauen läßt.

Aber wie das Musikvideo auch zeigt: auch mediale Mütter können das Glück der Hervorbringung neuen Lebens vermitteln.

Klick: start

 



[1] Heyne, Moritz: Deutsches Wörterbuch (1869), zit. nach Bausinger, a.a.O., S. 19.

[2] Winckelmann, Johann Joachim: Beschreibung des Torso im Belvedere zu Rom. In: ders.: Kleine Schriften, Vorreden, Entwürfe, hg. v. Walther Rehm; Berlin 1968, S. 169–173.

[3] Unter "Kandelaber" verstand man im allgemeinen Sprachgebrauch der Zeit nicht Kerzenständer, sondern Gaslampen, die zu bestimmten Uhrzeiten "zurückgeschraubt" wurden. Vgl. Steiner, Uwe: Hermeneutik, "zurückgeschraubt" – Einige Bemerkungen zur Zeit der Dichtung und zum Widerspruch des Ästhetischen am Beispiel von Rilkes 'Archaischer Torso Apollos'. In: Peter Rau (Hg.): Widersrpüche im Widersprechen. Historische und aktuelle Ansichten der Verneinung. Festgabe für Horst Meixner zum 60. Geburtstag; Frankfurt am Main Berlin u.a. 1996, S. 66–77.

[4] Mach, Ernst: Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen; Nachdruck der 9. Aufl. Darmstadt 1991.

[5]   (Bd. 1, 203; Hinweis von HB)

[6]  (s. Duhamel: Dionysos)

[7]  (Mand. S. 95)