Peter Matussek

"Stolpern fördert."
Störfälle als Inspirationsquelle

 


In: Zeitschrift für Kulturwissenschaft 2 (2011), S. 63–71.

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»Stolpern fördert« – die meist Goethe zugeschriebene, von diesem indessen als holländisches Sprichwort ausgewiesene Maxime (Goethe 1903: 450) wird in der Ratgeberliteratur für kreative Unternehmens- und Lebensführung neuerdings gerne aufgegriffen. Eine Recherche zu dem Sprichwort fördert reichlich Belegstellen zutage, die sich auf das vermeintliche Goethe-Zitat beziehen, um etwa Unternehmer und Universitätslenker daran zu erinnern, dass Effizienzdruck Einfälle verhindert (Ley/Michalik 2007: 83; Weigel 2004), Politiker zur Ehrlichkeit in Krisen zu ermutigen (Pörksen 2004: 57) oder Kranken Hoffnung zu spenden (Hörisch 2004; Anzag 2007). Unsere hoch versicherte und dabei doch zunehmend verunsicherte Lebenswelt entdeckt anscheinend aufs Neue, dass nicht Fehlerangst, sondern Fehlertoleranz zu den besseren Lösungen führt (Kaim 2010), dass also Störfälle eine Inspirationsquelle sind.

Wie aber sieht die Praxis aus? Lebt und handelt unsere Gesellschaft nach den inspirationsfördernden Maximen? Eine symptomatische Antwort gibt die unlängst ausgestrahlte Voting-Show »Die beste Idee Deutschlands« (Sat.1 2009). Unter dem von Victor Hugo entlehnten Motto: »Nichts ist stärker als eine Idee, deren Zeit gekommen ist«, erhielten deutsche »Tüftler« die Gelegenheit, einer Jury zu erklären, »warum die Welt gerade auf ihre Idee gewartet hat« (ebd.). Von den rund 3.000 eingereichten Erfindungen setzte sich schließlich eine als »beste Idee Deutschlands« beim Millionenpublikum durch und gewann die Siegprämie von 50.000 Euro: Der Warnwürfel – ein Kubus mit aufgedruckten Hinweisschildern, der bei Pannen aufs Autodach geschnallt werden kann. Hier hat also tatsächlich ein – vermutlich oft erlebter – Störfall zu einer Inspiration – wie man Warnhinweise verbessern könnte – geführt. Wenn aber für den Siegeszug einer solchen Idee »die Zeit gekommen« sein sollte, dann müssen wir uns fragen, was den Inspirationsfunken derart klein hält.

Nach Ulrich Beck leben wir in einer Risikogesellschaft – die er ja nicht etwa so nennt, weil sie Rimbauds Devise »lebe wild und gefährlich« auf ihre Fahnen geschrieben hätte, sondern weil sie angesichts der überwältigenden Gefahren der postindustriellen Moderne – Klimakatastrophen, Wirtschaftskrisen, Waffentechnik – eine soziale Wirklichkeit hervorbringt, die »nach einem Schematismus von Sicherheit und Gefahr kognitiv strukturiert und wahrgenommen wird« (1987: 48). Ein Vierteljahrhundert nach Becks Diagnose hat sich dieses kognitive Reaktionsmuster mit seinen verschärften Anlässen weiter vertieft. Es penetriert inzwischen auch die Dynamik der Ideenproduktion. Hölderlins Diktum: »Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch« (1944: 181) gilt nicht mehr in einer Gesellschaft, die so verängstigt ist, dass sie ihre kreativen Energien nur noch auf die Warnung vor Gefahren und die Wegbereitung für Rettungskräfte richtet. Die europäische Politik schnürt immer größere »Rettungspakete« für ihre maroden Finanzsysteme und stützt Diktatoren in Nordafrika, um Wirtschaftsflüchtlinge zurückzuhalten. [1] In den Schulen wird der dreizehnte Jahrgang abgeschafft, um die Jugendlichen ohne reflexive Umschweife in die Karrierebahn zu lenken. Und der Wissenschaftsbetrieb entfernt sich panisch von der Humboldtschen Idee der Universität, indem er seine Akteure nötigt, sich nur auf gratifikationssicherem Terrain zu bewegen, um die eigene Ausstattung abzusichern – flankiert vom Deutschen Hochschulverband, dessen Weiterbildungsangebote sich immer mehr auf Trainings zur Selbstvermarktung und zum Zeitmanagement kaprizieren. [2]

Dabei wird freilich stets auch unterrichtet, wie wichtig Störfälle als Inspirationsquelle sind. Aber solche Instruktionen sind heute ihrerseits von einem Sicherheitsdenken imprägniert, das sie ad absurdum führt. Die Maxime »Stolpern fördert« wird gleichsam mit Leitplanken versehen, die dem kreativen Zufall keine Chance mehr lassen. Das ist die Crux bei der sie aufgreifenden Ratgeberliteratur. Sie umzusetzen in »konkrete Handlungsanweisungen« für die Dauerfitness einer »›permanenten Kreativität und Innovation‹ in Unternehmen« (Reinhard et al. 2007: Klappentext) um auf der Erfolgsrennbahn nur ja nicht ins Stocken zu geraten, verkehrt ihren Sinn ins Gegenteil. Bereinigt vom kleinsten Steinchen des Anstoßes, wird der Adept auf den Königsweg Kreativität geschickt, zum Powertraining für kreatives Denken mit beigefügtem »30-Minuten-Manager« (Luther/Gründonner 1998) rekrutiert und soll dabei auch noch Spaß haben, da »eine bunte und ganzheitliche Mischung aus Kreativitätstechniken, NLP-Prozessen, Spielen, Phantasiereisen und Denksportaufgaben, die Lust weckt, den inneren Reichtum zu erleben und kreative Lösungen für alltägliche Aufgaben zu entdecken« (ebd.: Verlagswerbung). Wie im Fall des ›Warnwürfels‹, der ja nicht etwa im Rahmen eine Polizeisendung wie Der siebte Sinn, sondern ausgerechnet in einer Unterhaltungsshow vorgeführt wird, ist auch das Vergnügen am kreativen Spiel zu jenem »Stahlbad« geworden, das schon Horkheimer/Adorno im kulturindustriellen »Fun« (1981: 167) erkannten.

Der affirmative Charakter dieser Kreativitätskonzepte ist evident: Die Rennstrecke der effizienzorientierten Arbeitswelt wird nicht als solche hinterfragt, sondern durch Kurvenbegradigung fürs störungsfreie Mitlaufen auf der vorgezeichneten Bahn optimiert. Stolpersteine kommen nicht als kontingente Inspirationsanlässe für individuelle Lösungsstrategien in Betracht, sondern als Hindernisse, die es reaktionsschnell zu umfahren gilt. Derart an die Kandare genommen, steht der Begriff der Kreativität selbst zur Disposition.

Folgerichtig hat die Zeitschrift für Kulturwissenschaften unlängst eine Ausgabe dem Thema Kreativität. Eine Rückrufaktion gewidmet. In ihrem Vorwort schreiben die Herausgeber:

 

»Aktuelle sozial- und kulturwissenschaftliche Diskussionen um einen ›neuen Geist des Kapitalismus‹ [...] diagnostizieren einen expandierenden ›Glaube(n) an die schöpferischen Potenziale des Individuums‹, der freilich weniger im Sinne einer begrüßenswerten Demokratisierung verstanden, als vielmehr als ›Zivilreligion‹ des ›unternehmerischen Selbst‹ [...] identifiziert wird. Charakteristisch für die zentrale Bedeutung von Kreativität in diesen unverändert machtvollen gesellschaftlichen Verwertungszusammenhängen ist der damit verbundene Imperativ – sei kreativ!« (Färber et al. 2008: 7f.).

 

Diesem »gouvernementalen« Kreativitäts-Imperativ stellen die Autoren Joseph A. Schumpeters Formel vom »Prozess der schöpferischen Zerstörung« entgegen (ebd.: 10), die auf Nietzsches ›Umwertung aller Werte‹ zurückgeht und in diesem Sinne auch die Inspirationskonzepte der Kritischen Theorie geprägt hat. Walter Benjamins Engel der Geschichte ist ihre prominente Leitfigur. »Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katstrophe«, die seine schöpferischen Impulse weckt: »Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen.« Der Sturm des Fortschritts jedoch, der sich »in seinen Flügeln verfangen hat« (1974: 697f.), hat ihm diese inzwischen geknickt. Benjamins Denkfigur verdankte ihr kritisches Potential der Unterstellung eines Geschichtsoptimismus, der im posthistoire und erst recht in der Risikogesellschaft nicht mehr gegeben ist. Seit die Störfallszenarien selbst zur expliziten Legitimationsgrundlage gesellschaftlichen Handelns geworden sind, taugen sie nicht mehr als Inspirationsquellen, sondern drücken auch dem kritischen Denken ihre Logik der Gefahrenabwehr auf.

Gleichwohl gibt es auch heute Evidenzen dafür, dass Störfälle als Inspirationsquelle taugen – allerdings in einem anderen Sinne als dem bisher beschriebenen. Dieser ist etwa an der schon legendären Erfolgsgeschichte von Apple-Chef Steve Jobs abzulesen. In seiner Commencement Speech an der Stanford University (2005) präsentierte er sie als eine biographische Stolperstrecke, die ihn mit jedem Scheitern einen großen Schritt nach vorne brachte: Verstoßen von den leiblichen Eltern, geriet er in eine liebevolle Pflegefamilie, die seine Anlagen optimal förderte; das Versagen an der High School gab ihm Raum für seine Leidenschaft, die Typographie, und führte zur Gründung der Computerfirma, die die Desktop-Revolution einläutete; gefeuert vom Vorstand seiner eigenen Firma, war er gezwungen, neue Firmen zu gründen, mit denen er die Multimediatechnik revolutionierte, was schließlich zu der erneuten Anwerbung durch Apple führte – mit dem bekannten Ergebnis, dass er sie zur zweitteuersten Firma der Welt machte. Ohne die heftigen Störfälle seines Lebens, das konnte er am eigenen Fall deutlich belegen, wäre er nicht so weit gekommen.

Was diese Stolperstrecke eines Inspirierten von den Laufbahnen der Kreativitätstrainings unterscheidet, ist insbesondere ihre Nichtplanbarkeit. Wir können heute die Prozesse der Ideenproduktion bis in die Nervenenden hinein beobachten und dabei feststellen, dass das Erleben der Ausweglosigkeit – sei es beim Nachdenken über ein theoretisches Problem oder eine Lebenskrise – eine notwendige Voraussetzung für die Ausbildung jener synaptischen Verbindungen ist, die kreative Lösungen herbeiführen. Der Hirnforscher Wolfgang Singer spricht von bioelektrischen »Zustände[n] hoher Synchronizität, Momente[n], in denen weit verteilte Ensembles von Neuronen in gut synchronisierte oszillatorische Aktivität einschwingen« (Ricard /Singer 2008: 104).

Lange vor Singer hat schon Heinrich von Kleist eine ganz ähnliche Erklärung für diese Neurodynamik gegeben. In seinem berühmten Aufsatz Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden führt auch er die förderliche »Erregung des Gemüts« (1976: 881) in einer Situation der Ratlosigkeit auf elektrische Potentialdifferenzen zurück, die sich im Moment der höchsten Spannung – wie bei einer »Kleistischen Flasche« (ebd.: 882), einem Kondensator also – plötzlich ausgleichen. Als Voraussetzung wird auch hier eine Störfallqualität genannt, die das Individuum zunächst in völlige Ratlosigkeit versetzt, wie es nach Kleist bei Mirabeau der Fall war, dessen »Donnerkeil«-Rede ihm just in dem Moment einfiel, als seine politischen Handlungsroutinen durch den Auftritt des Königsboten überrumpelt wurden.

Wir können auch noch weit vor Kleist zurückgehen, um diesen Inspirationsmechanismus erläutert zu finden. Die antiken Musen, die Töchter der Mnemosyne, galten als inspirierend, weil sie Lesmosyne bringen, das Vergessen von Vergangenheit und Zukunft (vgl. Hesiod 1933: V.55). Als wie wenig harmlos das zu verstehen ist, zeigt sich daran, dass die Musen diejenigen, die sie besonders liebten, mit Blindheit schlugen – einer äußeren Blindheit der Sehorgane zugunsten des inneren Sehens.

Platons Anamnesis-Lehre ist nichts anderes als eine rationalisierte Transformation des mythischen Inspirationsmodells. Der Wirkmechanismus der sokratischen Mäeutik beruht ebenso wie derjenige der Musen auf der Herbeiführung des Vergessens zugunsten eines unvordenklichen Erinnerns: Durch gezielt destruktives Fragen zerstört Sokrates die Doxa seiner Klientel, das äußerlich aufgeschnappte Scheinwissen, um sie zur Selbstbesinnung zu bringen. Das Durchgangstor zur Anamnesis aber ist die Aporie, die Ratlosigkeit – ein durchaus unangenehmer Zustand, den schon Sokrates im Modell der Elektrizität beschreibt, indem er ihn mit dem Stromstoß eines Zitterrochens vergleicht (vgl. Menon 84b). Der Hebammenkünstler ist sich bemerkenswert sicher, dass sein rhetorischer Stolperkurs die gewünschte Anamnesis befördert. Als er z.B. im Menon den Sklaven in die Aporie getrieben hat und dieser verzweifelt ausruft: »Aber beim Zeus, mein Sokrates, ich weiß es nicht« konstatiert er in verblüffender Zuversicht: »Merkst du auch wieder, mein Menon, auf welcher Stufe der Wiedererinnerung er sich bereits befindet?« (ebd.) Das Staunen – griechisch: thaumázein – bezeichnet Platon deshalb als Beginn der Philosophie (Theaitetos 155d).

Die Maxime »Stolpern fördert« setzt voraus, dass dieser Taumel das Subjekt wirklich ergreift und nicht nur als Fun-Faktor in Kreativitätsspielchen erlebt wird. Und wenn wir uns ansehen, wie der vermeintliche Urheber der Maxime sie kommentierte, wird der Unterschied zu ihren eingangs zitierten Adepten deutlich. In einem Paralipomenon zur Italienischen Reise notierte Goethe »Holl. Spr. W. Stolpern fördert. Ital. Un calce in culo fa un passo avanti« (1903: 450). Übersetzt heißt das, wenn man den Hörfehler »calce« zu »calcio« korrigiert, schlicht: »Ein Tritt in den Arsch bringt uns einen Schritt weiter.« Mit seinem Tasso hat Goethe den tragischen Zwiespalt der modernen Dichterexistenz ausgestaltet, der seine poetische Inspiration aus dem Scheitern im gesellschaftlichen Leben bezieht: »Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt, / Gab mir ein Gott zu sagen, wie ich leide« (V. 3432f.). Ihm folgen Hölderlins Patmos-Hymne und Grabbes Apologie der Verzweiflung (vgl. Broer et al. 1992) und Kierkegaards Antwort auf die Frage: »Was ist ein Dichter? Ein unglücklicher Mensch, der heiße Schmerzen in seinem Herzen trägt, dessen Lippen aber so geartet sind, daß, während Seufzer und Geschrei ihnen entströmen, diese dem fremden Ohr wie schöne Musik ertönen« (1993: 19). Beckett definiert schließlich lapidar: »To be an artist is to fail, as no other dare fail« (1965: 21).

»Stolpern fördert« – den Satz richtig verstehen heißt, seine Unüberführbarkeit in die Devise »mit Sicherheit zum Erfolg« begreifen. Dabei muss man sich freilich nicht der existenziellen Verzweiflung der großen Dichter aussetzen. Es genügt manchmal schon die Bereitschaft, sich der eigenen Ratlosigkeit angesichts der Störfälle des Alltags zu stellen. Wie zum Beispiel die TV-Moderatoren Günter Jauch und Marcel Reif, die das Halbfinal-Spiel der Champions League 1998 moderierten: Kurz vor Beginn des Spiels – man war schon live auf Sendung – fiel auf dem Platz ein Tor um. In den 76 Minuten, die es dauerte, bis das Tor restauriert war und der Anpfiff endlich erfolgte, mussten die beiden Modertoren vor 13 Millionen Zuschauern extemporieren – was ihnen so einfallsreich gelang, dass sie dafür später den Grimme-Preis gewannen. Zu ihrer rhetorischen Glanzleistung befragt, gaben beide die Auskunft, dass es just das Unvorhergesehene, das Fehlen jeder Bewältigungsroutine war, was ihre Geistesblitze hervorrief. [3]

Den Fördereinrichtungen zur Ideenproduktion in der Risikogesellschaft ist deshalb ans Herz zu legen, dass sie nicht wie Sicherheitsdienste operieren sollten. Universitäten, die heute wie Unternehmen geführt werden – mit Effizienzkontrollen und Zielvereinbarungen, Rankings und Output-Messungen – vernichten just die Qualitäten ihrer Mitarbeiter, die der Quell inspirierten Forschens sind: das Nicht-immer-schon-Bescheid-Wissen-wo-es-lang-geht, die Suspension vom Handlungsdruck, die Abkehr vom Realitätsprinzip – nicht aus Gleichgültigkeit, sondern aus ästhetischer Lust an der Abundanz des »Möglichkeitssinns« (Musil 1978: 16).

Joseph Vogl hat dieser Haltung in seinem Essay Über das Zaudern eine Huldigung gewidmet. Er schreibt:

 

»Während das Zaudern in abendländischer Tradition immer wieder auf die Seite der Unentschlossenheit genötigt und damit als eine launische Vereitelung des ›Werks‹ überhaupt disqualifiziert wurde, lässt es sich selbst als aktive Geste des Befragens erkennen, in der das Werk, die Tat, die Vollstreckung nicht unter dem Aspekt ihres Vollzugs, sondern im Prozess ihres Entstehens und Werdens erfasst sind. […] Wo Taten sich manifestieren, wo Handlungsketten sich organisieren, wird ein Stocken, eine Pause, ein Anhalten, eine Unterbrechung markiert« (2008: 24).

 

Dass das Zaudern unter Umständen einen hohen Preis hat – im Falle von Angela Merkels Zaudern vor der Kreditbeihilfe für Griechenland etwa eine Milliarde Euro täglich – ist kein Gegenargument. Denn blinder Aktionismus ist die Welt unterm Strich gewiss teurer zu stehen gekommen als das Zaudern.

Schwierig ist die Verteidigung des Zauderns weniger gegen seine Feinde als gegen seine falschen Freunde. Im selben Jahr wie Joseph Vogls Essay erschien das Buch Dinge geregelt kriegen ohne einen Funken Selbstdisziplin von Kathrin Passig und Sascha Lobo, das mit dem Satz anhebt: »Jedem Anfang wohnt ein Zaudern inne« (2008: 14). Doch es geht in diesem Buch nicht um das Zaudern, sondern um seinen reflexionslosen Verwandten, die »Prokrastination«. Der Terminus kursiert seit rund 30 Jahren in der klinischen Psychologie und leitet sich ab aus dem lateinischen crastinus: dem morgigen Tag zugehörig. »Prokrastinieren« heißt also: für den nächsten Tag lassen und ist im Verständnis der Autoren nur »ein angenehmeres Wort für Aufschieben« (ebd.). In diesem Sinne machen sie es populär und treffen damit durchaus den Zeitgeist. Sie zitieren Untersuchungen, wonach in den westlichen Ländern

 

»75 bis 95 Prozent aller Studierenden [angeben], wenigstens hin und wieder zu prokrastinieren, fast 50 Prozent verschieben regelmäßig Aufgaben. Bei Studenten nehmen Prokrastinationstätigkeiten etwa ein Drittel der wachen Tageszeit ein. Nach dem Studium bessert sich die Lage, aber um die 20 bis 25 Prozent der Gesamtbevölkerung gelten immer noch als harte Prokrastinierer« (ebd.: 16).

 

In ihrer Verteidigung der Prokratination gelangen die Autoren durchaus zu kritischen Einsichten, wenn sie etwa schreiben: »Nicht der Aufschiebende ist lebensuntauglich, vielmehr ist sein Umfeld mit falschen Erwartungen und überkomplizierten Organisationsstrukturen verseucht« (ebd.: 45). Doch statt diesen Antagonismus weiter zu hinterfragen, bleiben sie ihm in der Umkehrung verhaftet. Sie sprechen vom »äußeren Schweinehund« und bekräftigen damit nur die Rede vom inneren, mit dem die protestantische Arbeitsethik uns an der Leine hält.

So reiht sich das Buch eben doch in die Regale der Ratgeberliteratur ein, die unser Funktionieren in der Leistungsgesellschaft sicherstellen sollen. Ebenso wie diese erklärt es uns, »wie man Dinge geregelt kriegt« – nur eben »ohne einen Funken Selbstdisziplin« und das heißt nicht etwa: durch Anpassungsverweigerung, sondern durch die Zuversicht, dass die unerbittlich heranrückende Deadline ihre Adrenalinspritzen schon bereithalten wird. Während das Zaudern ein Unbehagen in der aktionistischen Kultur artikuliert und es reflexiv macht, ist das Prokrastinieren Reflex einer – wie es im Fachjargon heißt – »Discomfort Anxiety« (Ellis 2003).

Der Prokrastinierer will nicht an den Konflikt von äußeren Anforderungen und eigenen Impulsen erinnert werden; statt sich anamnetisch in die Aporie zu begeben, reagiert er anästhetisch und konserviert gerade dadurch das unerbittliche Gedächtnis der Agenden und To-Do-Listen. Der Zauderer hingegen beschwört, wie Vogl schreibt, »ein Gedächtnis des Nicht-Gewesenen« (a.a.O.), das heißt, er erinnert sich im hegelschen Sinne des Sich-inne-Werdens eines Daseins jenseits der äußeren Handlungszwänge.

Die Essenz, derer es bedarf, um das Zaudern vom Prokrastinieren abzuheben, ist mit der Nuance einer Lautverschiebung zu leisten: mit der Qualität des Schauderns. Nur die erlebte Aporie, das leibhaftige Erzittern unter der eigenen Ratlosigkeit, kann jene elektrische Spannung erzeugen, die zur Zündung des Inspirationsfunkens nötig ist. Aus keinem anderen Grunde heißt es in Goethes Faust: »Das Schaudern ist der Menschheit bestes Teil« (V. 6272).

Wenn heute die Instanzen zur Förderung der Ideenproduktion in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft durch Ressourcenverknappung den Effizienzdruck erhöhen und dies mit Maximen à la »Stolpern fördert« legitimieren zu können glauben, haben sie ihren Goethe nicht richtig gelesen. Das Schaudern, von dem er – auch in Bezug auf die spontane wissenschaftliche Eingebungen – spricht (vgl. Matussek 2010), setzt die Freiheit von administrativen Kontrollzwängen und Zielvereinbarungen voraus. Diese schnüren unter dem Vorwand einer Absicherung gegen Störfälle jene Inspirationsquellen ab, die erst zu sprudeln begönnen, wenn ein Geistesarbeiter sich ungestört den verstörenden Erfahrungen seiner Aporien aussetzen könnte. Es wäre zum Besten der Menschheit.

 

 

L [P1]  iteratur und Quellen

 

Anzag (2007): »Fehler als Chance - Auss Fehlern lernen«. Online: http://www.gesundheit.de/medizin/psychologie/psychologie-und-erfolg/fehler-als-chance-aus-fehlern-wird-man-klug, 01.03.2011.

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Musil, Robert (1978): Der Mann ohne Eigenschaften, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.

Passig, Kathrin/Lobo, Sascha (2008): Dinge geregelt kriegen ohne einen Funken Selbstdisziplin, Berlin: Rowohlt.

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Pörksen, Uwe (2004): Was ist eine gute Regierungserklärung? Grundriss einer politischen Poetik, Göttingen: Wallstein.

Ricard, Matthieu/Singer, Wolf (2008): Hirnforschung und Meditation. Ein Dialog, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

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Vogl, Joseph (2007): Über das Zaudern, Zürich/Berlin: diaphanes.

Weigel, Tilman (2004): Der Mann im Mond. Online: http://www.manager-magazin.de/unternehmen/karriere/0,2828,283171,00.html, 01.03.2011.

Willfort, Reinhard/Tochtermann, Klaus/Neubauer, Aljoscha (Hg.) (2007): Creativity@Work für Wissensarbeit. Kreative Höchstleistungen am Wissensarbeitsplatz auf Basis neuester Erkenntnisse der Gehirnforschung, Aachen: Shaker.



[1]     Bis zum Jahreswechsel 2010/11 galt das noch. Ob angesichts der Revolten in Nordafrika ein Umdenken stattfindet, ist derzeit noch nicht abzusehen.

[2]     Ein Stichwortauszug aus dem aktuellen Seminarprogramm: »Selbstpräsentation«, »Konfliktmanagement«, »Fundraising«, »Nebentätigkeitsrecht«, »Projektmanagement«, »Professioneller Stimmgebrauch«, »Forschungsförderung strategisch nutzen«, »Medientraining«, »Zeit- und Selbstmanagement«, »Potentiale nutzen! Bewerbungstraining« u.s.w. Siehe http://www.karriere-und-berufung.de/cms1/termine. html, 01.03.2011.

[3]     Siehe http://www.youtube.com/watch?v=cdzzf4Plj_I, 01.03.2011.