Musikalische Leerstellen

 

Wenn wir nach einer Leerstellentheorie im Bereich des Klangs suchen, dann liegt es nahe, sich mit den modernen Tendenzen zur Öffnung musikalischer Strukturen zu beschäftigen.

Insbesondere John Cage hatte seine Kompositionstechniken als dezidierte Absage an die Konventionen des musikalischen Gedächtnisses inszeniert und theoretisch begründet (s. Video rechts).

Der radikalste Ausdruck dieser Tendenz ist sein Stück 4'33", in dem kein einziger Ton gespielt wird, das aber gerade dadurch für das Phänomen des Klangs sensibilisieren will. (Im übrigen ist das Stück keineswegs geräuschlos, wie das Spektrogramm verdeutlicht.)

Das musikalische Gedächtnis wird also selbst von dieser absoluten akustischen Leerstelle nicht schlechthin verworfen. Vielmehr handelt es sich um eine Dekonstruktion der kulturell ankonditionierten Hörgewohnheiten und ihrer Aufzeichnungsformen. Der "Klebstoff" der Tonbeziehungen (Heinz-Klaus Metzger, vgl. Fuchs 1994) soll aufgelöst werden, um ein anderes Gedächtnis freizusetzen: die Erinnerung an das Hören als eines anthropologischen Grundphänomens.

Entsprechendes kennt die Musikgeschichte nicht erst seit den Avantgardebewegungen – im Grunde fällt das Aufbrechen von Gedächtniskonventionen zugunsten eines davon verdeckten Erinnerungserlebens mit dem Ursprung der Musik selbst zusammen. Dies läßt sich am Mythos von Orpheus ablesen, der zweifellos die historische Urszene des erinnernden Hörens darstellt.

John Cage über die Stille

Quelle: Poetry in Motion; CD-ROM

John Cage: 4'33" (1952)Performed and produced by Frank Zappa.
Quelle: the john cage tribute; Koch 1993.