Peter Matussek

Schriftlichkeit auf der Medienschwelle. Literalität zwischen Oralität und Piktoralität

 


Vortrag 16.9.2003
Meiji Universität Tokyo.

 

     
 

Hinweis: Die mit "D" und Ordnungszahl versehenen Beamer-Anweisungen im Text beziehen sich auf die medialen Präsentationen, die mit dem nachstehenden Link aufgerufen werden können. Der "Start"-Link führt auf "D 01"; durch Anklicken der Pfeile oben links läßt sich vor- und zurückblättern.

[Aufruf Startseite Demos]

[…]
Die Medienschwelle, von der im folgenden die Rede sein soll, läßt sich gut an Goethes Hauptwerk demonstrieren (D 01):
Wir finden Faust am Anfang des Dramas in einer mit Schriften vollgestopften Gelehrtenstube. Doch die Schriften, die er "durchaus studiert" hat mit "heißem Bemühn" haben ihm nicht die erhoffte Erkenntnis dessen vermitteln können, "was die Welt im Innersten zusammenhält". Was er nun im historischen Kontext durch wechselnde Formen von Magie erreichen will, läßt sich unter modernen Gesichtspunkten als Medienwechsel beschreiben: Anstatt weiter in geschriebenen "Worten [zu] kramen" sucht er "alle Wirkenskraft und Samen" fortan in visuellen und lautsprachlichen Darstellungs- und Ausdrucksformen, nämlich durch die Makrokosmosvision und die Erdgeistbeschwörung .
Als er das Makrokosmoszeichen erblickt, das etwa so ausgesehen haben dürfte wie hier (D 02), erlebt er diesen Wechsel von der Schrift zum Bild als Offenbarung (D 03, anhalten nach "welch Schauspiel"). Mit dem Medienwechsel vom Wort- zum Schauspiel ist Faust also seinem Erkenntnisziel offenbar näher gerückt.
Doch nicht nah genug: Auch das Bild erweist sich als Begrenzung (D 03, Rest des Films abspielen).
Der Ausweg aus dieser abermaligen Einengung der Erkenntnis wird in einem zweiten Medienwechsel gesucht: Diesmal im Übergang vom Bild zum Sprachlaut (D 04): "... meine Stimme zu hören" – "mich neigt Dein mächtig Seelenflehn" – "wo ist der Seele Ruf?" – "Wo bist Du Faust, des Stimme mir erklang?" – dieser pointiert auditive Bezug, der auf Sprache als Ausdrucksgeschehen im Sinne des frühen Herder abhebt, ist für die Erdgeistbeschwörung zentral. Das kommt auch in weiteren Hinweisen des Stücks zum Ausdruck, die in der Gründgens-Inszenierung gestrichen wurden. So heißt es in der Regieanweisung: vor dem Erscheinen ds Geistes in der Flamme: "Faust spricht das Zeichen des Geistes geheimnisvoll aus". Und die erste Äußerung des Erdgeistes ist die Frage: "Wer ruft mir?"
Durch den Übergang vom Bild zum Klang kommt Faust also seinem Ziel abermals näher (D 05, anhalten nach "fühl ich mich Dir")..
Doch auch hier wird der Durchbruch zur Essenz der Dinge letztlich verfehlt. Auch die phonologisch ausgeübte Magie bleibt am Ende erfolglos (D 05, Rest abspielen).
Warum die beiden magischen Praktiken, die Makrokosmosvision und die Erdgeistbeschwörung, unbefriedigend bleiben müssen, läßt sich ebenfalls medientheoretisch erklären (D 06):
Faust ist ja nicht wirklich in die Natur hinausgeflohen, sondern er tat es als Leser von Büchern. Und wenn seine Medien-Magie auch Visionen und Auditionen herbeiführte, die für Momente das Wesen der Dinge, ja einheit mit der Naturkaft erahnen ließen, so konnten die eingesetzten Medien doch keine unmittelbare Erfahrung des medial Repräsentierten herbeiführen.
Denn materialiter sind der hier geschaute Makrokosmos und der hier beschworene Erdgeist nichts weiter als Zeichen in einem Buch. Die Signifikanten sind die Geister, die er begreift, nicht die Signifikate. Faust scheitert, so könnte man unter Anspielung auf einen einschlägigen Buchtitel resümieren, daran, daß er die Materialität der Kommunikation zwar für einen ästhetischen Augenblick transzendiert, technisch aber dann doch an ihre Faktizität gebunden bleibt: Das zunächst bewunderte "Schauspiel" der Makrokosmosvision schlägt um in das "Schauspiel nur" des Makrokosmoszeichens; der zunächst als Stimme präsente Erdgeist verschwindet in dem Moment, als diese Stimme auf ihre Begreifbarkeit hin geprüft wird.
Und doch haben die ästhetischen Transformationen, die Faust schließlich zur Weltfahrt bewegen, stattgefunden. "Du hast mir nicht umsonst Dein Angesicht im Feuer zugewendet" sagt Faust bei seiner zweiten Begegnung mit dem Erdgeist in Wald und Höhle .

Ich habe Sie an diese Faustszene erinnert, weil ich glaube, daß es auch in der heutigen Debatte über neue Medien nötig ist, sich daran zu erinnern, daß es einen Unterschied gibt zwischen den ästhetischen Wirkungen und technischen Gegebenheiten von Medien.
Dies möchte ich im folgenden an der Diskussion über die elektronische Schrift, repräsentiert vor allem im Hypertext, verdeutlichen (D 07):
Ein Hypertext ist nicht einfach ein verlinkter Lesetext. Der Hypertext funktioniert zwar technisch als interaktive Verzweigung; diese Funktion kommt aber nur zur Geltung, wenn er topographisch wahrgenommen wird: als Fläche, die verschiedene Hot Spots aufweist, auf die der User mit seiner Maus klickt.
Der Hypertext transzendiert also die Schrift phänomenologisch in Richtung Bild. Dennoch sprach Walter Ong – und darin sind ihm viele gefolgt – von der "sekundären Oralität" der elektronischen Schrift.
Die Kriterien, die dieser Zuoordnung zugrundeliegen, sind technologischer Natur. Auf diese Vergleichsebene beziehen sich die geläufigen Abgrenzungen der elektronischen von der analogen Schrift (D 08):
Demnach wird die "analoge" Schrift als
- statisch
- passiv und
- linear
charakterisiert. Denn in der Tat sind Buchstaben auf Papier, technisch gesehen, unbeweglich, inaktiv und sukzessiv aufgereiht.
Die "digitale "Schrift hingegen wird als
- prozeßhaft
- interaktiv und
- verzweigt
beschrieben. Denn ihre technische Hervorbringung geschieht durch Algorithmen, die auf Usereingaben reagieren und je nach einprogrammieter Verknüpfung in verschiedene Richtungen weiterführen.
Phänomenologisch gewendet hingegen, verkehren sich diese Begriffsoppositionen leicht in ihr Gegenteil (D 08, Klick auf "Aspektwechsel").
Denn wenn man von der ästhetischen Wirkung auf den Rezipienten ausgeht, ergibt sich u.U., daß
– der vermeintlich statische Text der prädigitalen Ära (als dramaturgischer Spannungsbogen) eine höhere Dynamik aufweisen kann als der vermeintlich prozeßhafte Hypertext,
– die vermeintliche Passivität der analogen Schrift (als innnere Auseinandersetzung mit dem Gelesenen) weit mehr Interaktivität veranlassen kann als ihre elektronischen Spielarten
– und die vermeintliche Linearität des herkömmlichen Textes (als intertextuelles Verweisgeflecht) weit filigraner sein kann als die aufwendigsten hypertextuellen Vernetzungsvarianten.
Freilich kann es sich auch umgekehrt verhalten. Aber eben, daß es sich verhalten kann und nicht muß, ist ein klarer Hinweis darauf, daß der technologische Ansatz der Medientheorie einer Ergänzung durch den rezeptionsästhetischen bedarf. Erst die Interferenzen beider Perspektiven ergeben ein stimmiges Bild. Eine Kulturgeschichte der Schrift muß also beide umfassen, andernfalls kommt es zu wechselseitigen Verkürzungen.
Wie ein solcher Kombinationsansatz aussehen könnte, möchte ich an einem Theorem zeigen, das in einem Land, wo die Lehren von der Leere eine große Tradition haben, auf freundliche Aufnahme hoffen darf: das "Leerstellen"-Theorem, das von Wolfgang Iser im Anschluß an Roman Ingardens "Unbestimmtheitsstellen" entwickelt wurde (D 09). Isers "Leerstellen" waren ursprünglich auf literale Gegenstände gemünzt und sind aus der literaturwissenschaftlichen Debatte weitgehend verschwunden. Interessanterweise aber erfahren sie im aktuellen Diskurs über nichtliterale Gegenstände eine nachholende Rezeption .So im Bereich
– der Kunstgeschichte (D 09, Kemp und Böhm),
– der Filmtheorie (D 09, Bordwell – der das Phänomen an dem japanischen Filmemacher Ozu demonstriert – und Branigan);
– der Musikphilosophie (D 09, Macho)
– und auch der Theorie der neuen Medien (D 09, Zizek).
Warum kehrt das Interesse an diesem Theorem zurück, noch dazu in so breiter medialer Streuung?
Ich glaube, daß dies mit eben der Problematik zusammenhängt, die ich an Goethes Faust demonstriert habe, und die in der aktuellen Mediendebatte als ungelöst betrachtet werden muß: dem Erklärungsbedarf für das Zusammenspiel von technologischen und phänomenologischen Aspekten.
Wolfgang Iser (1976, S. 284) beschrieb die Struktur der literarischen Leerstelle als "Besetzbarkeit einer bestimmten Systemstelle im Text durch die Vorstellung des Lesers". Damit leistet er die geforderte Vermittlung: Die technische Beschaffenheit des Textsystems wird auf Eigenschaften geprüft, die ästhetische Wirkungen der Art erzeugen, daß seine Technizität transzendiert wird.
Nun bezog Iser das Phänomen ausschließlich auf die moderne Literatur, den polyperspektivischen Roman. Doch es läßt sich sowohl auf Schrift allgemein anwenden wie auch auf andere Medien.
Ich bleibe hier bei der Schrift: "Besetzbarkeit" einer Schriftstelle ist nicht erst durch ihre Literarizität gegeben, sondern bereits auf der Ebene der schieren Buchstabenerkennung.
Daß Texte uns zur Ergänzung von Leerstellen veranlassen, liegt schon in der Natur des Lesevorgangs begründet. Das ist nicht immer klar gewesen (D 10): Früher nahm man an, daß die Buchstaben beim Lesen sukzessive und lückenlos aufgenommen werden. Friedrich Kittler ist der Ansicht, diese Fehlannahme sei technikgeschichtlich bedingt gewesen: Die Tachistoskop-Experimente des frühen 20. Jahrhunderts hätten die Probanden gezwungen, die Zeichen der Reihe nach zu lesen, weil die Expositionsdauer viel zu kurz war, um anders überhaupt etwas zu erkennen. So sei die technikgeschichtliche Realität des maschinellen Schreibens im Experiment wiederholt worden.
Doch auch 100 Jahre maschinellen Schreibens später sind wir doch nicht so weit konditioniert worden, daß wir unsere Lesegewohnheiten entsprechend geändert hätten. Neuere Verfahren der Blickaufzeichnung – mit solchen Brillen etwa oder anderen Methoden des Eye-tracking – machen deutlich, daß auch die Augen des heutigen Lesers von einer Textstelle zur nächsten springen, wobei die Zwischenräume spontan mit Erinnerungsbildern ausgefüllt werden (D 11). Diese Ergänzungsleistungen können deshalb je nach persönlicher Situation des Rezipienten zu signifikanten Lesefehlern führen – so etwa, wenn eine studentische Hilfskraft beim Eintrag einer Warburg-Monografie in unsere Literaturdatenbank statt "Nachleben" der Antike "Nachtleben" tippt – und damit verrät, wo ihre Gedanken sind.
Zu ähnlichen Befunden führten schon die Versuche von Goldscheider und Müller 1893 – und zwar mit Tachistoskop-Experimenten (D 12): Je nach dem Grad der Ähnlichkeit der kurz präsentierten Zeichengruppen (Klick auf die "Zeichenkombinationen") war die Wiedererkennungsrate der Probanden höher oder niedriger (Klick auf "Ergebnisse").
Henri Bergson hat daraus weitreichende Konsequenzen für seinen Begriff einer imaginativen Erinnerung gezogen.
Er folgert (D 13, Klick ins Zitat,
"daß fließendes Lesen in Wahrheit ein Erahnen ist: unser Geist erfaßt da und dort schnell ein paar charakteristische Züge; den ganzen Zwischenraum füllt er mit Erinnerungsbildern aus, die er auf das Papier projiziert, wo sie die wirklichen gedruckten Buchstaben verdrängen, ersetzen, ja zu sein scheinen. So sind wir unaufhörlich schaffend oder rekonstruierend tätig".
Freilich ist das nur eine Analogie zu dem Modell von Iser. Seine "Leerstellen" beziehen sich nicht auf das buchstäbliche Schriftbild, nicht auf physiologische, sondern interpretatorische Vakuolen, die hermeneutische Kombinations- und Ergänzungsleistungen veranlassen. Daß diese aber nicht erst mit der Polyperspektivik des modernen Romans auftauchen, sondern zu den ältesten literarischen Verfahren überhaupt gehören, möchte ich an einem Autor zeigen, den der Altphilologe Wilamowitz-Moellendorff als "ersten echten Schriftsteller der griechischen Antike" bezeichnete, der aber zugleich immer wieder als radikaler Schriftgegener herangezogen wird: nämlich Platon. Es ist insbesondere Platons Dialog Phaidro, der in kaum einer Abhandlung zum Thema Schrift und Medienwechsel fehlt (D 14).
Diese Fokussierung der neuen Medientheorien auf Platons Phaidros hat ihren guten Grund: Hier finden wir alle Argumente zu den Vor- und Nachteilen von Aufzeichnungstechniken versammelt; und an der Rezptionsgeschichte dieses Dialogs läßt sich ablesen, wie unterschiedliche kulturhistorische Epochen das von Platon angesprochene Problem in Bezug auf die jeweils aktuellen Aufschreibesysteme zu verarbeiten gesucht haben (D 15).
Ich möchte deshalb kurz auf Platons Dialog eingehen und zunächst etwas zum historischen Kontext sagen.
Der Phaidros reflektiert den in Griechenland gerade erst vollzogenen Übergang von der Oralität zur Literalität (D 15: siehe Einführung des Leseunterrichts um 430 v. Chr.). Milman Parry war es bereits in den zwanziger Jahren des vorigen Jh. gelungen, den empirischen Nachweis für eine These zu erbringen, die seit August Wilhelm Schlegel immer wieder nur als Vermutung vorgebracht werden konnte: nämlich daß die homerischen Epen ursprünglich kein schriftstellerisches Werk seien, sondern dazu bestimmt waren, gesungen, also mündlich überliefert zu werden. Anhand von Feldstudien bei den jugoslawischen Guslaren, die seinerzeit als letzte lebenden Epensänger galten, zeigte Parry, daß charakteristische Stilmerkmale der homerischen Epen (formelhafte Wiederholungen, Rhythmik etc.) primär die Funktion hatten, besser im Gedächtnis behalten werden zu können – also nicht auf literarischen Formwillen, sondern die Erfordernisse einer oralen Mnemotechnik zurückgingen.
Parrys Beobachtungen sind vor allem durch die Veröffentlichung seines Schülers Albert B. Lord aus dem Jahre 1960 bekannt geworden. Geradezu schlagartig erschienen in den folgenden Jahren eine Reihe bedeutender Untersuchungen zur Medienabhängigkeit von kulturellen Äußerungsformen, insbesondere zum Verhältnis von Schriftlichkeit und Mündlichkeit (D 15, s. Literaturhinweise).
An Platon freilich scheiden sich bis heute die Geister. Wenn er im Phaidros die Schrift kritisieren läßt, so tut er dies m.E. nicht, wie insbesondere von Havelock und Ong behauptet wird, indem er die herkömmliche Oralität gegen die neue Literalität ausspielt, sondern indem er das neue Medium selbstreferentiell macht und mit dem neuen Medium die Aufmerksamkeit des Lesers für dessen Mängel weckt, so daß diese im Prozeß der Leküre transzendiert werden.
Es handelt sich hierbei um eine Frühform von Intertextualität – Jan Assmann nennt sie "Hypolepse" –, die den von der Schrift bewirkten Verlust an situativer Erfahrung, die die mündliche Rede mit sich bringt, durch literarische Strategien zu kompensieren sucht.
Just der vermeintliche Schriftgegner Platon ist für dieses hypoleptische Verfahren m.E. repräsentativer als jeder andere antike Autor. Seine Dialoge sind nicht, wie immer wieder gesagt wird, Versuche, die mündliche Rede unmittelbar in seine Texte einzuschalten, um ihren Schriftcharakter zu überwinden, sondern literarisch komplexe Gebilde. Wenn Platon Sokrates sprechen läßt, dann so, wie es die Postkarte Derridas zeigt (D 16), die die historischen Verhältnisse entstellt, aber dadurch zugleich eine philologische Fehlannahme richtigstellt: Platon diktiert Sokrates, d.h. er läßt seinen Lehrer, dessen mündliche Dialoge er eigentlich aufgezeichnet hat, literarische Sätze sagen.
Wie Platons literarische Überwindung der Nachteile der Schrift funktioniert, kann ich hier nur ausschnitthaft und in schematisch verkürzter Form darstellen (D 17):
Sokrates spricht in Platons Dialog mit Phaidros. Dieses Gespäch ist aber nur der Rahmen für ein anderes Gespräch (D 17, Klick auf "oral"): dem zwischen Theut und Thamus. Das sind der ägyptische Gott der Weisheit und der Schrift (den die Griechen Hermes nannten) und ein sagenhafter altägyptischer Gottkönig. Das Szenario hat Sokrates sich ausgedacht – er fingiert einen Mythos über die Erfindung der Schrift – eben jenen, auf den sich die erwähnten Abhandlung zum neuesten Medienwechsel immer wieder beziehen:
Sokrates' Erzählung zufolge (D 17, Klick oben auf "Kontext") soll Theuth seine Erfindung dem König gegenüber mit dem Argument angepriesen haben, sie werde die Ägypter "gedächtnisreicher" machen. Thamus aber soll laut Sokrates geantwortet haben, daß das Gegenteil der Fall sein werde: Die Schrift, sagt er, "wird den Seelen der Lernenden vielmehr Vergessenheit einflößen aus Vernachlässigung der Erinnerung, weil sie im Vertrauen auf die Schrift sich nur von außen mittels fremder Zeichen, nicht aber innerlich sich selbst und unmittelbar erinnern werden." Theuth alias Hermes habe ein zweifelhaftes Mittel gefunden, das die "Mneme" gerade dadurch schwächt, daß sie sie stützt (Fenster schließen, D 17, Klick auf "Übersetzungen"): Oukoun mnemes alla hypomneseos pharmakon heures.
Schon die zahlreichen Übersetzungsversuche zu dieser Stelle machen deutlich, daß sich hinter der vermeintlich klaren Aussage hermeneutische Abgründe verbergen: So übersetzt eine Übersetzergruppe den Satz (Klick auf "Gruppieren") "Nicht für das Gedächtnis, sondern für die Erinnerung hast Du ein Mittel gefunden", während die andere genau das Gegenteil sagt: "Nicht für die Erinnerung, sondern für das Gedächtnis ..." (Fenster schließen).
Noch komplizierter wird die Sache dadurch, daß Platon seine im Gespräch über das Gespräch (Klick auf "oral‘") enthaltene Schriftkritik (Klick auf "oral") seinerseuts schriftlich festgehalten hat:(Klick auf "literal‘‘").
Dieser Selbstwiderspruch ist viel diskutiert worden. Ich glaube nicht, daß Platon sich seines literarischen Tuns in einem just davon handelnden Text unbewußt war. Ich glaube vielmehr, daß er ein Verfahren vorführen will, wie mit Schrift über die im Dialog herausgestellten Begrenzungen der Schrift hinauszugehen ist. Dieses Verfahren operiert mit wiederholten Spiegelungen von Literalität und Oralität. Platon vollzieht damit eine Verschachtelung von Textebenen, die sich gegenseitig durch Rahmengebung relativieren und so jeweils als situativ bedingte Darstellungsebenen kenntlich machen. Die innere Verschachtelung des Textes setzt dabei eine Dynamik in Gang, die über ihn hinaus fortgesetzt wird: Es ist schlechterdings nicht möglich, den Platonschen Dialog zu lesen, ohne daß der Leser dieses schriftkritischen Werks daran erinnert wird, daß er selbst gerade Leser einer Schrift ist (Klick auf "literal‘‘‘").
Die Lektüre selbst wird als situativer Akt erlebt – was normalerweise nicht der Fall ist. Normalerweise vergessen wir unsere aktuelle Lebenssituation beim lesen. Hier fordert der Text ein Sitautionsbewußtsein heraus – ein "ich lese", das die Rezeption der Schrift aufgrund ihrer selbstreflexiven Struktur begleitet und somit die literarisch festgehaltene Oralität im Verhältnis zwischen Buch und Leser re-performiert.

Was geschieht nun mit solchen literarischen Erinnerungstechniken, wenn Sie auf digitale Medien übertragen werden? Bietet sich die Hypertextstruktur nicht geradezu an, um derartige Verschachtelungen zu realisieren?
In der Tat gibt es zahlreiche derartige Adaptions- und Überbietungsversuche Platons (D 18, Klick auf Bolter). Das Argument ist dabei immer wieder, daß der Hypertext die Lösung für die von Platon aufgezeigten Probleme der Schrift sei, weil er noch besser als Platons Dialoge Interaktivität ermögliche. Durch die Eingriffsmöglichkeiten in die Struktur von Texten entstehe eine "sekundäre Oralität", die die primäre an situativer Anpassungsfähigkeit noch übertreffe (D 19).
Das Argument geht zurück auf Walter Ong, den Freund und Schüler McLuhans, der im Anschluß an Havelocks Charakterisierungen der mündlichen Kultur der Griechen manche ihrer Charakteristiken wiederkehren sieht: Die elektronischen Medien dementierten demzufolge die von der Schrift bewirkte Distanzierung zwischen Autor und Leser; denn das globale Dorf biete Partizipationsmöglichkeiten, die die Merkmale der primären Oralität, Situations- und Adressatenbezogenheit, auf höherer Stufe erneuerten (1982, S. 136).
Wenn überhaupt, kann dieses Argument aber nur für andere als die bisher gezeigten Beispiele geltend gemacht werden, da diese keine Partizipations-, sondern nur a priori festgelegte Navigationsmöglichkeiten bieten.
Anders verhält es sich beim kollaborativen Hypertext, bei dem der Leser sich aktiv einschreiben kann. Hier ein Beispiel, das das an der University of Texas realisiert wurde (D 20):
Der User kann in die Rolle von Sokrates' Gesyprächspartnern schlüpfen – z.B. Gorgias (D20, Klick ins Bild und Gorgias wählen), und nun entweder der vorgegebenen Dialogstruktur folgen (Klick auf "Rhetoric is my Art") oder eigene Antworten per Email-Formular eingeben (Klick auf "I'll tell you what a rhetorician is", simulierte Eingabe, Klick auf "Send"-Button). Die eingebauten Userantworten erscheinen dann wiederum als vorgegebene Alternativantworten (siehe "Meanwhile..."). So verzweigt sich der Dialog dann gemäß der Dynamik der Leser-Zuschriften.

Was aber ist mit einer solchen Ermächtigung des Lesers literarisch gewonnen?
Nicht mehr und nicht weniger als eine faktische Besetzung der Leerstellen, die in der Auseinandersetzung mit einem vorgegebenen Text der kontrafaktischen Imagination vorbehalten waren. Sobald man anfängt, den Dialog interagierend umzuschreiben, wird man feststellen, daß er gar kein Gespräch war, sondern ein schriftlich komponiertes Gefüge von Fragen und Antworten, die gemeinsam teilhaben an einer wohlkalkulierten Dynamik, die zerstört wird, wenn man von der Dramaturgie abweicht.
Die Kombinationsoffenheit literarischer Leerstellen, die der Hypertext durch Verknüpfungen zu perfektionieren scheint, wird tatsächlich durch ihn nivelliert. Gerade weil die platonischen Dialoge invariant und nicht interaktiv sind, baut sich die Komplexität, die ich in meinem Schema angedeutet habe, in der Vorstellung des Lesers auf. Dagegen vollzieht die Nachgiebigkeit des Hypertextes gegenüber jedem Ebenenwechsel eine permanente Komplexitätsreduktion. Für enzyklopädische Anwendungen ist das – wie insbesondere Umberto Eco klar differenziert hat – ein enormer Vorteil, nicht aber unbedingt für ästhetische.
Es ist also kein Zufall, daß bisher trotz angestrengter Initiativen zur Förderung der Hypertext-Poesie kein einziger Versuch wirklich überzeugen konnte. Schon macht das böse Wort von der "Klickeratur" die Runde. Denn dasjenige, was den Appellcharakter der Lektüre sonst ermöglicht: das Absehen vom Schriftbild, das wird hier durch Funktionsaufladung der Oberfläche behindert.
Der Hypertext funktioniert nur als "Clickable Map", die als grafisches Objekt rezipiert werden muß.
Das heißt nun nicht, daß der Hypertext nicht auch Leerstellen aufbieten könnte, die eine ästhetische Transzendierung seines enzyklopädischen Charakters veranlassen. Doch hierfür sind Operationen vonnöten, die das vermeintlich Nebensächliche, das Erscheinungsbild der Schrift, betreffen: An der graphischen Oberfläche vollziehen sich alle maßgeblichen kreativen Innovationen des elektronischen Textes.
Während ein Leser von den Eigentümlichkeiten des Schriftbildes in der Regel absehen muß, um Texte zu verstehen – Aleida Assmann unterscheidet diesbezüglich das "reading" vom "gazing" –, muß sich ein Betrachter in die Oberflächengestalt versenken.
Spätestens seit Lessing, der sich wiederum kritisch mit Simonides' Formel "ut pictura poiesis" auseinandersetzt, wurde diese Beobachtung immer wieder zur systematischen Differenzbestimmung von Schrift und Bild herangezogen (Fenster schließen, D 21). Im Laokoon versucht Lessing, das Moment der Veranlassung von imaginativen Ergänzungsleistungen, das der Poesie aufgrund ihrer Nichtanschaulichkeit eo ipso eignet, auf die spezifisch anderen Verhältnisse der bildende Kunst zu übertragen, indem er den "fruchtbaren Moment" als den ergänzungsbedürftigen deklariert (Klick auf grauen Button). Das ist in diesem Beispiel der Moment vor dem Schrei – die Schlange beißt gerade erst zu, die Wirkung imaginiert sich der Betrachter Deshalb spricht Lessing vom "fruchtbaren Augenblick".
Goethe, der sich ebenfalls in die Laokoon-Diskussion eingeschaltet hatte, hält insofern an Lessings Differenzierung fest, als er davor warnt, literarische Leerstellen durch Bilder und umgekehrt piktorale Leerstellen durch Texte zu füllen: "Kupfer und Poesie parodieren sich gewöhnlich wechselweise", schreibt er seinem Verleger zur Frage einer illustrierten Faust-Ausgabe.
Dies hat ihn freilich nicht davon abgehalten, die "littérature-en-estampes" eines Rodolphe Töpffer – Vorläufer des Comic Strip – begeistert zu akklamieren (D 22). Er kann das tun, ohnen seinen Grundsätzen untreu zu werden, weil er in diesem Besipiel gerade nicht eine wechselseitige Parodierung der Medien erkennt, sondern eine reziprok verstärkte Unbestimmtheit, die sich zwischen Bild und Text auftut und dadurch die Imagination des Rezipienten ebenfalls in Anspruch nimmt:
Kritik äußert er einzig am Sujet (das schon in seiner Laokoon-Besprechung für ihn zentral war). Soret notiert: "Avec un texte moins frivole, Töpffer, ... serait capable d'imaginer des choses qui seraient au-dessus de nos conceptions". (Mit einem weniger frivolen Text wäre Töpffer fähig, etwas zu schaffen, das jenseits unserer Vorstellungen liegt.)
Wenn nun im Hypertext bildliche Elemente wieder zur Geltung gebracht werden (D 23) – und zwar nicht nur durch die Einbindung von Illustrationen, sondern auch als Schriftbild, als Typographie, so ist dies ein Merkmal, das in der bisherigen Hypertexttheorie kaum Beachtung gefunden hat: Schon der von Ted Nelson geprägte Begriff "Hypertext" betont die Struktur gegenüber der Form: Die Hypótaxis, die Tiefenschachtelung, ist es, die als technische Besonderheit hervorgehoben und in strukturalistischen und poststrukturalistischen Modellen erörtert wird. Was dabei aus dem Blick zu geraten droht, ist die Parataxis, die gleichzeitige Anordnung verschiedener Textelemente auf einer visuellen Ebene. Hierin liegt m.E. das bislang kaum beachtete Innovationspotential des elektronsichen Textes. Seine Neuigkeit erweist sich gerade da, wo er vergleichbares Altes herbeizitiert ('D 24).
Dem parataktischen Nebeneinander verschiedener Textebenen verdankte etwa die Marginalie in frühen Drucken ihre Inspirationskraft. Solche Paratexte entfalten Ihre Potentiale erst, wenn Sie mit einer Sensibilität für das Erscheinungsbild der Texte einhergehen.
Dezidierte Ansätze einer "visuellen Poesie", die permutative Lektüren veranlassen, gab es freilich schon sehr viel früher: Hier das Beispiel eines Kreuzworthymnus aus der Zeit Ramses VI., der nach einer beigefügten Leseanweisung sowohl horizontal als auch vertikal und spiralförmig zu lesen ist (D 25).
Folgt man der These von Ulrich Ernst, dann vollzieht sich die Tendenz zur Ikonisierung von Texten mediengeschichtlich immer just da, wo die Evolution der Schrift soeben eine höhere Abstraktionsebene erreicht hat.
So findet zum Beispiel im Gefolge des Buchdrucks, der grundsätzlich eine Tendenz zur Gleichförmigkeit des Schriftbildes einleitet, als Gegenbewegung ein deutlicher Aufschwung der Verbildlichung von Texten statt – hier als Beispiel die Gedächtnispforte von Spieß (D 26).
Und auf die Einführung der Schreibmaschine reagiert die konkrete Poesie mit figurativen Schriftbildern, die abermals signalisieren, wie die Aufmerksamkeit der Autoren für die neue Technologie eingenommen ist, so daß sie versuchen, ihr neue Ausdrucksmöglichkeiten abzugewinnen (D 27).
Nach Ulrich Ernst nimmt die konkrete Poesie das Desktop-Publishing mit seiner Amalgamierung von Autor und Layouter vorweg. Und seine These, daß die zunehmende Entkörperlichung der Schrift eine Re-Konkretisierung des Schriftkörpers nach sich zieht, ließe sich auch mit Verweis auf die neuesten Entwicklungen im Screendesign durchaus stützen (D 28): Diese Entwicklungen verleihen durch 3-D-Visulisierung dem Textbild eine neue Plasitzität (Klick auf "Swing"). Der Text wird hier buchstäblich zum "Clickable Object", dessen räumliche Dimensioniertheit nicht in der Flächigkeit der nächsten Hypertextebene verschwindet, sondern als räumliche ansichtig bleibt (Klick auf "Walking"). Dabei tendiert die Alphabetschrift zur vollständigen Autonomsetzung ihrer visuellen über die semantischen Aspekte: Der Schriftkörper ist nicht mehr nur (wenn überhaupt noch) Übermittler von Botschaften, sondern performiert sich selbst (Klick auf "Jump", an der Tastatur schreiben).
Es bleibt abzuwarten, ob sich aus solchen Verräumlichungstechniken eine neue Entwicklungsstufe visueller Poesie ergibt. Aus der bloß korrelativen Verknüpfung von Text und Bild jedenfalls, wie wir Sie derzeit meist vorfinden, geht sie gewiß nicht schon hervor – im Gegenteil: Unter dem Mandat der "User prompts" verschmelzen Lesen und Sehen zu einem reflexionslosen Reiz-Reaktionsprozeß. Es gibt aber durchaus Ansätze, die eben diese Tendenz ästhetisch konterkarieren.
Jeffrey Shaw etwa hat bereits 1988 mit "Legible City" visuelle Interaktivität und literale Reflexivität ästhetisch vermittelt (D 29). Seine Installation – der Besucher fährt mit einem Fahrrad durch virtuelle Standtlandschaften aus Worten und organisiert so seine individuelle Lektüre – greift die aktuelle Umstellung unserer Wahrnehmungsgewohnheiten auf, die zunehmend durch die Parallelität von Bild- und Textpräsentationen geprägt sind. Dabei zeigen neurologische Experimente, daß beim schnellen Wort-Bild-Wechsel der Tele-Medien unser Gehirn zwischen beiden Präsentationsformen manchmal gar nicht mehr umschaltet, sondern im Modus Wortverarbeitung Bilder analysiert. Die Architekturwerdung der Schrift trägt dem Rechnung (D 30).
Gerade die Unschärfe und Unbestimmtheit, die auftritt, wenn Texte figurativen Charakter annehmen, kann angesichts einer Rezeptionsgewohnheit, bei der sich das Gazing vor das Reading schiebt, neue Leerstellen eröffnen, und Assoziationen stiften, die vom Konkretismus der Bilder normalerweise zugedeckt werden. Das Schriftbild wird so zum Fenster in Bereiche, die sich der positiven Darstellung entziehen.

Ich hoffe, daß ich mit diesen kursorischen Ausführungen ein wenig deutlicher machen konnte, warum es mir wichtig scheint, den technologischen Ansatz der Medientheorie durch einen phänomenologischen zu ergänzen. Für unseren Untersuchungsgegenstand der Schrift ergab sich durch diese Ergänzung, daß die geläufige These von der "sekundären Oralität" revisionsbedürftig ist: Während die elektronische Schrift technologisch in der Tat Charakteristika der mündlichen Rede restituiert, vollzieht sie unter phänomenologischen Gesichtspunkten einen Schwellenübergang zur Bildlichkeit. Diese wiederum kann – je nachdem, wie sehr ihr ein Leerstellencharakter eigen ist – durchaus die Imagination anregen, und muß nicht, wie es den Bildschirmmedien oft vorgehalten wird, die Phantasie verkümmern lassen.
Es ist eben nicht die Technizität der Medien als solche, die kulturelle Veränderungen herbeiführt, sondern ihre Wirkung aufs Subjekt.
Und angesichts dieser Feststellung ist es fast unmöglich, diesen Vortrag, der mit Goethe begann, nicht Goethe abzuschließen (D 31).
Denn es ist der dichtende Naturforscher, der den erwähnten Grundgedanken in aller Deutlichkeiit herausgearbeitet hat. Daß er z.B. dem physikalischen Teil der Farbenlehre einen über die "sinnlich-sittliche Wirkung der Farben" an die Seite stellte, enthält auch im Kontext medientheoretischer Reflexionen paradigmatische Geltung. Ich will das an einem anderen Beispiel verdeutlichen, dem berühmten Gespräch über Fernrohre aus den Wanderjahren.
Es wird gerne herangezogen, um Goethes pauschalen Einspruch gegen technische Medien bei der Naturbeobachtung zu belegen. Aber was sagt Wilhelm in diesem Gespräch genau? Ich zitiere (D 31, Klick auf grauen Button):
„Ich habe im Leben überhaupt und im Durchschnitt gefunden, daß diese Mittel, wodurch wir unseren Sinnen zu Hülfe kommen, keine sittlich günstige Wirkung auf den Menschen ausüben. Wer durch Brillen sieht, hält sich für klüger, als er ist, denn sein äußerer Sinn wird dadurch mit seiner inneren Urteilsfähigkeit außer Gleichgewicht gesetzt“ .
Es ist hier von einem Ungleichgewicht die Rede zwischen äußerem Sinn und innerer Urteilsfähigkeit – z.B. indem ein Fernrohr uns Planeten so nahe vors Auge rückt, daß wir unsere Orientierung im natürlichen Raum verlieren. Entscheidend ist aber nun, daß Wilhelm nicht etwa regressive Konsequenzen aus seiner These zieht. Er fährt fort (Klick auf grauen Button):
»Wir werden diese Gläser so wenig als irgendein Maschinenwesen aus der Welt bannen, aber dem Sittenbeobachter ist es wichtig, zu erforschen und zu wissen, woher sich manches in die Menschheit eingeschlichen hat, worüber man sich beklagt.«
Das heißt, es wird nicht etwa der Illusion gehuldigt, auf die technischen Appparate verzichten zu können, die sich in die Menschheit "eingeschlichen" haben.
Goethe selbst war es ja, der das siebenfüßige Herschel-Teleskop, von dem hier die Abbildung eines Nachbaus zu sehen ist, benutzte, um von seinem Gartenhaus aus den Mond und die Planeten zu beobachten und kräftig für das Gerät warb, um einen Käufer dafür zu finden – allerdings erfolglos (weil das Gerät zu teuer war), so daß es mit seiner Hilfe 1813 an die neu gegründete Sternwarte in Jena gebracht wurde.
Statt also die Apparate aus der Welt zu schaffen, wird der "Sittenbeobachter" von Goethe angehalten, die Gründe zu analysieren, warum es überhaupt zu jenen Ungleichgewichten zwischen Innen und Außen gekommen ist. Und diese Analyse soll – darauf kommt es mir hier an – Konsequenzen haben:
Wilhelm resümiert (Klick auf grauen Button):
»Es gehört eine höhere Kultur dazu, deren nur vorzügliche Menschen fähig sind, ihr Inneres, Wahres mit diesem von außen herangerückten Falschen einigermaßen auszugleichen.«
Entscheidend ist also für Goethe die Weiterentwicklung der kulturellen Bedingungen, die mit den technischen Entwicklungen Schritt halten müssen, um jene Ausgewogenheit zu ermöglichen.
Freilich bleibt Goethe, wie Michael Mandelartz in einer luziden Analyse der Novelle gezeigt hat, skeptisch, was die Realisierung einer solchen "höheren Kultur" angeht – diese scheint allenfalls indirekt auf, in der präzisen Beschreibung der Ungleichgewichtsmomente, die durch die neuen Sehapparate erzeugt werden.
Ob wir also im Hinblick auf die Mittel, mit denen wir unseren Sinnen in der digitalen Ära zu Hilfe kommen (D 32), von einer "höheren Medienkultur" sprechen können, darf um so mehr bezweifelt werden.
Aber ich glaube, es wäre eine lohnende Aufgabe, unter Bezugnahme auf Goethesche Kriterien darauf zu reflektieren, wie wir sie erreichen könnten.