Peter Matussek

Erinnerungserfahrung und Mnemotechnik[1]

 


Vortrag 21.4.1996, Institut für Philosophie der Universität Kiel.

 

     
 

Ob ein Mensch Erfahrungen machen kann oder nicht, ist in letzter Instanz davon abhängig, wie er vergisst (Adorno an Benjamin, 29.2.1940).[2]

 

Ein beliebter Programmpunkt von Varietés und Fernsehshows sind Menschen, die sich durch eine überdurchschnittliche Gedächtniskapazität auszeichnen. Diese Mnemoniker haben bei allen individuellen, nicht selten pathologischen, Besonderheiten eines gemeinsam: sie wandeln Gedächtnisinhalte in visuelle Vorstellungen um, die sie an imaginäre Orte plazieren. Daß nämlich das auf diese Art Gespeicherte leichter abrufbar ist, lehrt die Erfahrung – und zwar eine uralte Erfahrung: Das Prinzip der loci et imagines ist die Grundlage der abendländischen Gedächtniskunst. Von den antiken Gedächtnisgebäuden über die Memoriatheater der Renaissance und die Tableaus der neuzeitlichen Naturgeschichten bis hin zu den topographisch organisierten Thesauri elektronischer Informationssysteme[3] stützt die Vorstellung eines Bildraums unser kulturelles Gedächtnis.

Indem wir uns dieser Vorstellung bei der Organisation und Speicherung von Wissen bedienen, sind wir ebenfalls Mnemonisten. Im Laufe unserer Kulturgeschichte haben wir ein hohes Maß an Geschicklichkeit entwickelt, Gedächtnisinhalte in kognitive Karten[4] zu übersetzen und von dort wieder abzurufen. Allerdings ist uns diese Fähigkeit derart in Fleisch und Blut übergegangen, daß wir sie als solche kaum registrieren – es sei denn, sie tritt uns in einem deutlich übersteigerten Grad entgegen. Und da wir unsere alltägliche Anwendung mnemonischer Prinzipien normalerweise nicht bemerken, wird uns in der Regel auch nicht bewußt, wodurch ihre Dienste erkauft sind: Für jede am Speichermodell orientierte Gedächtnisstütze gilt die paradoxe Regel, daß sie ihre Funktion um so besser erfüllt, je stärker sie von der Erfahrungsqualität des ihr eingeschriebenen Materials abstrahiert. Die Absehung vom individuellen Lebenskontext eines Phänomens ist die Voraussetzung dafür, daß es in ein allgemeines Merkschema überführt werden kann. Wer sich etwas einprägen will, muß es sich entäußern. Unser deutsches Wort "Auswendiglernen" bezeichnet dieses "mnemotechnische Dilemma" durchaus triftig; als Euphemismus erscheint demgegenüber die englische Bezeichnung "learning by heart".

Auf Herzlosigkeit beruht ja, der römisch-rhetorischen Überlieferung zufolge, schon die Erfindung der Gedächtniskunst: Simonides soll, nachdem er sich als einziger vor dem Palasteinsturz retten konnte, nichts Bewegenderes im Sinn gehabt haben als die nüchterne Entdeckung, daß die so grausam fixierte Sitzordnung des Gastmahls das Wiedererkennen der beteiligten Personen erleichterte.[5] So lehrt schon der Ursprungsmythos der Mnemotechnik, daß methodisches Einprägen die Mortifikation der Erfahrungsqualitäten zur Voraussetzung habe.

Die Geschichte ist um so merkwürdiger, als sie einem Menschen zugeschrieben wird, der berühmt war für seine Fähigkeit, Tote durch Klagegesänge in die lebendige Erinnerung zu rufen. "Weckung des Mitleids" wird noch von Quintilian als "besondere Stärke" des Simonides hervorgehoben.[6] Zweifel an der Dignität der rhetorischen Überlieferung sind deshalb berechtigt. Warum sollte einer, der mit seinen Threnoi über eine Kunst verfügte, emotionale Erfahrungen wiedererstehen zu lassen, Interesse an der Entwicklung eines Verfahrens haben, das dem Erinnern die Innerlichkeit nimmt? Daß "ein Dichter Neigung zu einem solchen Geschäft haben könnte", hält denn auch Friedrich Georg Jünger für "unwahrscheinlich; Dichter", schreibt Jünger, "heißt er ja eben deshalb, weil er nicht den erlernbaren Kunstgriffen der Mnemonik folgt, durch die Gedachtes zurückgerufen wird, sondern der Mnemosyne selbst, welche die Göttin des Erinnerns und, als solche, die Mutter der Musen ist."[7]

Philologisch lassen sich solche Versuche zur Ehrenrettung des Poeten übrigens durchaus absichern. Stefan Goldmann hat plausibel machen können, daß es sich bei den römischen Abhandlungen über die Erfindung der Gedächtniskunst um eine Legitimationslegende handelt, die das historische Material bewußt verfälschte, um Simonides zur "Projektionsfigur" eines sich wandelnden religiösen und ökonomischen Weltverständnisses machen zu können.[8]  Zwar findet sich auch in älteren Zeugnissen der Hinweis darauf, daß Simonides der Erfinder der Gedächtniskunst gewesen sei, bei Kallimachos etwa, was aber hier noch völlig unverbunden neben dem Bericht vom Einsturz des Skopas-Palastes steht, so daß die Annahme möglich ist, es habe sich urspünglich um eine ganz andere Kunst gehandelt.[9] Simonides selbst verweist gar auf die Einnahme von Drogen, um sein bekanntermaßen großes Gedächtnis zu erklären.[10]

Indessen wäre es zu einfach, Mnemosyne und Mnemonik gegeneinander auszuspielen. Als Fixierung von Erfahrungen partizipiert auch Dichtung an der Erbsünde der Gedächtniskunst, der Abstraktion von der empirischen Unmittelbarkeit. So notiert etwa Goethe auf der Campagne in Frankreich kurz und trocken:"Einige Dörfer brannten zwar vor uns auf, allein der Rauch tut einem Kriegsbild auch nicht übel."[11] Der Erfahrungsgehalt, der solchen Bemerkungen im Kontext eines schriftstellerischen Werkes zuwachsen kann, muß allemal erst wieder freigesetzt werden. Umgekehrt kann auch die nüchternste Merktechnik ein reichhaltiges Sensorium bergen. Der von Alexander Lurija diagnostizierte Mnemonist Schereschewski zeichnete sich durch die Eigenschaft aus, selbst abstrakte Ziffern als komplexe synästhetische Gebilde wahrzunehmen: Die 8 zum Beispiel war für ihn etwas "Harmloses, Milchigblaues, das Ähnlichkeit mit Kalk hat"[12]. Hier ist es nicht die Verknappung, sondern die übermäßige eidetische Aufladung der Gedächtnisinhalte, die ihre Erfahrungsqualitäten untergehen läßt. Schereschewski ertrank gleichsam in der Flut der Merkbilder – was ihm zum Beispiel enorme Schwierigkeiten beim Verstehen einfacher Geschichten bereitete.[13] Dies wiederum führte dazu, daß er bestimmte Techniken des Vergessens ausprobierte. So zum Beispiel das Aufschreiben von Dingen, die er nicht länger im Gedächtnis behalten wollte. Das klingt zunächst paradox, doch seine Begründung leuchtet ein: "Um sich etwas einzuprägen, schreiben die Leute es auf … Ich fand das komisch, und ich beschloß, das Problem auf meine Weise zu lösen: Hat jemand etwas aufgeschrieben, besteht für ihn keine Notwendigkeit, es sich ins Gedächtnis zu rufen; hätte er aber keinen Bleistift zur hand gehabt und so nichts aufschreiben können, dann hätte er es sich eingeprägt! Wenn ich etwas aufschreibe, weiß ich demnach, daß ich es mir nicht ins Gedächtnis zu rufen brauche."[14] Allerdings war diese Methode bei Schereschewski nicht besonders erfolgreich. Was ihm letztlich half, der Übermacht der Bilder zu entrinnen, war ein reiner Willensakt: "… wenn ich nicht will, daß ein Bild auftaucht, kommt es auch nicht."[15] Dies erst ermöglichte es ihm, die Gedächtnisbilder bei seinen zahlreichen Varieté-Auftritten nicht durcheinanderzubringen und seine mnemonischen Kunststücke fehlerlos vorzuführen.

Eine mangelnde Sinneskomplexität des Speichermediums ist offenbar nicht das Maß für die Deprivation der Erinnerungserfahrung durch Mnemotechnik. Es kann sich auch umgekehrt verhalten. Somit stellt sich die Frage, ob das Phänomen medientheoretisch überhaupt in den Griff zu bekommen ist – jedenfalls sofern wir unter Medientheorie den Versuch verstehen, von der Beschaffenheit der Speichertechniken homologisch auf die Erinnerungsqualitäten zu schließen. Die "Mediatisierung" unseres Gedächtnisses[16] funktioniert nicht wie ein Stempel, der den Subjekten seine Prägung aufdrückt. Das Erinnern ist vielmehr ein Prozeß, der sich durch eine mehr oder weniger starke Gegenbewegung zu den jeweiligen Speichertechniken auszeichnet. Diese Gegenbewegungen werden veranlaßt durch die Wahrnehmung einer Differenz zwischen unserer anthropologischen Befindlichkeit und den technischen Medien, auf die sie reagiert. Beide verändern sich in Wechselbeziehung zueinander, doch es ist ein verbreiteter Irrtum zu glauben, daß es sich dabei notwendig um einen Assimilationsvorgang handelt. Unsere Sinneskapazität hat sich in hunderttausenden von Jahren nur wenig verändert im Verhältnis zu dem, was die rasante Entwicklung der Informationssysteme ihr zumutet. Ihre relative Konstanz gegenüber den mediengeschichtlichen Innovationen sorgt für eine kontinuierliche Vergrößerung der Kluft zwischen dem äußeren Wahrnehmungsobjekt und dem, was wir aufzunehmen imstande sind. Ob freilich diese Diskrepanz als solche erfahren und somit zum Anlaß von Gegenbewegungen werden kann, das wird durchaus von der Struktur des jeweiligen Mediums beeinflußt. Im folgenden möchte ich diese Relation verdeutlichen, indem ich zwei historisch weit auseinandeliegende Stufen der Transformation von Rede in Schrift miteinander konfrontiere: die Dialogregie Platons (I) und den Hypertext-basierten Online-Dialog (II). Die theoretische Konsequenz des Vergleichs wird das Postulat einer systematischen Unterscheidung zwischen der Medialität des Gedächtnisses und der des Erinnerns sein (III).

 

I.

 

Schereschewskis Versuch des Vergessens durch Aufschreiben läßt sich als experimentum crucis für die Schriftkritik in Platons Phaidros (274c–275b)ansehen. Das Experiment schlägt, wie wir gesehen haben, fehl. Ist das ein Indiz für die Unangemessenheit der Befürchtungen Platons? Ich glaube im Gegenteil, daß sie durch das Unglück des Mnemopathen, dessen Unfähigkeit zu vergessen sein Erinnern behindert, bestätigt werden. Denn auch die im Phaidros angesprochene Vergessens-Problematik beruht auf einer Überdeterminierung des Gedächtnisses. Diese Problematik ist, das zeigt Lurijas Fallschilderung in aller Deutlichkeit, kein Spezifikum der Schrift, gegen die sich das pharmakon der Rede einsetzen ließe: Schereschewski hatte erhebliche Schwierigkeiten beim Verstehen mündlich vorgetragener Geschichten.[17] Platon ist sich – entgegen einer verbeiteten Überzeugung – der Tatsache durchaus bewußt gewesen, daß nicht die Entscheidung zwischen Schrift und Rede über falsches und richtiges Erinnern entscheidet, sondern allein der Gebrauch, der vom jeweiligen Medium gemacht wird. Um diese Beobachtung zu verifizieren, sei kurz auf die wichtigsten Passagen des Phaidros eingegangen.

Sokrates' Gesprächspartner wird darin eingeführt als ein mortifizierender Mnemoniker seines Gegenstandes, der Liebe: Er hat einen Vortrag des Lysias über dieses Thema gehört, den er Wort für Wort aufgeschrieben und auswendiggelernt hat. Nun möchte er an Sokrates ausprobieren, ob es ihm gelingt, so zu tun, als würde er die Rede frisch aus dem Gedächtnis reproduzieren. Es soll der Eindruck entstehen, als beruhe die Wiedergabe allein auf seiner Ergriffenheit durch das zuvor Gehörte. Doch die Deklamationsübung platzt. Sokrates, der bei der Erwähnung des Lysias von vornherein Verdacht schöpft, entdeckt die Kladde und schlägt vor, doch besser gleich diese vorzulesen.

Was hier schon in der Rahmenhandlung zum Problem gemacht wird: der fehlende Sachbezug des bloßen Auswendiglernens, das zeigt sich nun auch am Inhalt der vorgelesenen Rede: Sie traktiert das Phänomen der Liebe rein äußerlich, aus der Sicht des Nichtverliebten. Dieser, so lautet die Argumentation des Lysias, ist ein besserer Liebhaber als der Verliebte, da er sich stets zu kontrollieren weiß und somit auf die Bedürfnisse des anderen effektiv einzugehen vermag. Das Argument bildet eine genaue Analogie zu dem Sachverhalt, den ich eingangs als das "mnemotechnische Dilemma" bezeichnete: Wer die Dinge um ihre Erfahrungsqualitäten reduziert, kann sie sich am besten merken.

Sokrates' Reaktion auf das Repetitorium der Rede ist denn auch entsprechend gespalten. Er lobt die Diathesis, die "Anordnung", vermißt aber die Heuresis, die "ergreifende Idee" (236a). Gefallen findet er nicht an der Rhetorik, wohl aber am Redner, der ihm bei seinem Vortrag "vor Freude zu glänzen" schien (234d). Das Problem der Aufspaltung von Außen- und Innenaspekten bei der Verwendung von Gedächtnisstützen und die Frage ihrer Vermittlung bestimmt den ganzen weiteren Verlauf des Dialogs. Welche Lösung hat er zu bieten? Zeigt er uns einen Ausweg aus dem mnemotechnischen Dilemma?

Es hat zahlreiche Versuche gegeben, diese Frage positiv zu beantworten. Und das aufdämmernde Bewußtsein der Informationsgesellschaft, daß das Anwachsen ihrer elektronischen Gedächtnisse vergessen läßt, woran sie sich mit deren Hilfe eigentlich erinnern will, läßt uns derzeit eine Hochkunjunktur der Phaidros-Rezeption erleben. Dabei wird Platons Position zumeist so dargestellt, als verwerfe sie pauschal das Merkmittel der toten Buchstabenschrift im Namen der lebendigen Rede. Dies wäre freilich die Position des historischen Verlierers. Bedauernd hat man denn auch dem antiken Philosophen immer wieder auseinandergesetzt, daß unsere Abhängigkeit von Schriftlichem viel zu groß ist, als daß sie ernsthaft zur Diskussion gestellt werden könnte. Für den einzig möglichen Ausweg, Erinnerungsarbeit im Medium der Schrift, scheint Platon nicht zuständig.[18]

Zur Begründung dieser Einschätzung wird insbesondere auf den Mythos verwiesen, den Sokrates im Phaidros erzählt: Der altägyptische König Thamus verwirft die ihm zur Prüfung vorgelegte Kulturtechnik des Schreibens, da die Menschen, wie er sagt, "im Vertrauen auf die Schrift sich nur von außen vermittels fremder Zeichen, nicht aber von innen sich selbst und unmittelbar erinnern werden" (275a). Was demgegenüber zähle, sei allein die "lebende und beseelte Rede des wahrhaft Wissenden, von der man die geschriebene mit Recht wie ein Schattenbild ansehen könne" (276a). Nimmt man zu diesen Äußerungen noch den Siebten Brief hinzu, in dem Platon – wenn er denn wirklich der Urheber des Briefes ist – mit deutlicher inhaltlicher Parallele zum Phaidros feststellt, daß es von ihm selbst keine Schrift über dasjenige geben dürfe, worauf sein "Bestreben" gerichtet sei, so rundet sich das Bild vom Anti-Alphabeten ab: "läßt es sich doch", so heißt es da in Bezug auf das Wissen von den höchsten Dingen, "in keiner Weise, wie andere Kenntnisse, in Worte fassen, sondern indem es, vermöge der langen Beschäftigung mit dem Gegenstande und dem Sichhineinleben, wie ein durch einen abspringenden Feuerfunken plötzlich entzündetes Licht in der Seele sich erzeugt und dann durch sich selbst Nahrung erhält" (341c–d).

Nun sind aber immerhin doch diese Hinweise in Worte gefaßt, und Platon hat sie offenbar aufgeschrieben, weil er mit ihnen ein Phänomen in Erinnerung bringen wollte. Allein dies ist Anlaß genug, die These von seiner angeblichen Pauschalverurteilung der Schrift zu relativieren und von einer selbstbezüglichen Medienkritik auszugehen, die die Begrenzungen der Schrift dadurch überwindet, daß sie sie als solche zum Ausdruck bringt. Rückzug auf die mündliche Mitteilung ist denn auch nicht die Konsequenz aus der Schriftkritik des Phaidros . Die Fragestellung des Dialogs verläuft quer zu beiden Medien: Er will Kriterien benennen, wie Kunst und Kunstlosigkeit im Reden und Schreiben zu unterscheiden sind (274b). Auch die mündliche Rede wird ja, schon als Auftakt des Gesprächs, der Kritik unterworfen, sofern sie sich in mechanischer Reproduktion erschöpft. Wir müssen uns also zunächst auf dieses Feld der Erörterung einlassen, wenn wir in Abhebung davon das Spezifikum der platonischen Schriftkritik näher fassen wollen.

Das Gegenbeispiel zur schlechten, weil nur nach äußeren Ordnungskriterien abgefaßten Lysias-Rede gibt Sokrates, der sich beim Sprechen von einer inneren Dynamik leiten läßt, die aus zwei miteinander verbundenen Kernelementen der platonischen Anamnesis-Lehre hervorgeht: dem negativen der Aporie und dem positiven der Ergriffenheit der Seele.

Sokrates kann außer der bloß äußerlichen Diathesis auch die Heuresis in seine Rede Eingang finden lassen, weil er nicht schon weiß, was er sagen wird. Im Menon hatte er uns exemplarisch vorgeführt, warum dies der Erinnerungserfahrung zuträglich ist: Durch geschicktes Nachfragen hatte er die falschen, mechanisch dahergesagten Antworten des Sklaven hintertrieben, bis dieser, völlig ratlos geworden, verzweifelt ausrief: "Aber beim Zeus, Sokrates, ich weiß es nicht!" "Siehst du wohl", sagte dieser daraufhin zu Menon, "wie weit er schon fortgeht im Erinnern? … Indem wir ihn also in Verlegenheit brachten und zum Erstarren, wie der Zitterrochen, … haben wir vorläufig etwas ausgerichtet … Denn jetzt möchte er es wohl gern suchen, da er es nicht weiß; damals aber glaubte er, ohne Schwierigkeit vor vielen … gut zu reden" (84b).

Die Zerstörung des falschen Glaubens, gut zu reden, ist die Voraussetzung für wirklich gutes Reden. Sokrates stellt es denn auch den Musen anheim, ob es ihm gelingen wird, überzeugend über die Liebe zu sprechen (237a), das heißt, er stellt sich der eigenen Ratlosigkeit, die er ja schon zu Beginn des Gesprächs grundsätzlich in das Bekenntnis faßte, er könne noch immer nicht nach dem delphischen Orakel sich selbst erkennen (229e).

Die Öffnung für das nicht schon im Gedächtnis Präsente setzt nun einen anamnetischen Prozeß in Gang, bei dem Sokrates, nach seinen ersten Ansätzen sich selbst unterbrechend, konstatiert, daß "etwas Göttliches" ihn "angewandelt" habe (238c); bald fühlt er sich schon "nicht mehr fern von Dithyramben" (238d), und schließlich behauptet er gar, sich bremsen zu müssen, weil er "schon Verse spreche" (241e).

Diese Bemerkungen sind freilich nicht ohne Ironie zu nehmen. Denn was Sokrates bis dahin vortrug, sind nicht seine eigenen Überzeugungen, es ist nur ein improvisatorisches Spiel mit Lysias' These vom Vorteil der Nichtverliebtheit, die lediglich geschickter präsentiert wird. Zu seiner eigentlichen Rede findet Sokrates erst, als er sich positiv auf jenen "Wahnsinn" einläßt, der "durch göttliche Gunst verliehen wird" (244a): der leibhaftigen, erotischen Ergriffenheit vom eigenen Gegenstand.[19] Dies ist der zweite, positive Aspekt der Anamnesis-Lehre, der erfüllt sein muß, wenn eine Rede gut sein soll: Begeisterung durch das Wiedererinnertwerden der Seele an die einst geschaute Schönheit (249a–250c).

Beide Momente, die Verunsicherung durch die Aporie und die Affiziertheit von der "Sehnsucht nach dem Damaligen" (250c), Schönen, werden von Sokrates nicht nur als Voraussetzungen eines guten Redners genannt, sondern sie machen zugleich den zentralen Inhalt seines gegen Lysias gerichteten Arguments aus, nämlich daß ein Verliebter der bessere Liebhaber sei: Wenn einer, sagt Sokrates, "ein gottähnliches Angesicht erblickt oder eine Gestalt des Körpers, welche die Schönheit vollkommen darstellen: so schaudert er zuerst, und es wandelt ihn etwas an von den damaligen Ängsten, hernach aber betet er sie anschauend an wie einen Gott, und fürchtet er nicht den Ruf eines übertriebenen Wahnsinns, so opfert er auch, wie einem heiligen Bilde oder einem Gotte, dem Liebling" (251a). Der Inhalt der Rede ist also zugleich die Begründung für ihr rhetorisches Gelingen.[20]

Vor diesem Hintergrund sind die sich anschließenden Erörterungen darüber zu lesen, was "die Art und Weise, gut zu schreiben" sei (258d). Die Kriterien bleiben dieselben: Es muß ein Bewußtsein vom Ungenügen des Mediums geweckt werden, um den Leser für den Vorgang der Wiedererinnerung zu öffnen, und es muß der Schrift gelingen, durch ihren Gehalt die Seele zu affizieren.

Gibt es bezüglich des Scheiterns dieser Anforderungen einen prinzipiellen Unterschied zwischen den beiden Medien, wie er vielfach unterstellt wird? Ich behaupte, nein. Denn was der von Sokrates erfundene Mythos an der Schrift kritisiert: daß die Menschen sich mit ihrer Hilfe nur an äußere Zeichen klammern, nicht aber sich aus Eigeninitiative erinnern, das kann der mündlichen Rede ganz genauso widerfahren. Das sture Auswendiglernen und Reproduzieren ist es ja, das der Dialog von Anfang an kritisiert; und es ist diese äußerliche Gedächtnistechnik – gleich, ob sie mit oder ohne Schriftgrundlage vollzogen wird –, die den Kernpunkt der Angriffe gegen die Sophistik ausmacht. Ob nun Hippias damit prahlt, fünfzig Namen nach einmaligem Zuruf auswendig herunterleiern zu können, oder ob Phaidros eine Lysias-Rede abschreibt: beide Male geht es Platon darum, solche Merkmethoden der Sinnlosigkeit zu überführen – zunächst natürlich, weil die Inhalte sich als unwürdig erweisen, was aber seinen tieferen Grund darin hat, daß das bloße Reproduzieren selbst die Inhalte entwertet: Es verstellt deren anamnetische Selbstoffenbarung.

Der entscheidende Akzent des von Sokrates erzählten Mythos liegt denn auch auf der Gedächtnisproblematik – an der Schrift wird sie lediglich exemplifiziert. Daß sie die Menschen "gedächtnisreicher" machen werde: das ist es, was Thamus bezweifelt. Es handle sich bei der Schrift eben nicht um ein Mittel für die Stärkung, sondern nur für die Stützung – und das heißt letztlich Schwächung – des Gedächtnisses: Die Hypomnesis läßt die Mneme erlahmen und damit die zur Anamnesis benötigte Eigenbewegung der Seele.[21] Wir hatten am Beispiel des Mnemonisten Schereschewski gesehen, daß dies auch für solche Merktechniken gilt, die nicht schriftbasiert sind. Das Übermaß der Merkbilder drohte die Erinnerung selbst einfacher Sachverhalte zu verstellen. Umgekehrt hatte Schereschewski mit dem – der platonischen Argumentation völlig kongruenten – Versuch, durch Aufschreiben den Mechanismus des Vergessens auszulösen, wenig Erfolg. Neuere psychologische Untersuchungen kommen zu einem entsprechend uneindeutigen Ergebnis: Sie können zwar nachweisen, daß das Notizenanfertigen nicht per se, wie es Theut unterstellt, das Behalten fördert, konstatieren aber zugleich, daß ein bestimmter, nämlich relevanzorientierter Schriftgebrauch hierzu gleichwohl in der Lage ist.[22]

So wenig also Platons Kritik an den Hypomnemata für schriftliche Gedächtnisstützen allein gilt, so wenig geht bei ihm die Schrift in der hypomnematischen Funktion auf.[23] Seine Dialoge halten nicht einfach Informationen fest, sondern lassen bei ihren Lesern die Erfahrung des anamnetischen Prozesses aufs neue lebendig werden, indem sie sich literarischer Mittel bedienen. Diese spezifisch literarische Qualität der Dialoge Platons gilt es zu berücksichtigen, um zu verstehen, warum er seine Schriftkritik schriftlich äußern kann, ohne sich selbst zu widersprechen. Nach dem Urteil von Wolfgang Wieland gibt es "in der ganzen Geschichte der Philosophie … keinen Autor, der in gleicher Weise wie Platon die Kunst beherrscht hätte, Texte zu gestalten".[24] Wie dem auch sei – fest steht, daß der Phaidros in Abhebung zur Lysias-Rede, die nach rhetorischer Grundregel geschrieben ist wie man spricht, Sokrates eine Schriftsprache in den Mund legt.[25] Heute würde man sagen: er spricht wie gedruckt.

Das beginnt mit der Auswahl des Ortes, an dem die beiden Protagonisten sich zum Gespräch niederlassen (229a–b). Die von der Schriftform ausgehende Nötigung zur expliziten Situationsbeschreibung erhöht die Aufmerksamkeit für den atmosphärischen Kontext. Dieser wäre in einem "live"-Gespräch als Selbstverständlichkeit des gemeinsamen Erfahrungshintergrundes nicht erwähnungsbedürftig erschienen.

Auch die wechselseitige Profilierung der Standpunkte kann durch die Schriftform gezielter herausgearbeitet werden; die Befreiung von den Kontingenzen und Redundanzen der Alltagskommunikation intensiviert die Konzentration auf das Gesprochene. Abschweifungen und Straffungen, Sequenzen und Sprünge können so arrangiert werden, daß jeweils der dramaturgisch günstigste Effekt entsteht.

Insbesondere aber die selbstreferentielle Verwendung der Schrift – wie sie auch in den etymologischen Wortspielen und dem ironischen "Zitieren" von Mythen, die sich dann als spontane Erfindungen des Sokrates herausstellen, zum Ausdruck kommt[26] – sensibilisiert für die im Phaidros angesprochene Problematik. Sie unterminiert die hypomnematische Funktion des Mediums und diskreditiert seine falsche Verläßlichkeit als Gedächtnisspeicher.

Schrift und Rede, so resümiert Sokrates am Ende des Gesprächs, haben einen Samen, der aufgehen kann oder auch nicht. Wenn einer "Schriftgärtchen" anlegt, um Merksprüche vorweisen zu können, verwendet er Worte, die "unvermögend sind, sich selbst durch Rede zu helfen" (276c). "Wenn er aber schreibt, um für sich selbst einen Vorrat von Erinnerungen zu sammeln … und für jeden, welcher derselben Spur nachgeht, so wird er sich freuen, wenn er sie zart und schön gedeihen sieht" (276d).[27] Am besten jedoch sei es, "wenn jemand nach den Vorschriften der dialektischen Kunst, eine gehörige Seele dazu wählend, mit Einsicht Reden säet und pflanzt, welche sich selbst und dem, der sie gepflanzt, zu helfen imstande und nicht unfruchtbar sind, sondern einen Samen tragen, vermittelst dessen einige in diesen, andere in anderen Seelen gedeihend, eben dieses unsterblich zu erhalten vermögen…" (276e–277a).

Diese Intention übersteigt nach sokratischen Kriterien nicht das Vermögen der Schrift, sofern mit ihr richtig umgegeangen wird. Das vermag der Philosoph, dem es gelingt, "in Erörterung über das Geschriebene eingehend, demselben Hilfe zu leisten und redend selbst sein Geschriebenes nur als etwas Schlechtes darzustellen" (278c).

Der Phaidros, der diese Sätze in Schriftform bringt, demonstriert damit sowohl dem Inhalt wie der Form nach, daß das Medium gegen seine eigenen Begrenzungen ins Spiel gebracht werden kann. Indem er die Externalisierungstendenz der Schrift selbstkritisch hinterfragt, verfolgt er den von Sokrates' Schlußgebet artikulierten Wunsch, das Äußere möge dem Inneren befreundet sein.

Wenn Platon, wie Detlev Thiel im Anschluß an Josef Derbolav formuliert, eine "'heimliche' Medientheorie" hinterlassen hat,[28] so beruht sie auf dieser Kritik der Nichtidentität von Äußerem und Innerem. Ein entsprechender Medienbegriff hätte den dabei intendierten Transformationsprozeß als einen personal vermittelten zu konzipieren. Der kann freilich höchst unterschiedlich aufgefaßt werden. Das Wortfeld reicht von der Bezeichnung für Mittelspersonen in rituellen Praktiken[29] bis zum Terminus für Verbformen, die eine Interessiertheit des handelnden Subjekts ausdrücken, wie er schon von den antiken Grammatikern formuliert worden ist. Gemeinsam ist diesen Verwendungsweisen die Zwischenstellung zwischen Aktiv und Passiv, Subjekt- und Objektbezug. Auch die christliche Eucharistiefeier wird als Medium des Erinnerns angesprochen, indem sie ein Band zwischen Sein und Sinn herstellt.[30] In neuerer Zeit ist es zuletzt Benjamins Idee der Sprachmagie, die in einer heute preisgegebenen theoretischen Komplexität als "Medium" den Doppelaspekt von schöpferischem Ausdrucksakt und urvernehmlichem Ausgedrücktwerden bezeichnet.[31] Die Nähe dieses "Urvernehmens" zur platonischen Anamnesis wird von Benjamin explizit betont. Der entscheidende Unterschied freilich ist, daß bei Platon das Wort keine benennenden Rechte im Sinne des adamitischen Namengebens besitzt.[32] Was aber vergleichbar bleibt, ist die doppelte Inanspruchnahme des sich erinnernden – das heißt zugleich imaginativ schöpferischen und rezeptiv vernehmenden – Subjekts durch die Schrift. Sie fungiert im Phaidros als Medium insofern, als sie ihre eigene Unzulänglichkeit explizit macht und die Aufmerksamkeit des Lesers auf die Räume zwischen den Texten lenkt. Das rezeptive Innewerden von Ungesagtem veranlaßt Gegenbewegungen, Erinnerungen im Sinne des Hervorbringens.

Wie verhält es sich im Vergleich hierzu mit den aktuellen Formen der Verschriftlichung mündlicher Rede, der interaktive Hypertext? Worin besteht seine "Medialität"? Und welche Erinnerungsleitungen vermag sie hervorzubringen?

 

II.

 

Platons Phaidros erfreut sich, wie gesagt, unter den Theoretikern der neuen Medien großer Aufmerksamkeit. Das verwundert nicht, da sich das in dem antiken Dialog verhandelte "mnemotechnische Dilemma" heute zu einer kulturbestimmenden Größenordnung ausgeweitet hat: Die elektronischen Speicherverfahren haben mit ihrer Tendenz zur grafischen Benutzerführung und topographischen Wissensorganisation das alte Prinzip der loci et imagines universalisiert. Der Cyberspace präsentiert sich als gigantischer Gedächtnispalast, der immer weitere Lebensbereiche absorbiert und so das legendäre Simonides-Projekt der Mortifikation ihrer Erfahrungsqualitäten mit technischer Perfektion vollendet.[33] Die Rückwendung zur Frühgeschichte eines entsprechenden Problembewußtseins ist von daher verständlich. Und so hat der Mythos von Theut, diese gegen sich selbst gewendete Hypomnesis, mittlerweile auch seinen Platz im World Wide Web gefunden.[34] Aber kann er die ihm von Platon zugedachte Funktion in seiner neuen, digitalen Heimat noch erfüllen?

Er kann es sogar weit besser, meinen viele. Erst der interaktive Hypertext vermöge wirklich die Eigeninitiative des Lesers zu wecken, während Platons Dialoge die Lebendigkeit des Gesprächs letztlich doch nur mit monologischen Mitteln vortäuschten. "The form", schreibt etwa David Bolter über die Dialoge, "invites the reader to participate in a conversation and then denies him or her full participation."[35]

Grundlage dieser Argumentationen ist die These vom angeblichen Pauschalverdikt Platons über die Schrift, gegen die er die Überlegenheit der mündlichen Rede ausspiele. Ich hatte diese These in meiner Phaidros-Interpretation relativiert. Im Gegenzug sei nun gefragt, ob denn die Online-Kommunikation mit ihrer vermeintlich größeren Nähe zum Alltagsgespräch tatsächlich den Begrenzungen der Schriftform entgeht, auf der sie ja ebenfalls aufruht.

Als Beispiel wähle ich eine von namhaften Experten geführte Online-Konversation im World Wide Web, die das dabei verwendete Kommunikationsmittel selbst zum Gegenstand hatte.[36] Im Gegensatz zur notwendig seriellen Struktur der platonischen Dialoge konnten sich die Akteure im parallelen Web-Chat nach Belieben ins geschriebene Wort fallen. Ein unerfahrener Gesprächsteilnehmer indessen zeigte sich bald irritiert über die Streu-Effekte des Mediums: "… if I comment on Sven's point, we will then be three times removed from Carolyn's original passage. How will you represent such a complex nested quadralog when the comments appear not in serial form as in an ordinary conversation, but as an interlaced spiral. I feel trapped, because I can't say something to all of you at one time."[37]

Doch Carolyn, eine im kommunikativen Multitasking geübte Netzpartnerin, die die monierte Dreifachverstrickung noch "pretty tame by comparison" fand, wußte Trost: "it becomes 'natural' after a while"[38]. Daran ist nicht zu zweifeln. Es fragt sich nur, ob dieser Gewöhnungsprozeß wirklich erstrebenswert ist, ob er also Erfahrungspotentiale zu erschließen vermag, die in einem auktorial verfaßten Text untergehen müßten. Die erwähnte Gesprächsrunde offenbarte diesbezüglich ein Paradox, das mir symptomatisch zu sein scheint: Je vernetzter die Kommunikation, um so stärker ist ihre Dissoziation. Die virtuelle Gesprächsgemeinschaft zerfiel mit zunehmender Komplexität der Querverweise zu "interest affiliations" – wie es ein Teilnehmer formulierte.[39] Der Diskurs wurde nicht mehr durch die Komplexität des Gedankengangs bestimmt, sondern durch die von der Mehrzahl bevorzugten Verzweigungen. Was ins jeweilige Interessengeflecht nicht hineinpaßte, fiel durch die Maschen. Typisch ist ein Statement wie das folgende: "I'm happy to have Mark and others like him continuing on thinking whatever they like. What do I care? There's always William and others like him to talk to."[40]

Eine entsprechende Bemerkung werden wir in den platonischen Dialogen schwerlich finden. Sie beziehen ihre dramaturgische Spannung daraus, daß Sokrates nicht "happy" ist, vertraute Meinungen zu hören. Er interessiert sich vielmehr für das Ungereimte im scheinbar Selbstverständlichen und bringt die Aussagen seiner Gesprächspartner mit sich selbst in Konflikt. Dadurch entstehen intertextuelle Spannungen, die den Dekonstruktionsverfahren der Postmoderne durchaus näher stehen als die Hypertexte, denen sie häufig nachgerühmt werden. Die Logik dieser Zuschreibung ist allzu simpel, da sie den Textbegriff, der in der Tat dem des Netzwerks verwandt ist,[41] auf seinen technischen Außenaspekt reduziert. Erhellend ist sie einzig in ironischer Wendung: "decentering (oh, you mean multiple users), intertextuality (oh, hypertext), fragmentation (oh, me in the Parenting conference, me in the Eros conference), blurring (oh, object-oriented languages) …"[42]

Die Komplexität eines literarisierten Gesprächs wird durch ihre kybernetische Objektivation nicht repräsentiert, sondern parodiert: Der Web-Chatter hat die Fäden in seiner Hand, fehlt leider nur das geistige Band. Es genügt, die Seiten der falschen Gleichung auszutauschen, um ihre reduktionistische Trivialität zu offenbaren. "people", konstatieren Arthur und Marilouise Kroker, "have always been hypertext: fully linked, netted, downloaded, parallel processed, and interfaced."[43]

Zu den authentischsten Exponaten genuiner Hypertext-Literatur gehören denn auch solche, bei denen das Autor-Subjekt – nach dem Motto "Ich bin viele" – als Träger des Multiple Personality Syndroms  in Erschei­nung tritt, wie etwa in Shelly Jacksons Patchwork Girl.[44] Sie wirken aber belanglos, da die Kontrasteffekte zwischen sukzessiver Form und simultanem Gehalt, die den Reiz literarischer Strukturen ausmachen, hier getilgt sind. Während bei Platon die selbstkritisch gewendete Schrift der Intensivierung des Gesprächs diente, ist es hier umgekehrt: Die dem Gerede mit seinen Sprunghaftigkeiten und Oberflächlichkeiten angepaßte Schrift wird affirmiert; dadurch regrediert sie auf ihren buchstäblichen Mitteilungscharakter.

Mit diesen zugespitzten Bemerkungen soll nun freilich nicht gesagt werden, daß die Schrift im Zeitalter der neuen Medien grundsätzlich ihre Fähigkeit zur Selbsttranszendenz einbüßen muß. Es ging mir lediglich darum zu zeigen, daß eine Poetik des Hypertextes, die sich nicht in technizistischer Affirmation erschöpft, erst noch zu formulieren wäre. Sie hätte zu zeigen, daß Hypermedien mehr als optimierte Hypomnemata, perfektionierte Strategien der Informationsverarbeitung, sein können. Hierzu bedarf es einer Medientheorie, die zwischen der Medialität des Erinnerns und der von Gedächtnistechniken systematisch zu unterscheiden vermag. Deren Grundzüge sollen nun abschließend aus den vorgenannten Beobachtungen abgeleitet werden.

 

III.

 

Was wir zunächst aus der Untersuchung der Dialogbeispiele Platons und der Online-Kommunikation entnehmen konnten, ist die Notwendigkeit, zwischen hypomnematischen und anamnetischen Funktionen zu unterscheiden. Diese Unterscheidung vollzieht Platon am deutlichsten im Philebos (34a–b), wo er das "Bewahren der Wahrnehmung Gedächtnis (Mneme)" nennt und das wiedererlebende Vergegenwärtigen "Erinnerung (Anamnesis)". Entsprechende Differenzierungen, die auf eine Phänomenologie der Erinnerung vorausweisen, spielen philosophiegeschichtlich eine eher untergeordnete Rolle.[45] Es war Husserl vorbehalten, vom Gedächtnis als einer bloßen Art des Wissens das "Erinnerungsleben" als die vollzugshafte Verhaltung des anschaulichen Vergegenwärtigens abzuheben.[46] Hier ist weiterzugehen, indem dasjenige, was Husserl als evident und damit naiv als unmittelbare Gegebenheit beschrieb, hinsichtlich seiner Entstehungsbedingungen zu bestimmen. Das heißt, es muß gefragt werden, was der die Erinnerung auszeichnende Situationstyp ist – um eine Grundbestimmung von Hermann Schmitz' Neuer Phänomenologie aufzugreifen.

Der Begriff der persönlichen Situation, mit dem Schmitz Platons Begriff der Seele ersetzt, ist geeignet, die Differenzierung zwischen anamnematischer und hypomnematischer Medialität weiter zu präzisieren: Situationen, in denen Erinnerungen aufsteigen können, kennzeichnet Schmitz als "implantierende" im Unterschied zu den "inkludierenden" Situationen des Gedächtnisses.[47] Was heißt das? Obwohl ich weiß, daß Hermann Schmitz meiner Platon-Interpretation skeptisch gegenübersteht, möchte ich mir doch erlauben, seine terminologische Differenzierung anhand meiner Beobachtungen über den Phaidros zu verifizieren: Wenn Sokrates als entscheidendes Kriterium für den richtigen Gebrauch von Rede und Schrift angibt, daß er in der Seele des Betreffenden "Samen pflanzt", die in ihm zum Wachstum gelangen, so trifft das buchstäblich den "implantierenden" Charakter der hierdurch herbeigeführten Situation.[48] Erinnerungen entwickeln sich darin, so daß die Vergangenheit in ihnen – vermeintlich paradox – unvorhersehbar erscheint.

Im Gegensatz hierzu ist eine bloß "inkludierende" Situation eine solche, die lediglich durch externe Rahmenvorgaben gesteuert wird. Hierzu gehört das Auswendiglernen einer Rede ebenso wie ein bloß hypomnematischer Schriftgebrauch: Es erwächst daraus nichts Neues, es bleibt bei der puren Reproduktion von Kenntnissen und Verhaltensroutinen, so daß hier mit Recht von einer "Inklusion", einem Eingeschlossensein in festgelegte Orientierungsraster die Rede sein muß.

Wenn wir das nun auf unser Beispielmaterial anwenden, so fällt die Illusion, daß der Online-Dialog qua Flexibilität und performativer Offenheit der erfahrungshaltigere sei, rasch in sich zusammen. Beim interaktiven Hypertext handelt es sich eben in der Regel nicht um eine Weckung der Aktivität des Erinnerns als Frucht implantierender Situationen, sondern um ein relativ adressatenunbezogenes alphanumerisches Recycling. So einsichtsvoll die einzelnen Gesprächsbeiträge und Interventionen der Netz-Kommunikation auch sein mögen – sie richten sich nicht mehr primär auf die Anwesenheit des Gesprächspartners, sondern auf dessen hypomnematische Selbstdokumentation, auf die unter Selektion der jeweils relevant erscheinenden Textpartikel reagiert wird. Die Rede von der Auflösung des Autors, mit der Hypertext-Protagonisten ihr Medium als konsequente Weiterführung des postmodernen Dezentrierungspostulats preisen, verdeckt nur die Tatsache, wo das eigentliche Novum liegt: in der Auflösung des Lesers. Er mutiert von einem, der sich – nach einem Wort Heideggers – auf das Gelesene hin sammelt,[49] zum bloßen Sammler von Lesbarkeiten. Die "memex"-Technik, wie sie von ihrem Erfinder genannt wurde,[50] ist dazu prädestiniert, den Text des anderen als Datenbank zu rezipieren, aus der das jeweils Interessierende abgerufen wird ohne Rücksicht auf dessen Verankerung im Kontinuum seiner Lebensäußerungen. Hypermedien sind Gedächtnistechniken, ihre Verwendung übt ein in die Routinen der Informationsbeschaffung. Damit sind sie in besonderem Maße dazu geeignet, die Inklusionsmacht der Informationsgesellschaft zu reproduzieren, nicht etwa sie aufzubrechen.

Um diesen Vorgang begreiflich zu machen, ist neben der Unterscheidung von implantierenden und inkludierenden Situationen eine zweite Unterscheidung zu treffen: die zwischen technischen Medien und medialen Praktiken.

Der Gemeinplatz, daß ein Phänomen dann zum Objekt theoretischer Überlegungen wird, wenn seine Gegebenheit ihre Selbstverständlichkeit verliert, gilt auch für die Medientheorie. Solange es nur die klassischen Medien Schrift, Bild, Klang gab, traten ihre je spezifischen Vermittlungsleistungen sinnfällig zutage. Der Computer hat diese Sinnfälligkeit fragwürdig gemacht; seine sogenannte "Multimedialität" ist in ihren Auswirkungen schwer dingfest zu machen: Sie gibt sich proteisch. Insofern ist es nicht verwunderlich, daß die mit der Reflexion auf den Computer einsetzende Medientheorie auf einem sehr engen Medienbegriff aufbaut. Dies entspricht dem Bedürfnis nach einer klaren Konturierung des Ungreifbaren, nicht zuletzt auch der Abgrenzung von einer diffus erlebnisorientierten Hermeneutik des Sinns, die von der materialen Grundlage ihrer Vermittlungsleistungen absah. Daß in dieser allzu strikten Abgrenzung jedoch das Kind mit dem Bade ausgeschüttet wurde, können wir wiederum aus einem Vergleich zwischen dem Phaidros und den Online-Dialogen herleiten: Beider "Botschaften" gehen eben nicht schon aus ihrer medialen Struktur als solcher hervor. Vielmehr ist für beide der situative Kontext entscheidend. Platons Schrift aber reflektiert diesen Situationsbezug: Erstens durch die einleitende Schilderung der besonderen Umstände, unter denen Sokrates und Phaidros aufeinandertreffen, bei der etwa die sorgfältige Auswahl des Ortes auffiel, an dem sie sich zu ihrem Gespräch niederlassen. Sodann durch die Einbettung in einen spezifischen polemischen Kontext, nämlich die Kritik an der Rhetorik des Lysias. Schließlich durch die Beschreibung der unterschiedlichen Wirkungen, die die vorgetragenen Reden auf den Hörer haben, und an der wir als Leser des Dialogs nachvollziehend teilhaben. Zur "Medialität der Sinnwerdung"[51] gehören hier die konkreten Subjekte konstitutiv hinzu.

Das fällt im Online-Dialog weg. Die Begegnung im Cyberspace ist ortlos; es spielt keine Rolle, wo sich der jeweilige Terminal des eingeschalteten Kommunikationsteilnehmers befindet, noch aus welchem Lebenskontext heraus er sich äußert. All das bleibt in einer Netz-Begegnung normalerweise unerörtert. Freilich wird gerade das immer wieder als ein besonderer Vorteil ausgegeben: Die Nationalitäten und Kulturen überwindende Unmittelbarkeit der Begegnung im elektronischen Raum. Doch die fehlende Grenzerfahrung sorgt nicht für ein Mehr sondern für ein Weniger an Freiheit. Der Entfaltungsspielraum des Individuums, der sich im platonischen Dialog durch die Überwindung der technisch-medialen Begrenzungen realisiert, fällt in der Beliebigkeit der hypertextuellen Interventionen in sich zusammen.

Sichtbar wird dies freilich erst, wenn der Begriff des Mediums um seine subjektive Komponente erweitert wird. Eine Medientheorie, die dem gerecht zu werden versucht, wäre keine objektivistische "third person science" mehr, sondern eine "first person science", eine Wissenschaft, die aus der konkreten Lebenserfahrung der Betroffenen heraus die Wirkungen der von ihnen verwendeten Vermittlungsformen beschreibt.[52]

Eine Konsequenz hieraus wäre die Verabschiedung des am Modell von "storage and retrieval" gewonnenen Erinnerungsparadigmas und seine Ersetzung durch ein prozedurales Verständnis des Erinnerns als eines Innewerdens, das sich nicht in objektivierbare Inhalte und ihre physiologischen Äquivalente auflösen läßt. Eine zweite Konsequenz wäre die Erkenntnis, daß die Personalität des Online-Chatters eine entäußerte ist: sie existiert nur noch als technisch strukturierte und induzierte. Die reale Sitation des Menschen vor dem Terminal wird eingetauscht durch eine fiktive, eine Bildschirmexistenz. Nicht, daß diese nicht ihrerseits über das neue Medium reflektiert werden könnte. Hierzu bedürfte es allerdings einer bewußten Gegensteuerung, bei der die ausgeblendete Erfahrung der eigenen Leiblichkeit explizit eingebracht wird. Die Eigendynamik des Mediums aber verläuft in die andere Richtung: Genußvoll begeben sich Netsurfer ihrer biographischen Identität im Cyberspace, um sich als sogenannte "Avatars" zu re-, besser: de-inkarnieren.[53] Obwohl die ursprüngliche theologische Bedeutung des Wortes den wenigsten dieser elektronischen Avatars bekannt sein dürfte, ähneln die Beschreibungen ihrer Erfahrungen mit der neuen Identität bisweilen den Schilderungen über Wiedergeburtserlebnisse, wie sie etwa aus dem hinduistischen Samskara oder den Initiationsriten der Pythagoreer überliefert sind. Solange es also der Erleuchtung dient, mag Kritik verfehlt sein. Seit je war der Prozeß der Selbstfindung an Versuche der Selbsterfindung gekoppelt. Internet-Inkarnierer aber verfehlen den ekstatischen Effekt des Außersichseins, da sie ihre physische Existenz, das Dasein vor dem Terminal, schlichtweg ausblenden – im Gegensatz zu traditionellen Erinnerungstechniken, die auf einer Manipulation des körperlichen Empfindens beruhen. Selbst Platon hebt eindringlich das Erschaudern im Zustand der Aporie und das affektive Ergriffensein vom Zustand der Wiedererinnerung hervor.[54] Gerade die "körperlichen Dinge", schreibt Eliade im Hinblick auf Platons Anamnesis-Lehre, "verhelfen der Seele zur Besinnung auf sich selbst".[55] Die kybernetischen Avatars haben keinen Rezeptor, der sie als das ihm andere spüren läßt.

*

Die Defizite eines mechanischen Memorierens, das sich in Gedenkroutinen ergeht, ohne sich der Erfahrung ihrer Inhalte zu öffnen, sind aus gegebenen Anlässen viel beschriebenen worden. Zu überwinden sind sie nur, wenn wir das Phänomen des Erinnerns noch besser begreifen lernen. Die erwähnten Bausteine zu einer neuen Phänomenologie der Erinnerung – Berücksichtigung des Situationstyps, Einführung des Subjekts in die Medientheorie und lebensgeschichtliche Orientierung der wissenschaftlichen Beschreibungsverfahren, die der Leiblichkeit der Erinnerungserfahrung gerecht werden – sind hierfür unerläßliche Minimalvoraussetzungen.

Sie zu beherzigen wäre etwas, das man dann tatsächlich "learning by heart" nennen dürfte.

 



[1]Der vorliegende Text bildet das phänomenologische Pendant zu den medienkritischen Überlegungen, die ich unter dem Titel Zwischen Hypomnesis und Hypertext. Zur Medialität des Erinnerns veröffentlicht habe [in: Medien des Gedächtnisses. Sonderband der Deutschen Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1997].

[2]Adorno an Benjamin, 29.2.1940. In: Adorno, Theodor W. / Benjamin, Walter: Briefwechsel 1928–1940; hg. v. Henri Lonitz, 2. Aufl. Frankfurt am Main 1995, S. 417.

[3]Vgl. Stephen S. Hall: Mapping the Next Millenium; New York 1993. Vgl. Brenda Laurel: Computers as Theatre; Reading 1993.

[4]Ich verwende den Begriff der "kognitiven Karte" hier als "Repräsentation räumlicher Information im Gedächtnis" in Anlehnung an Hartl, Anton: Kognitive Karten und kognitives Kartieren. In: Freska, Christian C. / Habel, Christopher (Hg.): Repräsentation und Verarbeitung räumlichen Wissens; Berlin u.a. 1990, S. 34–46, hier S. 34.

[5]Vgl. Cicero; Marcus Tullius: Vom Redner / De Oratore. Lat. / Dt. Übers. u. hg. von Harald Merklin; 2. Aufl. Stuttgart 1991, S. 431ff.

[6]Vgl. Quintilianus, Marcus Fabius: Ausbildung des Redners [institutionis oratoriae], hg. u. übers. v. Helmut Rahn, 2. Teil, 2. Aufl. Darmstadt 1988, S. 455ff.

[7]Jünger, Friedrich Georg: Gedächtnis und Erinnerung; Frankfurt am Main 1957, S. 8.

[8]Goldmann, Stefan: Statt Totenklage Gedächtnis. Zur Erfindung der Mnemotechnik durch Simonides von Keos. In: Poetica 21 (1989), S. 43–66.

[9]Frgm. 64, V. 10 Pfeiffer.

[10]Vgl. Frgm. 77 Diehl. Vgl. Blum, Herwig: Die antike Mnemotechnik; Hildesheim / New York 1969, S. 44.

[11]Werke in 14 Bänden, hg. v. Erich Trunz. Bd. 11., 4. Aufl. München 1966, S. 223.

[12]Lurija, Alexander R.: Kleines Porträt eines großen Gedächtnisses. In: ders.: Der Mann, dessen Welt in Scherben ging. Zwei neurologische Geschichten; Reinbek bei Hamburg 1992, S. 147–249, hier S.165.

[13]"So war jeder Versuch, eine Textpassage zu verstehen, die Informationen aufzunehmen, die sie enthielt, für S. eine qualvolle Prozedur, ein Kampf gegen die unablässig auftauchenden Bilder in seinem Kopf. Folglich waren die Bilder für S. nicht nur eine Hilfe, sondern auch ein Hindernis beim Erkennen – sie lenkten ihn ab, hinderten ihn, das Wesentliche herauszufiltern…" (ebd., S. 220).

[14]Ebd., S. 193f.

[15]Ebd., S. 195.

[16] Vgl. etwa Paech, Joachim: Erinnerungsbilder im Medienkopf. In: Dencker, Klaus Peter (Hg.): Weltbilder - Bildwelten. Computergestützte Visionen. Dokumentation des Symposiums INTERFACE 2 in Hamburg; Hamburg 1995, S. 96–108.

[17]"'Nein, das ist zuviel', sagte er dann. 'Jedes Wort ruft Bilder hervor, sie überlagern sich, und es entsteht Chaos." Lurija, a.a.O., S. 190.

[18]Vgl. Assmann, Aleida / Assmann, Jan: Schrift. In: Ritter, Joachim / Gründer, Karlfried (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8 R–Sc; Basel Stuttgart 1992, Sp. 1417–1431, hier 1424f.

[19]"Wer aber ohne diesen Wahnsinn der Musen in den Vorhallen der Dichtkunst sich einfindet, meinend, er könne durch Kunst allein genug ein Dichter werden, ein solcher ist selbst uneingeweiht und auch seine, des Verständigen, Dichtung wird von der des Wahnsinnigen verdunkelt." (245a)

[20]Mit dieser organischen Verschmelzung von formalen und inhaltlichen Aspekten wird die Anleihe bei bestimmten poetischen Formen obsolet. Sokrates entschuldigt sich sogar im abschließenden Gebet an Eros dafür, daß seine Rede "im Ausdruck des Phaidros wegen etwas dichterisch abgefaßt werden mußte." (257a)

[21]In Borges' Erzählung Das unerbittliche Gedächtnis wird dieser Zusammenhang durch die fiktive Fallschilderung eines Mnemopathen verdeutlicht, der sein hypertrophes Gedächtnis durch einen Unfall erlangt, bei dem er gelähmt wird. (Borges, Jorge Luis: Das unerbittliche Gedächtnis. In ders.: Gesammelte Werke Bd. 3/I; München 1981, S. 173–181, hier S. 178). Renate Lachmann hat diese Erzählung in eine aufschlußreiche Beziehung zur Fallschilderung Lurijas gebracht in ihrem Aufsatz Die Unlöschbarkeit der Zeichen: Das semiotische Unglück des Mnemonisten. In: Haverkamp, Anselm / Lachmann, Renate (Hg.): Gedächtniskunst. Raum - Bild - Schrift. Studien zur Mnemotechnik; Frankfurt am Main 1991, S. 111–145; – vgl. dies.: Gedächtnis und Weltverlust - Borges' 'memorioso' - mit Anspielungen auf Lurijas 'Mnemonisten'. In: Poetik und Hermeneutik XV (1993), S. 492–521.

[22]Piekara, Frank H. / Ciesinger, Kurt-Georg / Muthig, Klaus-Peter: Notizenanfertigen und Behalten. In: Zeitschrift für pädagogische Psychologie 1 (1987), H.4, S. 267–280.

[23]Der häufig vorgetragenen Meinung, daß der wahre Redner Platon zufolge seine Kompetenz "voll nur im Gespräch ausspielen" könne (Platon: Phaidros. Übersetzung und Kommentar von Ernst Heitsch; Göttingen 1993, S. 192), vermag ich mich nicht anzuschließen. Vgl. zum aktuellen Stand der Diskussion: Hoffmann, Michael / Perger, Mischa von: Neues zu Platons "ungeschriebenen Lehren". In: Philosophische Rundschau 43 (1996), S. 97–132.

[24]Wieland, Wolfgang: Platons Schriftkritik und die Grenzen der Mitteilbarkeit. In: Romantik. Literatur und Philosophie, hg.v. Volker Bohn, Frankfurt am Main 1987, S. 24–44, hier S. 25.

[25]Michel Narcy bringt diese Positionsüberschneidung im Phaidros auf die Formel, "que Platon y donne d'abord un échantillon de l'art de Lysias, qui consiste à écrire comme on parle, puis fait parler Socrate comme un livre. Donner la parole de Socrate comme le modèle de la vrai rhétorique, c'est dire adieu à l'oralité". [Platon, l'écriture et les transformations de la rhétorique. In: Rossetti, Livio (ed.): Understanding the Phaedrus: Proceedings of the II. Symposium Platonicum; Sankt Augustin 1992, S. 275–279, hier S. 279.]

[26]Vgl. Heitsch, a.a.O., S. 125f. (zur Annahme, daß der Mythos von den Zikaden eine Erfindung Platons sei) und S. 241–257 (über die Wortspiele und Zitate). Daß das Gespräch zwischen Theut und Thamus fingiert ist, gibt Sokrates selbst zu (275b–c).

[27]Eben dies ist die zweckmäßige Verwendung von Hypomnemata, wie sie von Platon im Theaitetos (142c–143c) dargestellt wird.

[28]Thiel, Detlef: Platons Hypomnemata. Die Genese des Platonismus aus dem Gedächtnis der Schrift; Freiburg/München 1993, S. 245. Vgl. Derbolav, Josef: Platons Sprachphilosophie im Kratylos und in den späteren Schriften; Darmstadt 1972, S. 20f.

[29]Nicht nur in Spiritismus oder Hypnose: Vgl. Assmann, Jan: Der zweidimensionale Mensch. Das Fest als Medium des kulturellen Gedächtnisses. In: ders. (Hg.): Das Fest und das Heilige. Religiöse Kontrapunkte des Alltags. Studien zum Verstehen fremder Religionen 1, Gütersloh 1991.

[30]Vgl. Hörisch, Jochen: Brot und Wein; Frankfurt am Main 1991.

[31]Vgl. Benjamin, Walter: Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen. In: ders.: Gesammelte Schriften, Bd.II.1; Frankfurt am Main 1980, S.140-157, hier S. 142, 148 f. u. 157.

[32]Vgl. Benjamin, Walter: Ursprung des deutschen Trauerspiels. In: ders.: Gesammelte Schriften, I.1; Frankfurt am Main 1980, S. 203–409, hier S. 217.

[33]Vgl. etwa das Projekt Memopolis, das seine Datensammlungen unter dem Motto "Verewigen Sie sich!" in unfreiwilliger Selbstironie mit ägyptischen Grabmälern dekoriert und so als Bewahrungsanstalt für Mumien dekuvriert (http://rsls8.sprachlit.uni-regensburg.de/~c3055/MEMOPOLIS/polis.html).

[34]http://www.hfbk.uni-hamburg.de/interface3/paticipants/telematicWorkgroup/mesh/950807m1.html.

[35]Bolter, J. David: Writing Space; Hillsdale (NJ) 1991, S. 111. Ähnlich argumentiert David Kolb in seinem Story-Space-Traktat Socrates in the Labyrith (Cambridge 1995): Zwar hält er den antiken Philosophen schon für einen der größten nichtlinearen Denker des Abendlandes, aber er glaubt in Überbietung des mäeutischen Verfahrens zeigen zu können, "how argument and philosophy might be … gone beyond in hypertext." Der entscheidende Grund sei folgender: "Socrates tried to convert his listeners and bring them into the position of constant responsibility for their own and others’ discourse." Diese Eigenverantwortlichkeit könne aber von den platonischen Dialogen nicht eingelöst werden, da diese ja in ihrem Verlauf schon festgeschrieben seien. Der interaktive Hypertext hingegen gestatte dem Leser echte "decisions" über den Fortgang des Gesprächs.

[36] http://www.emedia.net/feed/95.05dialog1.html ff.

[37]Robert Stein, a.a.O.

[38]Caroly Guyer, a.a.O.

[39]Sven Birkerts, a.a.O.

[40]Stacy Horn, a.a.O.

[41]Auf diesen Zusammenhang, der im Begriff der "Textur" noch präsent ist, rekurriert etwa Roland Barthes mit der Feststellung: "La métaphore du texte est celle du résau" (De l'oeuvre au texte. In: Revue d'Esthétioque Nr. 3 (1971), S. 225–233, hier S. 230).

[42]McCorduck, Pamela: Sex, Lies, and Avatars. In: Wired 4 (1996), S. 160.

[43]Hacking the Future; New York 1996, S. 137.

[44]Watertown (MA) 1995. Dieser Hypertext-Roman entspricht in der Tat weitgehend dem klinischen Erscheinungsbild des MPS, wie es z.B. beschrieben wird bei Joan Casey: Ich bin viele; Reinbek bei Hamburg 1992 oder bei Michaela Huber: Multiple Persönlichkeiten; Frankfurt am Main 1995, die als eines der wichtigsten Kriterien für diese dramatische Form der Abspaltung und Verdrängung nennt, was auch den routinierten Web-Chatter auszeichnet: "Gut dissoziieren können" (S. 41).

[45]Zu nennen sind hier insbesondere Aristoteles, Augustinus, Hölderlin, Hegel und Kierkegaard. Neuere Anknüpfungen an diese Traditionslinie finden sich z.B. bei Friedrich Georg Jünger (a.a.O.) und Jacques Derrida: Mémoires. Für Paul de Man; Böhlau 1988.

[46]Vgl. Hong, Seong-Ha: Phänomenologie der Erinnerung; Würzburg 1993, hier S. 13f.

[47]Persönliche Mitteilung. Eine Publikation hierzu wird Hermann Schmitz demnächst in dem Band Höhlengänge vorlegen.

[48] Derridas Neologismus der "Intimation", mit dem er den Hegelschen Begriff der Erinnerung als "Innewerden" und "Sich-Innerlichmachen" ins Französische zu übersetzen sucht (vgl. a.a.O., S. 60), weist übrigens in eine ähnliche Richtung: die der Intimisierung und Privatisierung: Es geht um die subjektive Aneignung der gegebenen Daten. Folgerichtig ist auch sein Schriftbegriff unabhängig von der hypomnematischen Materialisiation: er bezeichnet eine Eigenschaft von Texten, die auch der mündlichen Rede zukommen kann, nämlich die, eine Spur der Abwesenheit wahrnehmbar zu machen, die zur produktiven Imagination einlädt. Vgl. auch Derrida, Jacques: Zu 'Between the Lines'. In: Libeskind, Daniel: Radix – Matrix. Architekturen und Schriften; New York 1994, S. 115–117, hier S. 115.

[49]Vgl. Heidegger, Martin: Was heißt Lesen? In: ders.: Gesamtausgabe Bd. 13: Aus der Erfahrung des Denkens 1910–1976, hg. v. Hermann Heidegger; Frankfurt am Main 1983, S. 111.

[50]Bush, Vannevar: As We May Think. In: Atlantic Monthly Nr. 176, July 1945, S.101–108.

[51]Thiel, a.a.O., S. 11.

[52]Vgl. Searle, John R.: The Mystery of Consciousness. In: The New York Review, November 2 (1995), pp.60–65 u. November 16 (1995), pp. 54–61.

[53]Dieses Phänomen habe ich ausführlich behandelt in meinem Aufsatz "Ich ist ein Avatar." Virtuelles Leben zwischen Eskapismus und Ekstase. In: Paragrana 4 (1997), Heft 1 [im Druck].

[54]Vgl. z.B. Menon 84b und insbesondere Phaidros 251a. Zweifellos lassen sich bei Platon auch Züge einer philosophischen Entpathetisierung der antiken Mysterienkulte ausmachen [vgl. Schlesier, Renate: Pathos und Wahrheit. Zur Rivalität zwischen Tragödie und Philosophie. In: Kultur und Gemeinsinn, hg. v. Jörg Huber und Alois Martin Müller, Frankfurt am Main 1994, S. 127–148]. Dabei handelt es sich jedoch nicht – wie die gängige Platonrezeption unterstellt – um eine rationalistische Eliminierung des schamanistischen Erbes, mit dem Platon über die Pythagoreer in Berührung gekommen war, sondern lediglich um dessen metaphysische Umgestaltung. Vgl. Dodds, Erec Robertson: Die Griechen und das Irrationale; Darmstadt 1970, S. 109.

[55]Die Mythologie des Erinnerns und des Vergessens, a.a.O., S. 36.