Peter Matussek

Ästhetik – Aisthetik – Medienästhetik

 


Reclam: Leipzig 2012 [in Vorbereitung].


     
 

Ausgangspunkte dieser Einführung in die Medienästhetik sind drei mythische Urszenen der aisthetischen Erfahrung:

– Der ägyptische Gottt Theuth, den die Griechen Hermes nannten, erfindet die Buchstabenschrift, um das Gedächtnis der Menschen zu verbessern, und diskutiert seine Erfindung mit dem König Thamus, der sie ablehnt, weil sie die Eigenaktivität des Erinnerns verkümmern läßt, zugleich aber implizit die Bedingungen nennt, unter denen das geschmähte pharmakon anamnetisch fruchtbar gemacht werden kann (Platon, Phaidros 274e1–275b2).

– Der zypriotische König Pygmalion, enttäuscht von den wirklichen Frauen, schafft sich eine Geliebte aus Elfenbein, die als Erinnerungsbild seiner ureigenen Sehnsüchte Gestalt annimmt und unter seinen animierten Blicken lebendig wird (Ovid, Metamorphosen X).

– Der thrakische Sänger Orpheus hält in so hingebungsvollen Totenklagen das Andenken seiner verstorbenen Geliebten lebendig, daß sich ihm die Tore zur Unterwelt öffnen und ihm eine Wiederbegegnung vergönnt ist – solange er sie nicht mit Blicken festzuhalten sucht (Ovid, Metamorphosen X).

Es sind kurze Geschichten, eigentlich nur Episoden, die uns von Platon und Ovid überliefert wurden, und doch haben sie eine enorm reichhaltige Rezeption bis heute gefunden. Sie faszinieren uns, weil sie von einem unmöglichen Gedächtnis handeln, einem phantasmatischen Erinnertwerden durch Schrift, Bild und Klang an Unvordenkliches, das uns dennoch – wie beim Déjà Vu– seltsam vertraut vorkommt. In mythischer Einkleidung sprechen die drei Episoden aus, was wir alle beim Lesen von Texten, beim Betrachten von Bildern, beim Hören von Musik erfahren können: daß es eine Form des Erinnern gibt, die Vergangenes nicht wie aus einem Archiv abruft, sondern wie aus einer verborgenen Quelle spontan hervorströmen läßt, unter Umständen gefühlsintensiver und insofern "authentischer", als wir es je erlebt haben. Totes Speicherwissen wird in mysteriösen Akten energetischer Reanimation wieder lebendig.

In Anlehnung an eine Begriffsschöpfung des Biologen Richard Semon (1904), dem schon Aby Warburgs Mnemosyne-Atlas (1924–29) zentrale Anregungen verdankt, und der erst heute von der Gedächtnisforschung als "neglected pioneer" wiederentdeckt wird (Schacter 2001), bezeichne ich ein solches energetisches Erinnerungserleben als Ekphorie. Um deren kulturhistorische Dimension zu erfassen, ist freilich über den neurobiologischen Ansatz hinauszugehen. Dennoch liefert er selbst schon – bislang viel zu wenig beachtete – Ansätze zur Erklärung der phantasmatischen Komponente jeder Erinnerung: Da unser episodisches Gedächtnis nicht als fertiger Speicherinhalt vorliegt, sondern aus verstreuten Bruchstücken früherer Eindrücke besteht, treten spontan imaginative Ergänzungsleitungen unseres Gehirn in Kraft, die – je nach Art des Abrufreizes – aus Vergangenheit und Gegenwart ein lebensgeschichtliches Kontimuum, im narrativen Sinne des Wortes, performieren. Eine kulturwissenschaftliche Entsprechung hierzu sehe ich in der erinnerungsaktivierenden Funktion ästhetischer Leerstellen. Den von Iser (1971) entlehnten Begriff unterziehe ich dabei ebenfalls einer historisch-anthopologischen Erweiterung, die sich der Sache nach auf weit verzweigte, bis in die Antike zurückreichende Filiationen stützen kann.

Aufgrund ihrer Ereignishaftigkeit lassen sich Erinnerungen dieser Art zwar nicht inhaltlich fixieren. Dennoch gibt es genau beschreibbare Verfahren für die Ermöglichung ihres Zustandekommens. Deshalb spreche ich von Erinnerungstechniken. Diese zeichnen sich grundsätzlich dadurch aus, daß sie sich in bestimmter Weise destruktiv zu mnemonisch Gespeichertem verhalten: Das externalisierte kulturelle Gedächtnis muß subvertiert und aufgebrochen werden, um die für eine Erinnerungskultur notwendigen Erfahrungsgehalte freizusetzen.

Die Arbeit exemplifiziert dieses Prinzip an drei Beispielanalysen zu den Gedächtnismedien Schrift, Bild und Klang, um schließlich danach zu fragen, inwiefern sie auf das Universalmedium Computer übertragbar sind. Diese Beispiele sollen nicht nur beschrieben, sondern auch in ihrer sinnesspezifischen Medialität erfahrbar gemacht werden. Zu diesem Zweck erarbeite ich Computer-Präsentationen, die das evokatorische Potential von Schrift, Bild und Klang unter phänomenologischen, historisch-"analogen" und digitalen Gesichtspunkten zur Aufführung bringen.

Eine Vorstufe hierfür ist dieser Online-Essay aus dem Jahr 1999.