Peter Matussek (Hg.)

Gänge des Grauens.
Visuelle Belästigung an der Philosophischen Fakultät.

Fotos und Begleittexte zu einem Wettbewerb des Bereichs Schriftlichkeit.

 


Düsseldorf 2005..



Das pdf dieses von Michaela Kura gestalteten Buches können Sie hier downloaden (18,1 MB).

     
 

Vorwort

Es begann völlig arglos. Wir wollten eigentlich nur kurz mit einem Vertreter des Rechenzentrums die Wandelhallen unserer Fakultät begehen, um Installationsorte für ein Funknetz ausfindig zu machen. Die besten „Spots“ waren rasch ermittelt. Aber genauso rasch mußten wir einsehen: Wer sich in diesen Hallen irgendwo mit seinem Laptop hinsetzen wollte, um E-Mails zu checken oder ein wenig im Netz zu surfen, der müßte schon einen seltsamen Begriff von Gemütlichkeit haben. Da aber an unserer Fakultät nicht nur Horrorpunkfans studieren, machten wir eine weitere Begehung, diesmal in Begleitung des Brandschutzbeauftragten, um jenseits der vorgeschriebenen Fluchtwege Areale für mögliche Sitzgelegenheiten zu erkunden. Wir schauten also genauer hin; in Nischen und Ecken, auf die Architektur, auf das jeweilige Ambiente – und wurden zunehmend sprachlos. Sprachlos nicht nur über das Gesehene – dreckverschmierte Wände, tiefgaragenartige Betonkonstruktionen, schauerliche Atmosphären –, sondern sprachlos auch darüber, daß wir offenbar schon viel zu sehr habituiert waren, um die Verwahrlosung unseres alltäglichen Arbeitsumfeldes überhaupt noch zu bemerken. Jedes Wort, das wir dem Grauen kompensatorisch-jovial entgegenzusetzen versuchten, zerfiel uns im Munde wie Hofmannsthals berühmte modrige Pilze, die in den Pilzspuren vor unseren Augen ihr unappetitliches Memento hatten.

So kam es zu der spontanen Idee, wenigstens im Bild festzuhalten, was uns gequält verstummen ließ. Noch am selben Tag hingen die Poster zum Fotowettbewerb „23:Gänge des Grauens.“ (s. S. 13).

Unter den rund 80 Einsendungen gab es so viele denkwürdige Fotos, daß unsere Jury sich nicht auf nur drei Preisträger festlegen mochte. Auch stellten wir fest, daß es offenbar sehr verschiedene Zugangswege zum Thema gab. Während ein Teil der Fotografen auf die Dokumentation des Grauens fokussierte, schaffte es ein anderer (zu unserer Bewunderung), noch den häßlichsten Motiven Möglichkeiten der Ästhetisierung abzuringen. Ein dritter Teil half in beide Richtungen durch Maßnahmen der Inszenierung ein wenig nach (getreu der Devise Brechts: „Realismus heißt, mit allen Mitteln arbeiten, um an die Realität heranzukommen“). Alle diese Zugänge brachten Eindringliches hervor, und so vergaben wir Preise in jeder der drei Kategorien. Dem war ein langer und spannender Diskussionsprozeß vorausgegangen, zu dem sich sieben JurorInnen zusammensetzten: die ProfessorInnen

Monika Gomille (Anglistisches Institut), Andrea von Hülsen-Esch (Seminar für Kunstgeschichte), Peter Matussek (Germanistisches Seminar) und HansTheo Siepe (Romanisches Seminar), zwei studentische Vertreter – Daniel Wehner für die Rheinische Post und Katrin Wiesemann für den AStA – sowie Andreas Meske für das Hochschulradio.

Die Ergebnisse des Fotowettbewerbs präsentieren wir im vorliegenden Band. Dieser folgt allerdings einem anderen Ordnungsprizip als den zuvor genannten Kategorien. Da ich mich als zuständiger Professor für den Bereich „Schriftlichkeit“ unmöglich damit abfinden durfte, dem Grauen unserer Gänge sprachlos zu begegnen, machte ich die TeilnehmerInnen meines Kurses „Schreiben verschiedener Textsorten“ zu Versuchspersonen und schickte sie als Reporter, Kritiker, Glossisten, schließlich auch Haiku-Dichter wiederholt auf Motivsuche durch das Horrorambiente unseres Fakultätsgebäudes – bis die derart Gequälten aufstöhnten und fragten, ob sie nicht auch einmal über Themen wie z.B. „Jeder ist seines Glückes Schmied“ schreiben dürften.

Was dann auch geschah. Denn was könnte den erhofften pädagogischen Nebeneffekt besser demonstrieren als eine solche Gegenreaktion? Man kann sich dennoch – wie der kritische Schlußbeitrag in diesem Band – fragen, „was das Ganze bringt?“ Einen neuen Anstrich im alten NATO-Grün? Noch mehr Rauchverbotsschilder, die von Nikotinsüchtigen, längst abgehärtet gegen Morddrohungen, allenfalls gerührt zur Kenntnis genommen werden? Eine Sprengung der schlimmsten Architektursünden zugunsten eines schicken Neubaus?

Unser Anspruch ist bescheidener und zugleich ambitionierter: Wir wollen für unsere Arbeitsumgebung sensibilisieren – und damit allererst die Voraussetzung schaffen für eine neue Campuskultur, die von unserem Rektor in Kooperation mit dem Kunsthistorischen Seminar durch das „Kunstpfad“-Projekt dankenswerter Weise gefördert wird. Die Mauergänge, deren einziger Vorzug nach dem ironischen Urteil einer unserer Reporterinnen darin besteht, nicht durch Attraktivität von den studentischen Gedankengängen abzulenken, werden wir bestenfalls oberflächlich verschönern können (aber nichts gegen einen neuen Anstrich, Magnifizenz! Und wo wir schon bei den Details sind: Sogar das Toilettenpapier in anderen Fakultäten ist, wie einer unserer Investigationsjournalisten ermittelt hat, komfortabler!).

Worauf es mehr ankommt, ist das Bewußtsein für Atmosphären als solches. Denn damit konterkarieren wir eine Déformation Professionelle, der wir als Akademiker zwangsläufig ausgesetzt sind. Wenn wir Wissenschaft betreiben, konzentrieren wir uns notwendig auf die Informationen, nicht auf die Situationen, in denen sie vermittelt werden. Wohin das führt, illustriert Heinz Schaffer in seinem Buch Poesie und Wissen durch die Anekdote vom Kunsthistoriker, der im Sterben liegt: Der Priester kommt und hält ihm das Kruzifix vor die Augen. Der Kunsthistoriker hebt ein letztes Mal sein Haupt und haucht mit ersterbender Stimme: „Niederrheinisch, spätes 15. Jahrhundert.“

Situationsvergessen wie dieser Kunsthistoriker sind wir alle, wenn wir genau da sind, wo wir als Wissenschaftler sein sollen: in Gedanken. Gerade deshalb ist es nötig, sich immer wieder der Lebenskontexte zu versichern, in denen Wissenschaft stattfindet und für die sie stattfindet. Wenn ich oben von Verwahrlosung sprach, dann ist das eben nicht einfach eine Sache unreinlichen Revierverhaltens. Wer Korridore vermüllen läßt, demonstriert damit nicht unbedingt eine schlechte Kinderstube, sondern den Effekt einer lieblosen Umgebung – nach dem Motto: Wen kümmert’s?

Wir hoffen, mit unserer kleinen Aktion einen Beitrag dafür zu leisten, daß diese Frage künftig positiver beantwortet werden kann. Der äußerlich heruntergkommene größte Sprößling unserer Alma Mater hat mehr Aufmerksamkeit von ihr verdient. Solches Kümmern wird unfehlbar auf Wechselseitigkeit beruhen. Deshalb sei nicht nur den Akteuren, Helfern und Sponsoren, sondern auch den Adressaten der Aktion an dieser Stelle für ihr Engagement vorab herzlich gedankt.

Für das Team Schriftlichkeit

Peter Matussek