Erinnerung durch Selbstvergessenheit

 

Wir wissen nicht, wie die Musik geklungen hat, der die Griechen jene Wunderkraft zuschrieben (Rekonstruktionsversuche). Wir können es nur indirekt, aus Beschreibungen und Abbildungen, erschließen. Dabei ist ein vorherrschendes Bildmotiv die Wirkung seines Gesangs auf Tiere (vgl. Wegner 1962 u. Friedman 1970). Es zeigt an, daß der orphische Klang unmittelbar die Instinkte anspricht. Die Tiere sind, wie Nietzsche das pointiert ausgedrückt hatte, die Meister der Selbstvergessenheit; sie würden diese Fähigkeit auch gerne den Menschen lehren – wenn sie nicht immer gleich vergäßen, was sie sagen wollten.

Die Erinnerungsaktivierung der orphischen Musik offenbart sich also primär im Vergessenmachen der kulturellen Merkzwänge zugunsten der von ihnen überformten Antriebe. Genau dies ist die Funktion der Mnemosyne, wie sie in der ältesten Erwähnung überhaupt, bei Hesiod, charakterisiert wird:

Orpheus und die Tiere. Griffspiegel (ca. 400 v. Chr.)

In der Theogonie heißt es, scheinbar paradox, die Mutter der Musen habe diese geboren, "damit sie Vergessenheit brächten der Leiden und Ende der Sorgen" (V. 54f.). Mnemosyne bringt zuallererst Lesmosyne, und ihr genuines Medium ist die Musik. Denn sie vermag es besser als alle anderen Künste, die Bewußtseinskontrolle zu umgehen.

Mnemosyne und die neun Musen.