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Peter Matussek "Stolpern fördert." |
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»Stolpern fördert« – die
meist Goethe zugeschriebene, von diesem indessen als holländisches Sprichwort
ausgewiesene Maxime (Goethe 1903: 450) wird in der Ratgeberliteratur
für kreative Unternehmens- und Lebensführung neuerdings gerne aufgegriffen.
Eine Recherche zu dem Sprichwort fördert reichlich Belegstellen zutage, die
sich auf das vermeintliche Goethe-Zitat beziehen, um etwa Unternehmer und
Universitätslenker daran zu erinnern, dass Effizienzdruck Einfälle verhindert
(Ley/Michalik 2007: 83; Weigel 2004),
Politiker zur Ehrlichkeit in Krisen zu ermutigen (Pörksen 2004: 57) oder
Kranken Hoffnung zu spenden (Hörisch 2004; Anzag 2007).
Unsere hoch versicherte und dabei doch zunehmend
verunsicherte Lebenswelt entdeckt anscheinend aufs Neue, dass nicht Fehlerangst,
sondern Fehlertoleranz zu den besseren Lösungen führt (Kaim 2010), dass also Störfälle eine Inspirationsquelle sind.
Wie aber
sieht die Praxis aus? Lebt und handelt unsere Gesellschaft nach den
inspirationsfördernden Maximen? Eine symptomatische Antwort gibt die unlängst
ausgestrahlte Voting-Show »Die beste Idee Deutschlands« (Sat.1 2009). Unter dem von Victor Hugo entlehnten Motto: »Nichts ist stärker
als eine Idee, deren Zeit gekommen ist«, erhielten deutsche »Tüftler« die
Gelegenheit, einer Jury zu erklären, »warum die Welt gerade auf ihre Idee gewartet
hat« (ebd.). Von den rund 3.000 eingereichten Erfindungen setzte sich
schließlich eine als »beste Idee Deutschlands« beim Millionenpublikum durch und
gewann die Siegprämie von 50.000 Euro: Der ›Warnwürfel‹ – ein Kubus mit aufgedruckten Hinweisschildern,
der bei Pannen aufs Autodach geschnallt werden kann. Hier hat also tatsächlich
ein – vermutlich oft erlebter – Störfall zu einer Inspiration
– wie man Warnhinweise verbessern könnte – geführt. Wenn aber für
den Siegeszug einer solchen Idee »die Zeit gekommen« sein sollte, dann müssen
wir uns fragen, was den Inspirationsfunken derart klein hält.
Nach
Ulrich Beck leben wir in einer Risikogesellschaft – die er ja nicht etwa so nennt, weil sie Rimbauds Devise »lebe wild und
gefährlich« auf ihre Fahnen geschrieben hätte, sondern weil sie angesichts der
überwältigenden Gefahren der postindustriellen Moderne –
Klimakatastrophen, Wirtschaftskrisen, Waffentechnik – eine soziale
Wirklichkeit hervorbringt, die »nach einem Schematismus von Sicherheit und
Gefahr kognitiv strukturiert und wahrgenommen wird« (1987: 48). Ein
Vierteljahrhundert nach Becks Diagnose hat sich dieses kognitive Reaktionsmuster
mit seinen verschärften Anlässen weiter vertieft. Es penetriert inzwischen auch
die Dynamik der Ideenproduktion. Hölderlins Diktum: »Wo aber Gefahr ist, wächst
das Rettende auch« (1944: 181) gilt nicht mehr in einer Gesellschaft, die so
verängstigt ist, dass sie ihre kreativen Energien nur noch auf die Warnung vor
Gefahren und die Wegbereitung für Rettungskräfte richtet. Die europäische Politik schnürt immer
größere »Rettungspakete« für ihre maroden Finanzsysteme und stützt Diktatoren
in Nordafrika, um Wirtschaftsflüchtlinge zurückzuhalten.
[1]
In den Schulen wird der dreizehnte Jahrgang abgeschafft, um die Jugendlichen
ohne reflexive Umschweife in die Karrierebahn zu lenken. Und der
Wissenschaftsbetrieb entfernt sich panisch von der Humboldtschen Idee der Universität,
indem er seine Akteure nötigt, sich nur auf gratifikationssicherem Terrain zu
bewegen, um die eigene Ausstattung abzusichern – flankiert vom Deutschen
Hochschulverband, dessen Weiterbildungsangebote sich immer mehr auf Trainings
zur Selbstvermarktung und zum Zeitmanagement kaprizieren.
[2]
Dabei wird
freilich stets auch unterrichtet, wie wichtig Störfälle als Inspirationsquelle
sind. Aber solche Instruktionen sind heute ihrerseits von einem Sicherheitsdenken
imprägniert, das sie ad absurdum führt. Die Maxime »Stolpern fördert« wird
gleichsam mit Leitplanken versehen, die dem kreativen Zufall keine Chance mehr
lassen. Das ist die Crux bei der sie aufgreifenden Ratgeberliteratur. Sie
umzusetzen in »konkrete Handlungsanweisungen« für die Dauerfitness einer
»›permanenten Kreativität und Innovation‹ in Unternehmen« (Reinhard et al.
2007: Klappentext) um auf der Erfolgsrennbahn nur ja nicht ins Stocken zu geraten,
verkehrt ihren Sinn ins Gegenteil. Bereinigt vom kleinsten Steinchen des
Anstoßes, wird der Adept auf den Königsweg
Kreativität geschickt, zum Powertraining
für kreatives Denken mit beigefügtem »30-Minuten-Manager« (Luther/Gründonner
1998) rekrutiert und soll dabei auch noch Spaß haben, da »eine bunte und
ganzheitliche Mischung aus Kreativitätstechniken, NLP-Prozessen, Spielen,
Phantasiereisen und Denksportaufgaben, die Lust weckt, den inneren Reichtum zu
erleben und kreative Lösungen für alltägliche Aufgaben zu entdecken« (ebd.:
Verlagswerbung). Wie im Fall des ›Warnwürfels‹, der ja nicht etwa im Rahmen
eine Polizeisendung wie Der siebte Sinn,
sondern ausgerechnet in einer Unterhaltungsshow vorgeführt wird, ist auch das
Vergnügen am kreativen Spiel zu jenem »Stahlbad« geworden, das schon
Horkheimer/Adorno im kulturindustriellen »Fun« (1981: 167) erkannten.
Der affirmative Charakter dieser Kreativitätskonzepte ist
evident: Die Rennstrecke der effizienzorientierten Arbeitswelt wird nicht als
solche hinterfragt, sondern durch Kurvenbegradigung fürs störungsfreie
Mitlaufen auf der vorgezeichneten Bahn optimiert. Stolpersteine kommen nicht
als kontingente Inspirationsanlässe für individuelle Lösungsstrategien in
Betracht, sondern als Hindernisse, die es reaktionsschnell zu umfahren gilt.
Derart an die Kandare genommen, steht der Begriff der Kreativität selbst zur
Disposition.
Folgerichtig
hat die Zeitschrift für
Kulturwissenschaften unlängst eine Ausgabe dem Thema Kreativität. Eine Rückrufaktion gewidmet. In ihrem Vorwort
schreiben die Herausgeber:
»Aktuelle sozial- und kulturwissenschaftliche Diskussionen um einen ›neuen Geist des
Kapitalismus‹ [...] diagnostizieren einen expandierenden ›Glaube(n) an die
schöpferischen Potenziale des Individuums‹, der freilich weniger im Sinne einer
begrüßenswerten Demokratisierung verstanden, als vielmehr als ›Zivilreligion‹ des ›unternehmerischen Selbst‹ [...] identifiziert wird.
Charakteristisch für die zentrale Bedeutung von Kreativität in diesen
unverändert machtvollen gesellschaftlichen Verwertungszusammenhängen ist der
damit verbundene Imperativ – sei kreativ!« (Färber et al. 2008: 7f.).
Diesem »gouvernementalen« Kreativitäts-Imperativ stellen die
Autoren Joseph A. Schumpeters Formel vom »Prozess der
schöpferischen Zerstörung« entgegen (ebd.: 10), die auf Nietzsches
›Umwertung aller Werte‹ zurückgeht und in diesem Sinne auch die
Inspirationskonzepte der Kritischen Theorie geprägt hat. Walter Benjamins Engel der Geschichte ist ihre prominente
Leitfigur. »Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katstrophe«, die seine schöpferischen Impulse weckt: »Er möchte
wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen.« Der Sturm des Fortschritts jedoch, der sich »in seinen
Flügeln verfangen hat« (1974: 697f.), hat ihm diese inzwischen geknickt.
Benjamins Denkfigur verdankte ihr kritisches Potential der Unterstellung eines
Geschichtsoptimismus, der im posthistoire und erst recht in der Risikogesellschaft nicht
mehr gegeben ist. Seit die Störfallszenarien selbst zur expliziten
Legitimationsgrundlage gesellschaftlichen Handelns geworden sind, taugen sie
nicht mehr als Inspirationsquellen, sondern drücken auch dem kritischen Denken
ihre Logik der Gefahrenabwehr auf.
Gleichwohl
gibt es auch heute Evidenzen dafür, dass Störfälle als Inspirationsquelle
taugen – allerdings in einem anderen Sinne als dem bisher beschriebenen.
Dieser ist etwa an der schon legendären Erfolgsgeschichte von Apple-Chef
Steve Jobs abzulesen. In seiner Commencement
Speech an der Stanford University (2005) präsentierte er sie als eine
biographische Stolperstrecke, die ihn mit jedem Scheitern einen großen Schritt
nach vorne brachte: Verstoßen von den leiblichen Eltern, geriet er in eine
liebevolle Pflegefamilie, die seine Anlagen optimal förderte; das Versagen an
der High School gab ihm Raum für seine Leidenschaft, die Typographie, und
führte zur Gründung der Computerfirma, die die Desktop-Revolution einläutete;
gefeuert vom Vorstand seiner eigenen Firma, war er gezwungen, neue Firmen zu gründen, mit denen er die
Multimediatechnik revolutionierte, was schließlich zu der erneuten Anwerbung
durch Apple führte – mit dem bekannten Ergebnis, dass er sie zur zweitteuersten Firma
der Welt machte. Ohne die heftigen Störfälle seines Lebens, das konnte er am
eigenen Fall deutlich belegen, wäre er nicht so weit gekommen.
Was diese
Stolperstrecke eines Inspirierten von den Laufbahnen der Kreativitätstrainings
unterscheidet, ist insbesondere ihre Nichtplanbarkeit. Wir können heute die
Prozesse der Ideenproduktion bis in die Nervenenden hinein beobachten und dabei
feststellen, dass das Erleben der Ausweglosigkeit – sei es beim
Nachdenken über ein theoretisches Problem oder eine Lebenskrise – eine notwendige
Voraussetzung für die Ausbildung jener synaptischen Verbindungen ist, die
kreative Lösungen herbeiführen. Der Hirnforscher Wolfgang Singer spricht von
bioelektrischen »Zustände[n] hoher Synchronizität, Momente[n], in denen weit
verteilte Ensembles von Neuronen in gut synchronisierte oszillatorische Aktivität
einschwingen« (Ricard /Singer 2008: 104).
Lange vor
Singer hat schon Heinrich von Kleist eine ganz ähnliche Erklärung für diese
Neurodynamik gegeben. In seinem berühmten Aufsatz Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden führt
auch er die förderliche »Erregung des Gemüts« (1976: 881) in einer Situation der
Ratlosigkeit auf elektrische Potentialdifferenzen zurück, die sich im Moment
der höchsten Spannung – wie bei einer »Kleistischen Flasche« (ebd.: 882),
einem Kondensator also – plötzlich ausgleichen. Als Voraussetzung wird
auch hier eine Störfallqualität genannt, die das Individuum zunächst in völlige
Ratlosigkeit versetzt, wie es nach Kleist bei Mirabeau der Fall war, dessen »Donnerkeil«-Rede
ihm just in dem Moment einfiel, als seine politischen Handlungsroutinen durch
den Auftritt des Königsboten überrumpelt wurden.
Wir können
auch noch weit vor Kleist zurückgehen, um diesen Inspirationsmechanismus
erläutert zu finden. Die antiken Musen, die Töchter der Mnemosyne, galten als
inspirierend, weil sie Lesmosyne bringen, das Vergessen von Vergangenheit und Zukunft
(vgl. Hesiod 1933: V.55). Als wie wenig harmlos das zu verstehen ist, zeigt
sich daran, dass die Musen diejenigen, die sie besonders liebten, mit Blindheit
schlugen – einer äußeren Blindheit der Sehorgane zugunsten des inneren
Sehens.
Platons
Anamnesis-Lehre ist nichts anderes als eine rationalisierte Transformation des
mythischen Inspirationsmodells. Der Wirkmechanismus der sokratischen Mäeutik
beruht ebenso wie derjenige der Musen auf der Herbeiführung des Vergessens
zugunsten eines unvordenklichen Erinnerns: Durch gezielt destruktives Fragen
zerstört Sokrates die Doxa seiner
Klientel, das äußerlich aufgeschnappte Scheinwissen, um sie zur Selbstbesinnung
zu bringen. Das Durchgangstor zur Anamnesis aber ist die Aporie, die Ratlosigkeit
– ein durchaus unangenehmer Zustand, den schon Sokrates im Modell der
Elektrizität beschreibt, indem er ihn mit dem Stromstoß eines Zitterrochens
vergleicht (vgl. Menon 84b). Der
Hebammenkünstler ist sich bemerkenswert sicher, dass sein rhetorischer
Stolperkurs die gewünschte Anamnesis befördert. Als er z.B. im Menon den Sklaven in die Aporie
getrieben hat und dieser verzweifelt ausruft: »Aber beim Zeus, mein Sokrates,
ich weiß es nicht« konstatiert er in verblüffender Zuversicht: »Merkst du auch
wieder, mein Menon, auf welcher Stufe der Wiedererinnerung er sich bereits
befindet?« (ebd.) Das Staunen – griechisch: thaumázein – bezeichnet Platon deshalb als Beginn der
Philosophie (Theaitetos 155d).
Die Maxime
»Stolpern fördert« setzt voraus, dass dieser Taumel das Subjekt wirklich
ergreift und nicht nur als Fun-Faktor in Kreativitätsspielchen erlebt wird. Und
wenn wir uns ansehen, wie der vermeintliche Urheber der Maxime sie
kommentierte, wird der Unterschied zu ihren eingangs zitierten Adepten
deutlich. In einem Paralipomenon
zur Italienischen Reise notierte
Goethe »Holl. Spr. W. Stolpern fördert. Ital. Un calce in culo fa un passo avanti« (1903: 450). Übersetzt heißt
das, wenn man den Hörfehler »calce« zu »calcio« korrigiert, schlicht: »Ein
Tritt in den Arsch bringt uns einen Schritt weiter.« Mit seinem Tasso hat Goethe den tragischen
Zwiespalt der modernen Dichterexistenz ausgestaltet, der seine poetische
Inspiration aus dem Scheitern im gesellschaftlichen Leben bezieht: »Und wenn
der Mensch in seiner Qual verstummt, / Gab mir ein Gott zu sagen, wie ich
leide« (V. 3432f.). Ihm folgen Hölderlins Patmos-Hymne
und Grabbes Apologie der Verzweiflung (vgl. Broer et al. 1992) und Kierkegaards
Antwort auf die Frage: »Was ist ein Dichter? Ein unglücklicher Mensch, der
heiße Schmerzen in seinem Herzen trägt, dessen Lippen aber so geartet sind,
daß, während Seufzer und Geschrei ihnen entströmen, diese dem fremden Ohr wie
schöne Musik ertönen« (1993: 19). Beckett definiert
schließlich lapidar: »To be an artist is to fail, as no
other dare fail« (1965: 21).
»Stolpern
fördert« – den Satz richtig verstehen heißt, seine Unüberführbarkeit in
die Devise »mit Sicherheit zum Erfolg« begreifen. Dabei muss man sich freilich
nicht der existenziellen Verzweiflung der großen Dichter aussetzen. Es genügt
manchmal schon die Bereitschaft, sich der eigenen Ratlosigkeit angesichts der
Störfälle des Alltags zu stellen. Wie zum Beispiel die TV-Moderatoren Günter
Jauch und Marcel Reif, die das Halbfinal-Spiel der Champions
League 1998 moderierten: Kurz vor Beginn des Spiels – man war
schon live auf Sendung – fiel auf dem Platz ein Tor um. In den 76
Minuten, die es dauerte, bis das Tor restauriert war und der Anpfiff endlich
erfolgte, mussten die beiden Modertoren vor 13 Millionen Zuschauern
extemporieren – was ihnen so einfallsreich gelang, dass sie dafür später
den Grimme-Preis gewannen. Zu ihrer rhetorischen Glanzleistung befragt, gaben
beide die Auskunft, dass es just das Unvorhergesehene, das Fehlen jeder
Bewältigungsroutine war, was ihre Geistesblitze hervorrief.
[3]
Den
Fördereinrichtungen zur Ideenproduktion in der Risikogesellschaft ist deshalb
ans Herz zu legen, dass sie nicht wie Sicherheitsdienste operieren sollten.
Universitäten, die heute wie Unternehmen geführt werden – mit Effizienzkontrollen
und Zielvereinbarungen, Rankings und Output-Messungen – vernichten just
die Qualitäten ihrer Mitarbeiter, die der Quell inspirierten Forschens sind:
das Nicht-immer-schon-Bescheid-Wissen-wo-es-lang-geht, die Suspension vom Handlungsdruck, die Abkehr vom Realitätsprinzip –
nicht aus Gleichgültigkeit, sondern aus ästhetischer Lust an der Abundanz des
»Möglichkeitssinns« (Musil 1978: 16).
Joseph
Vogl hat dieser Haltung in seinem Essay Über
das Zaudern eine Huldigung gewidmet. Er schreibt:
»Während
das Zaudern in abendländischer Tradition immer wieder auf die Seite der
Unentschlossenheit genötigt und damit als eine launische Vereitelung des
›Werks‹ überhaupt disqualifiziert wurde, lässt es sich selbst als aktive Geste
des Befragens erkennen, in der das Werk, die Tat, die Vollstreckung nicht unter
dem Aspekt ihres Vollzugs, sondern im Prozess ihres Entstehens und Werdens
erfasst sind. […] Wo Taten sich manifestieren, wo Handlungsketten sich organisieren,
wird ein Stocken, eine Pause, ein Anhalten, eine Unterbrechung markiert« (2008:
24).
Dass das Zaudern unter Umständen einen hohen Preis hat
– im Falle von Angela Merkels Zaudern vor der Kreditbeihilfe für
Griechenland etwa eine Milliarde Euro täglich – ist kein Gegenargument.
Denn blinder Aktionismus ist die Welt unterm Strich gewiss teurer zu stehen
gekommen als das Zaudern.
Schwierig
ist die Verteidigung des Zauderns weniger gegen seine Feinde als gegen seine
falschen Freunde. Im selben Jahr wie Joseph Vogls Essay erschien das Buch Dinge geregelt kriegen ohne einen Funken
Selbstdisziplin von Kathrin Passig und Sascha Lobo, das mit dem Satz
anhebt: »Jedem Anfang wohnt ein Zaudern inne« (2008: 14). Doch es geht in
diesem Buch nicht um das Zaudern, sondern um seinen reflexionslosen Verwandten,
die »Prokrastination«. Der Terminus kursiert seit rund 30 Jahren in der
klinischen Psychologie und leitet sich ab aus dem lateinischen ›crastinus‹: dem morgigen Tag
zugehörig. »Prokrastinieren«
heißt also: für den nächsten Tag lassen und ist im Verständnis der Autoren nur
»ein angenehmeres Wort für Aufschieben« (ebd.). In diesem Sinne machen sie es
populär und treffen damit durchaus den Zeitgeist. Sie zitieren Untersuchungen,
wonach in den westlichen Ländern
»75 bis 95
Prozent aller Studierenden [angeben], wenigstens hin und wieder zu prokrastinieren,
fast 50 Prozent verschieben regelmäßig Aufgaben. Bei Studenten nehmen Prokrastinationstätigkeiten
etwa ein Drittel der wachen Tageszeit ein. Nach dem Studium bessert sich die
Lage, aber um die 20 bis 25 Prozent der Gesamtbevölkerung gelten immer noch als
harte Prokrastinierer« (ebd.: 16).
In ihrer Verteidigung der Prokratination gelangen die Autoren
durchaus zu kritischen Einsichten, wenn sie etwa schreiben: »Nicht der Aufschiebende
ist lebensuntauglich, vielmehr ist sein Umfeld mit falschen Erwartungen und
überkomplizierten Organisationsstrukturen verseucht« (ebd.: 45). Doch statt
diesen Antagonismus weiter zu hinterfragen, bleiben sie ihm in der Umkehrung
verhaftet. Sie sprechen vom »äußeren Schweinehund« und bekräftigen damit nur
die Rede vom inneren, mit dem die protestantische Arbeitsethik uns an der Leine
hält.
So reiht
sich das Buch eben doch in die Regale der Ratgeberliteratur ein, die unser
Funktionieren in der Leistungsgesellschaft sicherstellen sollen. Ebenso wie
diese erklärt es uns, »wie man Dinge geregelt kriegt« – nur eben »ohne
einen Funken Selbstdisziplin« und das heißt nicht etwa: durch Anpassungsverweigerung,
sondern durch die Zuversicht, dass die unerbittlich heranrückende Deadline ihre
Adrenalinspritzen schon bereithalten wird. Während das Zaudern ein Unbehagen in
der aktionistischen Kultur artikuliert und es reflexiv macht, ist das Prokrastinieren
Reflex einer – wie es im Fachjargon heißt – »Discomfort Anxiety«
(Ellis 2003).
Der
Prokrastinierer will nicht an den Konflikt von äußeren Anforderungen und
eigenen Impulsen erinnert werden; statt sich anamnetisch in die Aporie zu
begeben, reagiert er anästhetisch und
konserviert gerade dadurch das unerbittliche Gedächtnis der Agenden und
To-Do-Listen. Der Zauderer hingegen beschwört, wie Vogl schreibt, »ein
Gedächtnis des Nicht-Gewesenen« (a.a.O.), das heißt, er erinnert sich im
hegelschen Sinne des Sich-inne-Werdens eines Daseins jenseits der äußeren
Handlungszwänge.
Die
Essenz, derer es bedarf, um das Zaudern vom Prokrastinieren abzuheben, ist mit
der Nuance einer Lautverschiebung zu leisten: mit der Qualität des Schauderns. Nur die erlebte Aporie, das
leibhaftige Erzittern unter der eigenen Ratlosigkeit, kann jene elektrische
Spannung erzeugen, die zur Zündung des Inspirationsfunkens nötig ist. Aus
keinem anderen Grunde heißt es in Goethes Faust:
»Das Schaudern ist der Menschheit bestes Teil« (V. 6272).
Wenn heute
die Instanzen zur Förderung der Ideenproduktion in Politik, Wirtschaft und
Wissenschaft durch Ressourcenverknappung den Effizienzdruck erhöhen und dies
mit Maximen à la »Stolpern fördert« legitimieren zu können glauben, haben sie
ihren Goethe nicht richtig gelesen. Das Schaudern, von dem er – auch in Bezug
auf die spontane wissenschaftliche Eingebungen – spricht (vgl. Matussek
2010), setzt die Freiheit von administrativen Kontrollzwängen und
Zielvereinbarungen voraus. Diese schnüren unter dem Vorwand einer Absicherung
gegen Störfälle jene Inspirationsquellen ab, die erst zu sprudeln begönnen,
wenn ein Geistesarbeiter sich ungestört den verstörenden Erfahrungen seiner
Aporien aussetzen könnte. Es wäre zum Besten der Menschheit.
Anzag (2007): »Fehler als Chance - Aus Beck, Ulrich (1987): Risikogesellschaft.
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[1]
Bis
zum Jahreswechsel 2010/11 galt das noch. Ob angesichts der Revolten in Nordafrika
ein Umdenken stattfindet, ist derzeit noch nicht abzusehen.
[2]
Ein Stichwortauszug aus dem aktuellen
Seminarprogramm: »Selbstpräsentation«, »Konfliktmanagement«, »Fundraising«,
»Nebentätigkeitsrecht«, »Projektmanagement«, »Professioneller Stimmgebrauch«,
»Forschungsförderung strategisch nutzen«, »Medientraining«, »Zeit- und
Selbstmanagement«, »Potentiale nutzen! Bewerbungstraining« u.s.w. Siehe http://www.karriere-und-berufung.de/cms1/termine. html, 01.03.2011.
[3]
Siehe http://www.youtube.com/watch?v=cdzzf4Plj_I, 01.03.2011.
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