Peter Matussek

Was ist eine klassische Textverarbeitung?

 


Erschienen in: PAGE 6 (1991), S. 52–53.

 

     
 

Was allzu bereitwillig schöntut, kann – ehe man sich versieht – den Kopf verdrehen und am Ende den Geist rauben. Die Qualität einer Texverarbeitung bemißt sich nicht nur am Outfit des Outputs, sondern vor allem daran, ob sie der Inspiration beim Input dient. Peter Matussek befaßt sich seit längerem mit den theoretischen und praktischen Konsequenzen des Schreibens am Computer. Für PAGE hat er eine skeptische Trendeinschätzung formuliert.

 

Was ist ein benutzerfreundlicher Fahrstuhl? Douglas Adams hat die Frage in einer seiner Raumfahrtgeschichten beantwortet: Der Lift der Zukunft bringt uns unter nettem Geplauder ans Ziel, bevor wir überhaupt wissen, wo wir hinwollen. Wünschen wir aber doch einmal eine andere Etage zu erreichen, bietet er all seinen quasseligen Charme auf, um uns das vergessen zu machen ...

Was ist eine benutzerfreundliche Textverarbeitung? Leider oft genau das, was Adams zu seinem Science-Fiction-Spott inspirierte. Nach der Ära der "Klassiker", den Erstausgaben von WordPerfect, MacWrite oder MSWord, deren edle Einfalt ihre stille Größe ausmachte, ist ein neues Rokoko angebrochen, das keine andere Aufgabe zu kennen scheint, als unsere Sinne zu zerstreuen.

Wer etwa in Nisus schreiben will und seine Voreinstellungen macht, kommt sich vor wie ein Flugkapitän (Tower an Cockpit: "Zehnte Zwischenablage ausfahren und bestätigen!" – Klick, Klick, Klick). Microsofts Word, sonst vorbildlich nüchtern, wartet mit einem "Bildschirmtest" auf. Der ist bei Magenta als Hintergrundfarbe, Vierfachspiegel und 80er Dichte wirklich sehr hübsch – und total sinnlos . Kaum noch unterscheidbar von Adams' Fahrstühlen ist More II. In früheren Generationen ein gertenschlanker Ideenprozessor, kommt das Programm heute bunt aufgeputzt wie ein Geck daher. Als es mich auch noch mit "Hallo Peter" anquatschte, habe ich ihm gekündigt. Hinter solcher Anbiederung verbirgt sich oft nur Anmaßung. Das zum Alleskönner hochgejubelte RagTime kann zwar ein Wort in ein Tabellenfeld packen, es um 60 Grad rotieren und nach Belieben färben. Aber für eine schnöde Fußnote ist sich diese Waschmaschine zu fein. Als ich eine Examenskandidatin fragte, warum sie ihre Arbeit dennoch in RagTime schreibt, zumal der Export hier doch recht kompliziert ist, widersprach sie mir mit einem Fünfminutenvortrag über Rahmen und Pipelines ...

Eine unlängst durchgeführte Untersuchung ergab, daß mehr als zwei Drittel der Wissenschaftler, die sich von textverarbeitenden Programmen Erleichterung erhofften, statt dessen mehr zu nesteln hatten. Dazu Prof.Wehner, TU Harburg: "Über 80 Prozent der Befragten vermuten, daß dies eigentlich nur auf das von ihnen benutzte System zurückzuführen ist und die optimale Software noch aussteht. "

Ich fürchte, daß der Trend in der Textverarbeitung sich von einem möglichen Optimum eher entfernt, weil er in die Breite geht statt in die Tiefe. Wenn ich in einer Anzeige "100 neue Features! " lese, fasse ich das mittlerweile als Drohung auf. Es macht natürlich mehr her, mit einer Klammerausgleichskontrolle zu glänzen, statt den Schlampern, die so etwas nötig haben, eine zuverlässige Trennhilfe zu geben. Aber wie lange noch?

Zunehmend, scheint mir, begegnen auch Softwarepakete einem Überdruß am Überfluß. Die goldene Regel der Marktwirtschaft, nach der die Verpackung den Preis bestimmt, weicht auch in diesem Sektor der Forderung nach ökologischer Beschränkung.

Man muß sich ja nicht gleich in spartanische Frühzeiten beamen und, was immer häufiger geschieht, klammheimlich zu den Urversionen zurückkehren. Erfrischend an den antiken Klassikern aber war, daß sie, anstatt fehlende Substanz unter Schnörkeln zu verbergen, ihr Können ebenso schlicht zur Geltung brachten wie ihre Grenzen.

Was not tut, ist die Schaffung einer neuen, einer modernen Klassik, die sich auf das Wesentliche konzentriert. Die Qualität einer Textverarbeitung daran festzumachen, daß sie Töne von sich gibt oder Fließkomma-Berechnungen ausführt, ist etwa so, als messe man Einsteins Fähigkeiten als Physiker an seinem Geigenspiel. Derlei schlägt leicht zurück. So soll der bedeutende Pianist Artur Rubinstein dem fiedelnden Rechengenie nach kläglichem Zusammenspiel bescheinigt haben: "The problem with you is, Albert, you can't count."

Wahre Meisterschaft zeigt sich oft schon in den kleinen Dingen. Als klassisch bezeichne ich zum Beispiel die Microsoft-ldee, den Cursor bei Kursivschrift schräg zu stellen, um dessen richtige Positionierung nicht mehr der Intuition zu überlassen. Rokoko hingegen ist die Indizierungsfunktion von Word 4.0. Gregory Gordan, Marketingleiter bei Microsoft, mußte selbst lachen, als er mir sein work around erläuterte, und versprach Besserungen.

Die wichtigste Voraussetzung für eine klassische Textverarbeitung heute ist die Vervollkommnung des unzulänglich Vorhandenen. Hier sollten die Hauptanstrengungen der Entwickler liegen, um z.B. echtes (!) WYSIWYG und zuverlässige (!) Wörterbuch- und Trennhilfen bereitszustellen.

In welche Richtung aber künftige Entwicklungen zu gehen haben, welche Mittel die angemessensten sind, um das Schreiben am Computer auch qualitativ zu unterstützen, das läßt sich nur in steter Rückbesinnung auf den Zweck erfragen. Leider verhält es sich meistens umgekehrt: Der Zweck richtet sich nach den Mitteln. So etwa beim "Ghostwriter", den die Gesellschaft für Mathematik und Datenverarbeitung seit 1988 mit großem Aufwand entwickelt. Ihr erklärtes "Ziel im Bereich Textgenerierung ist die Implementierung von Systemen, die – ausgehend lediglich von Vorgaben des Benutzers zum Beispiel zur Inhaltsselektion – aus repräsentiertem Wissen komplette multimediale Dokumente als Roh- oder Endversion produzieren können."

Wer unter Schreiben noch so Altmodisches wie menschliche Autorschaft versteht, der wird andere Ansprüche an eine Textverarbeitung haben.

In funktionaler Hinsicht ist prinzipiell für eine transparente Technik zu plädieren. Das kann zum Beispiel heißen, daß eine automatische Silbentrennung den Anwender in Zweifelsfällen zur Intervention auffordert, statt unerkannte Fehler ins Dokument zu mogeln.

Das quasi geschichtslose Schriftbild von Computertexten, dem die Bearbeitungsspuren handgeschriebener "Manuskripte" fehlen, verbirgt orthographische und stilistische Fehler hinter einer Fassade der Ordentlichkeit. Gerade deshalb sollte die Entwicklung des elektronischen Schreibzeugs dahin gehen, die Eigeninitiative des Autors zu fördern, statt sie durch Vollautomatisierung zu schwächen. Die Sorglosigkeit beim Schreiben steht in einem umgekehrt proportionalen Verhältnis zur Qualität des Geschriebenen.

So ist das breite Grinsen "benutzerfreundlicher" Textverarbeitungen vielleicht nur das Zähneblecken einer Agression gegen die Schriftkultur.