Peter Matussek

Der Performative Turn: Wissen als Schauspiel

 


In: Fleischmann, Monika / Reinhard, Ulrike (Hg.): Digitale Transformationen; Heidelberg Berlin 2004, S. 90–95.


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Vorgelesen von Oliver Siebeck

     
 

Die Art, wie Informationen dargeboten werden, unterliegt wechselnden Konjunkturen. Seit es Computer gibt, vollziehen sich diese Wechsel in immer rascheren Rhythmen. In den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts hatten wir den linguistic turn,dieser wurde in den Neunzigern durch den pictorial turn abgelöst, ihm folgte kurz darauf der topographical turn, und seit einigen Jahren können wir einen performative turn verzeichnen. [1] Freilich existieren die verschiedenen Paradigmen der Wissenspräsentation weiterhin parallel, durchkreuzen und ergänzen sich. Und zu allen gibt es historische Vorläufer. Das gilt auch für die performative Wende, die die Gedächtnistheater der frühen Neuzeit wiederaufleben läßt. Ein historischer Vergleich ist daher angebracht, um die besonders in Deutschland kontrovers diskutierten Konsequenzen für unsere gegenwärtige Medienkultur einschätzen zu lernen. Welche Chancen bietet die theatrale Form der Wissenspräsentation? Kann sie die Aufmerksamkeitsstörungen der Informationsgesellschaft kurieren, oder ist sie selbst das Symptom, das sie zu kurieren vorgibt?

Mit ihrem Buch Computers as Theater hat Brenda Laurel 1991 – noch bevor die Neurowissenschaften die Speicher- zugunsten der Schauspiel-Metapher verabschiedeten [2] – ein Interface-Design gefordert, das nach dramaturgischen Gesichtspunkten operiert. [3] Sie versprach sich von einer entsprechenden Medienpraxis eine Wiederkehr,  ja potentielle Überbietung des Partizipationserlebnisses, das einst die griechische Tragödie und die Shakespeare-Bühne bescherten. [4] In der Tat fungieren Computer nicht mehr nur zum Berechnen und Speichern, sondern zunehmend als Bühne für "Informationsinszenierungen" und "Internet-Auftritte". Kritiker dieses Trends wenden ein, daß die neue Schauspielerei am Computerscreen nur verhülle, was technisch den unveränderten Prinzipien des Storage and Retrieval gehorche. Nach Faßler/Halbach etwa befreien Interfaces, die "Information als Dauertheater" betreiben, nicht vom Diktat der Maschinen, sondern optimieren qua Verschleierung unsere Versklavung durch sie. [5] Edward Tufte spricht gar mit Bezug auf PowerPoint, dessen Präsentationstechnik den Blick auf das Wesentliche verstelle, von Stalinismus. [6]

Wer hat recht? Ein wesentlicher Beitrag zur Klärung dieser Frage geht aus einer Studie hervor, die nur in einer ganz beiläufigen Nebenbemerkung die Digitaltechnik streift und dennoch einen enormen, bisher weitgehend übersehenen Einfluß auf Wissensingenieure, Interface-Designer und Computerkünstler ausgeübt hat: The Art of Memory von Frances Yates. [7] Daß das 1966 erschienene Buch über die Geschichte der Gedächtniskunst, dem wir insbesondere die Wiederentdeckung der Gedächtnistheater der frühen Neuzeit verdanken, in der Kulturwissenschaft Furore machte, ist bekannt. Weniger bekannt ist die Tatsache, daß es die Technikgeschichte verändert hat. Von einer Yates-Lektüre sind zum Beispiel Richard A. Bolt und Nicholas Negroponte, die Schöpfer des Spatial Data Management System (1976) inspiriert worden. [8] Und von Yates wurden zahlreiche explizit unter dem Namen "Gedächtnistheater" firmierende Projekte inspiriert, die sich als adäquate Form der Wissenspräsentation in der Computermoderne bzw. als deren künstlerische Reflexionsform verstehen. Um nur einige der wichtigeren zu nennen: [9] Robert Edgar programmiert 1985 – als auch Bill Viola seine Video-Raumskulptur Theatre of Memory ausstellt – das erste Computergedächtnistheater, das Memory Theater One, auf einem Apple II; Graham Howard und Rob Bevan schreiben 1991 einen HyperCard-Stack für den Apple Macintosh unter dem Titel The Theatre of Memory; Agnes Hegedüs konstruiert 1997 das Memory Theater VR – einen Rotundenbau mit interaktiver Panorama-Projektion im ZKM Karlsruhe; Emil Hrvatin realisiert seit 1998 mehrere Gedächtnistheater-Inszenierungen, unter anderem Camillo – Memo 1.0: The Construction of Theatre – eine computergestütze Performance im Piccolo-Theater Mailand; Kate Robinson gestaltet 2001 eine 3-D-Animation namens Theatre of Memory; Gerhard Dirmoser erstellt im selben Jahr eine kognitive Karte zum Thema Performative Ansätze in Kunst und Wissenschaft, die er als "Gedächtnistheater" versteht; und Ronald T. Simon, der schon im Jahr 2000 das postmodern theater of memory ins Netz stellte – eine von zahlreichen Websites, die sich dem Sujet widmen –, läßt 2003 eine Domain unter dem Namen www.theaterofmemory.com registrieren, die verschiedene Gedächtnistheaterinstallationen beherbergt.

An der Aktualität der Gedächtnistheater ist also nicht zu zweifeln. Was läßt sich dieser Renaissance eines Renaissance-Phänomens für unsere Fragestellung entnehmen, ob das Theatermodell für die Wissensdarstellung im 21. Jahrhundert tauglich oder nur eine historisierende Kostümierung ist? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir zunächst einen Blick auf die Entstehungszeit der Gedächtnistheater richten und nach Vergleichbarkeitskriterien  mit dem performative turn unserer Gegenwart Ausschau halten.

Von der frühen Neuzeit bis ins 18. Jahrhundert hinein war Theatrum ein geläufiger Titel für Wissensdarstellungen aller Art. Zu den bekannteren im 16. Jahrhundert gehören Quicchebergs Inscriptionis vel tituli theatri...(1565), Beauastueaus Theatrum mundi minoris... (1576), Bessons Theatrum instrumentorum (1578), Boissards Theatrum vitae humanae... (1590) und Bodins Universae Naturae Theatrum (1597). Am Anfang dieser Reihe stehen zwei Schriften eines Autors, der lange in Vergessenheit geraten war, und der erst durch Frances Yates für unsere Zeit wiederentdeckt wurde: Giulio Camillos Il Theatro della Sapientia (1530) und L'Idea del Theatro (postum 1550).

Camillo war zu seiner Zeit eine Berühmtheit – wenn auch eine umstrittene. Die einen nannten ihn den "Göttlichen", die anderen einen Scharlatan. Was seine Wissensdarstellungen von den anderen genannten Schriften unterschied, war die architektonische Realisierung seiner Theater-Idee: Er konstruierte ein mannshohes Theatro della Memoria aus Holz. Von diesem ist nichts erhalten geblieben. Aber sein hinterlassener Traktat L'Idea del Theatro enthält recht genaue Anweisungen, wie es zu bauen sei. Darin faßt Camillo auch den Zweck seines Unternehmens zusammen: "Unsere große Anstrengung ist es … gewesen, eine Ordnung… zu finden, die den Geist aufmerksam erhält und das Gedächtnis erschüttert." [10] Um dieses Programm zu verstehen, müssen wir einen kurzen Blick auf den historischen Kontext werfen.

Der Buchdruck war bereits erfunden. Und er machte zunehmend obsolet, was bis dahin eine medientechnisch bedingte Notwendigkeit war: Möglichst viel im Gedächtnis zu behalten. Gutenbergs Verfahren sorgte für eine höchst effiziente und zuverlässige Externalisiereung des kulturellen Gedächtnisses. Zwar waren seine Bibeln noch stark bildorientiert; sie ahmten nicht nur in den Drucktypen den Duktus der Klosterhandschriften nach, sondern verwendeten die gleichen  piktoralen Elemente, die der besseren Einprägung dienten. Doch das änderte sich rasch unter dem ökonomischen Zwang zur Mechanisierung. Ausbreitung des Buchdrucks, Bilderlosigkeit und Reformation bedingten sich wechselseitig. Die Humanisten setzten auf die Schrift, nicht auf das Bild.

Ganz anders nun Camillo: Sein Gedächtnistheater machte einen geradezu exzessiven Gebrauch von Bildern. Aber nicht von Bildern, die die mittelalterliche memoria, das tugendhafte Auswendiglernen von Kanones und Registern, Sentenzen, Exempla und Florilegien unterstützen, sondern von Bildern, die die Tradierungen des kulturellen Gedächtnisses erschütterten. Der Anknüpfungspunkt seiner performativen Wende ist die ursprüngliche Gedächtniskunst, wie sie in der Antike gelehrt wurde. Die römischen Rhetoriker forderten, "imagines agentes" zu verwenden. [11] Darunter sind weniger, wie häufig verkürzt wiedergegeben wird, agierende, also bewegte Bilder zu verstehen, als vielmehr aktivierende, bewegende Bilder. Auch bei Camillo liegt die Betonung eindeutig auf dem zweiten Bedeutungsaspekt: Er wollte Bilder, die die Besucher seines Gedächtnistheaters in eine innere Aktivität versetzten.

Schon seine Umkehrung der herkömmlichen Bühnenfunktionalität läßt diese Intention hervortreten: In seinem Holzbau, der der Architektur des Vitruvschen Theaters angelehnt war, setzten sich die Besucher nicht auf die Zuschauerplätze, sondern standen auf der Bühne, während die durch Bilder repräsentierten Wissensobjekte auf dem siebenstufigen Halbrund der Ränge angeordnet waren (Abb. 1):

Die Inszenierung des Gedächtnisschauspiels war in der Tat ein Werk der Theaterbesucher, denn die Bilder auf den Rängen zeigten ihren Gehalt in einer hoch verschlüsselten Form: Es waren Emblemata des kürzlich erst von Marsilio Ficino ins Lateinische übersetzten Corpus Hermeticum, einer neuplatonischen Mixtur von Motiven der ägyptischen und griechischen Mythologie und Astrologie sowie der der jüdischen Kabbala. Als solche bedurften sie einer deutenden Aktivität durch den Betrachter. Außerdem mußten sie untereinander kombiniert werden. Denn die siebenstufigen Ränge waren zum einen in sieben Segmente unterteilt, die den damals bekannten Planeten (Mond, Merkur, Venus, Sonne, Mars, Jupiter, Saturn) zugeordnet waren und je nach Planetenzuordnung mit dessen Charakteristiken die Bedeutungen der Bildzeichen auf den einzelnen Rängen variierten. Zum anderen repräsentierten die sieben Ränge den Stufenbau der Welt – von den spirituellen Grundlagen der Schöpfung aufwärts zum Mikrokosmos, der menschlichen Sphäre mit ihren Seelenkräften, ihrer Körperlichkeit,  ihren Tätigkeiten der Selbsterhaltung und schließlich ihren produktiven Tätigkeiten, so daß jede Stufe eines Planetensegmenten andere Bedeutungen annahm, die wiederum durch mehrere Bilder ausgedrückt wurden.

So wurde zum Beispiel der Schnittpunkt des dritten Rangs und des Planeten Saturn, der für die menschliche Natur unter dem melancholischen Gesichtspunkt der Vergänglichkeit steht, durch Tizians 'Allegorie der Zeit' repräsentiert – eines der wenigen erhaltenen Bilder aus Camillos Theater, dem wir entnehmen können, wie rätselhaft und daher deutungsbedürftig diese imagines agentes waren (Abb. 2).



Was also ist die Funktionsweise von Camillos Theater? Diese – für die Beurteilung einer Übertragbarkeit auf heutige Verhältnisse wesentliche – Frage wird in der Forschung sehr unterschiedlich beantwortet. Frances Yates glaubt, daß für Camillo magische Wirkungen wesentlich waren: "Das 'Geheimnis' … des Theaters ist meines Erachtens, daß man die grundlegenden Planetenbilder als Talismane ansah oder doch glaubte, sie hätten deren Wunderkraft und deren Energie würde aus ihnen in die Hilfsbilder fließen". [12] Andere Forscher widersprechen dieser Deutung energisch und betonen das enzyklopädische Interesse Camillos, das vorrangig darauf gerichtet gewesen sei, das Weltwissen in übersichtlicher Form zur Darstellung zu bringen – als Ordnungssystem, Bibliothek oder Museum. [13] Doch wenn es wirklich Camillos Anliegen gewesen sein sollte, ein universalwissenschaftliches Ablagesystem bzw. eine Art "Suchmaschine" (wie Hartmut Winkler nahelegt) [14] zu entwerfen, dann  bleibt unverständlich, warum er es so stark verrätselte. Er stellte sich damit dem Anliegen eines gedankenlos-mechanischen Informationsabrufs entgegen und verlangte dem Besucher seines Theaters eine deutende, schöpferisch imaginierende Eigenaktivität ab. Diese Absicht geht schon aus seiner Formulierung hervor, daß er eine Ordnung finden wolle, die das Gedächtnis erschüttert. Auch sonst kreist die Idea del Theatro immer wieder um die Wörter "creazione", "generatione" und "produzione". In der Terminologie der rhetorischen Tradition heißt das: Es kam Camillo nicht allein auf die Dispositio, die Anordnung von Wissen an, sondern ebensosehr auf die Inventio, die Erfindung von Wissen. [15]

Das Verhältnis von äußerer und innerer Bewegung ist ähnlich bei dem zweiten bedeutenden Gedächtnistheater der frühen Neuzeit, das im Diskurs und Design der Computermoderne ein Comeback erfährt: Das "Theatrum Orbi" aus Robert Fludds Ars Memoriae von 1619. Auch hier steht der imaginative Zweck im Vordergrund. Das eigentliche Gedächtnistheater findet nicht vor den Augen des Zuschauers statt, sondern in dessen Kopf, dem Sitz des oculus imaginationis (Abb. 3):

Fludd hat sein Theater nicht gebaut, sondern als Kupferstich präsentiert (Abb. 4):

– in Anlehnung an das zeitgenössische Globe Theatre Shakespeares. Die Wissensobjekte sollten "wie in einem öffentlichen Theater, in dem Komödien und Tragödien aufgeführt werden" [16]   in diese Bühnenarchitektur hineinphantasiert werden. Auch hier also ist der Rezipient der Regisseur seiner eigenen Gedächtnisinszenierungen und Wissensschauspiele. Das Environment liefert dafür lediglich die Anlässe.

Vor dem Hintergrund der historischen Befunde lassen sich performative Informationsdarbietungen unserer Zeit besser beurteilen. Viele der gegenwärtigen "Memory Theaters" verdienen den Namen nicht, da sie lediglich ein krudes Information Retrieval mit dem Nimbus pseudo-magischer Altertümelei verbinden, um es interessanter zu machen. Camillo und Fludd waren Erneuerer der Wissendarstellung. Ihrem Innovationspotential wird nicht gerecht, wer die Kosmologien restituiert, auf die sie sich zu ihrer Zeit stützten. Die entscheidende Frage für das Anknüpfen einer postmetaphysischen, dezentralisierten Gegenwart an die Gedächtnistheater-Tradition ist vielmehr – wie Robert Edgar es formulierte: "What, I wondered, would an art of memory be like today, when no cosmology can summarize even a single text?" [17]

Edgars Memory Theater One (Abb. 5) beantwortet diese Frage, indem es den inventiven Charakter der historischen Vorbilder aufgreift. Das Programm wurde für einen Apple II in GraForth geschrieben. Zur Steuerung dienen ein sogenanntes Koala-Pad oder Paddle – Vorläufer des Joystick. Der User befindet sich zunächst in einem an die Kupferstiche aus Fludds Ars Memoriae angelehnten Atrium, von dem links eine Bibliothek und rechts ein "Additional Memory Room" mit einem astrologischen Tierkreis abgehen.

Die beiden Nebenräume entsprechen damit dem enzyklopädischen und dem magischen Aspekt des Gedächtnistheaters. Für Edgar aber ist der inventive Aspekt zentral: Der Besucher geht durch den mittleren Eingang in eine zweigeschossige Rotunde aus je 12 "Memory Rooms", die mit emblematischen Bild-/Text-Konstellationen besetzt sind (Abb. 6).

Den oberen Ring versteht Edgar als "Mikrokosmos"; hier sind allegorische Bilder und autobiographische Notizen des Autors zusammengestellt. Der untere Ring repräsentiert den "Makrokosmos"; hier sind Zitate aus Zeitungen und Büchern konstelliert. Mit jedem Raum ändert sich die Gestalt des Cursors, die Edgar "das Ego" nennt. Die Texte und Bilder, die mit ihm abgerufen werden, sind weder aus sich heraus noch als bloße Illustration zum Text zu verstehen. Erst aus der Kombination mit anderen Bereichen des Theaters ergeben sich assoziativ die Bedeutungen. Edgar überträgt  also das historische Modell nicht naiv 1:1, wie zahlreiche Internet-Projekte, sondern reproduziert das inventive Moment im selbstreferentiellen Kontext der heutigen Informationstechniken: Der Besucher wird in intermediale Zwischenräume von Schrift und Bild versetzt, die beide wiederum in sich – intertextuell und interpiktoral – Bedeutungslücken aufweisen: Der User muß zwischen den Zeilen lesen, zwischen den Bildelementen Bezüge herstellen; indem er das Unbestimmte ergänzt, wird er selbst reflektierend und imaginierend  tätig.

Ein neueres Beispiel, das bei der Gedächtnistheater-Rezeption ebenfalls den inventiven Charakter betont, ist die Installation Memory Theater VR von Agnes Hegedüs – eine Auftragsarbeit für das ZKM Karlsruhe von 1997. Es handelt sich um einen Rotundenbau von etwa neun Meter Durchmesser, deren Wände mit einer Panorama-Projektion von einem Computerbeamer bespielt werden (Abb. 7):

In der Rotunde befindet sich ein verkleinertes Modell derselben aus Plexiglas, das als Navigationsumgebung für eine 3-D-Maus dient. Kreisende Bewegungen der Maus versetzen die Projektion in eine Drehbewegung um den Benutzer herum; mit einer Auf- oder Abwärtsbewegung der Maus gelangt man in einen von vier sogenannten "rooms" – virtuelle Szenarien  zur Geschichte der virtuellen Realität. Mit "Fludd's Room" (Abb. 8) wird zunächst das historische Gedächtnistheater selbst zum Gegenstand der Inszenierung:

Auf einem Podest sitzt Robert Fludd's "Affe der Natur'" – eine Allegorie für die Kunst, da der Affe den Menschen nachahmt, so wie der Mensch in der Kunst die Natur nachahmt. Regale an den Wänden stellen in der Manier der Kunst- und Wunderkammern Objekte aus, die auf historische Bestrebungen anspielen, "virtuelle Realitäten" zu schaffen – von den alchimistischen Laboratorien über anamorphotische Gemälde bis hin zu den künstlichen Räumen Marcel Duchamps, Marcel Broodthaers und Bill Seamans. Die drei anderen Projektionsräume heißen "Boccioni's Room", der die konzeptuelle und architektonische Dynamik expressionistischer, kubistischer, futuristischer, surrealistischer und dekonstruktionistischer Elemente repräsentiert, "Alice's Room", der die zentrale Bedeutung von Alice's Gang "Durch den Spiegel" als märchenhafte Metapher für Immersionstechnologien aufgreift, und "Sutherland's Room", ein Museum der frühen Virtuellen Realität mit Zitaten von Ivan Sutherland, Scott Fisher, Jaron Lanier, Myron Kruger und anderen. So ergibt sich aus der Konstellation der Räume eine permutative Ordnung, bei der die magischen und enzyklopädischen Aspekte der historischen Gedächtnistheater eingebettet sind in ein inventives Arrangement, das im Zusammenspiel der projektiven Illusionen und der Imagination des Betrachters individuelle Bedeutungen generiert: Der Besucher des Memory Theatre VR wird durch seine Interaktion mit dem Environment veranlaßt, assoziative Querverbindungen herzustellen und aus diesen eine je eigene Geschichte der virtuellen Realität zu konstruieren.

Nun sind freilich Projekte wie die hier exemplarisch vorgestellten primär künstlerischer Natur. Ob von ihnen auch Impulse für zukünftige Entwicklungen in der Wissenspräsentation ausgehen können – so wie Camillo und Fludd ja durchaus der Wissenspräsentation ihrer Zeit neue Wege eröffnen wollten – hängt davon ab, wie weit wir bereit und fähig sind, ästhetische Kriterien in unseren Umgang mit Informationen einzubeziehen. Wir haben uns so sehr daran gewöhnt, Textwüsten für Wissen zu nehmen, Suchmaschinen die Assoziationsarbeit für uns erledigen zu lassen, daß "Interaktivität" nur eine Worthülse für "Interpassivität" [18] geworden ist. Wer aber den Mut hat, sich seiner eigenen Phantasie zu bedienen, der wird jener Qualität des Erfahrungszuwachses wieder teilhaftig, die mit der Engführung von Wissenschaft und Kunst in der frühen Neuzeit einsetzte, in der Zwischenzeit jedoch verloren ging. Camillo war kein Bremser des wissenschaftlichen Fortschritts, wie es den schriftfixierten Humanisten erschien; mehr als diese hat er den Weg bereitet für eine Experimentalwissenschaft, die mithilfe performativer Anschaulichkeit den menschlichen Erfahrungshorizont erweiterte, ihn um das eigene Erleben unter Mitwirkung der produktiven Einbildungskraft bereicherte.

So ist es zwar gewöhnungsbedürftig, aber gewiß lohnend, wenn wir uns auf Experimente einlassen, die unsere Anschauungs- und Deutungskompetenz bei der Informationsbeschaffung beanspruchen. Installationen wie – um nur ein Beispiel zu nennen –  die Semantic Map auf netzspannung.org, die die umgrenzten Gehege fachspezifischer Systematiken verlassen, um das interdisziplinäre Feld der Medienkunst als Feld anschaulich zu machen, indem die jeweils größere Nähe oder Ferne von Interessenschwerpunkten wie auf einer Landkarte topographisch zur Darstellung kommt (Abb. 9), entlohnen den Verzicht auf das habituelle Muster von Auflistungen durch Einsichten in Zusammenhänge und Ähnlichkeitsbeziehungen:

Statt mit weiteren Karteileichen in seinen Informationslisten prompt und nichtssagend bedient zu werden, geht der User auf Entdeckungsreisen, die ihn, wie jede Reise, um authentische Erfahrungen bereichern.

Wir stehen erst am Anfang einer neuen performativen Wende in der Informationsvisualisierung. Ähnlich wie die Gedächtnistheater der frühen Neuzeit können uns die Wissenskünste der Computermoderne zuvor unbekannte Erfahrungsräume eröffnen. Beschreiten müssen wir sie selbst.



[1]      Seit 1999 arbeitet der Sonderforschungsbereich „Kulturen des Performativen“, in dem der Autor mit dem Projekt "Computer als Gedächtnistheater" vertreten ist .

[2]            Jan Assmann erläutert noch in seinem Buch Das kulturelle Gedächtnis das kulturelle Gedächtnis  am Modell von Storage and Retrieval (München 1992, S. 22). Zur performativen Wende in den Neurowissenschaften vgl. Bernard J. Baars: Das Schauspiel des Denkens; Stuttgart 1998.

[3]            Brenda Laurel: Computers as Theatre; Reading (Mass.) 1991.

[4]           Ebd., S. 196 f.

[5]            Manfred  Faßler / Wulf Halbach (Hg.): Inszenierungen von Information. Motive elektronischer Ordnung; Gießen 1992, S. 8 f.

[6]            Vgl. Edward R. Tufte: The Cognitive Style of Power Point; Cheshire 2003.

[7]            Frances A. Yates: The Art of Memory; London 1966. Dt.: Gedächtnis und Erinnern. Mnemonik von Aristoteles bis Shakespeare; 3. Aufl. Berlin 1994.

[8]           Vgl. Richard A. Bolt: The Human Interface. Where People and Computers meet; London u.a. 1984, S. 4, Anm. 4.

[9]            Eine ausführlichere Synopse mit Anschauungsmaterial ist einsehbar unter http://peter-matussek.de/Pro/F_04_Synopse/GT_Overview.html.

[10]           "… che tenga sempre il senso suegliato & la memoria percossa". Camillo, Giulio Delminio: L'Idea del Theatro; Florenz 1550, S. 11.

[11]           Vgl. Marcus Tullius Cicero: De Oratore / Über den Redner. Lat./Dt. übers. u. hg. v. Harald Merklin; 2. Aufl. Stuttgart 1991, S. 437 sowie Anonymus: Rhetorica ad Herennium. Lateinisch–deutsch. Hg. u. übers. v. Theodor Nüsslein; München Zürich 1994, S. 177.

[12]           Yates, a.a.O., S. 143.

[13]           Vgl. Thomas Leinkauf: Scientia universalis, memoria und status corruptionis. In: Jörg Jochen Berns / Wolfgang Neuber (Hg.): Ars memorativa. Zur kulturgeschichtlichen Bedeutung der Gedächtniskunst 1400-1750; Tübingen 1993, S. 1–34, hier insbes. S. 5.

[14]           Hartmut Winkler: Suchmaschinen. In: Navigationen. Siegener Beiträge zur Medien- und Kulturwissenschaft 2, H. 2 (Oktober 2002), S. 33–42, hier S. 40.

[15]           Vgl. hierzu Barbara Keller-Dall'Asta: Heilsplan und Gedächtnis. Zur Mnemologie des 16. Jahrhunders in Italien; Heidelberg 2001.

[16]           Yates, a.a.O., S. 301.

[17]           Aus der "Library" in dem nachfolgend beschriebenen Memory Theater One.

[18]           Vgl. Robert Pfaller (Hg.): Interpassivität. Studien über delegiertes Genießen; Berlin Heidelberg New York 2000.