D 05

 

Abendstern (Petra Schachtschabel)

Max K., der selten Post erhält,
ein Brief erreicht, was ihm gefällt.
Schon liest er Wort für Wort behände:
,Familienfest am Wochenende'.
Die Freude aber ist getrübt,
wie stets hat er nichts eingeübt.
So ist es schon seit Jahren Sitte,
beim Treffen in Familiens Mitte,
dass jeder, der was auf sich hält,
was Kleines vorführt, das gefällt.
Der eine spielt auf seiner Geige,
ein andrer - ebenfalls nicht feige
tanzt vor ein Stückchen vom Ballett.
Ein Dritter bietet Kabarett.
Auch muntres Blasen auf dem Kamm
trägt bei zum fröhlichen Programm,
nebst Chorgesang von laut bis leise.
Und jeder Gast auf diese Weise
heut nicht nur Speis und Trank verzehrt,
vielmehr auch kulturell sich nährt.
Max K. - von Muses Kuss verfehlt,
fühlt sich durch diesen Brauch gequält.
So spürt er schon des Tantchens Blick
ihn tief verachtend im Genick,
wenn er - wie bisher jedes Mal
sich tarnt und duckt, bevor die Wahl
des nächsten, der zur Bühn bestellt,
grad gar noch auf ihn selber fällt.

Doch diesmal soll es anders sein,
auch ich prob irgendetwas ein,
denkt er und überlegt sodann,
was er zum Besten geben kann:
Ein Zauberkunststück ist zu schwer,
und sportlich ist er längst nicht mehr,
ein Instrument besitzt er keins,
auch Singen ist nicht eben seins,
so richtig tanzen kann er nicht,
bleibt also bloß noch - ein Gedicht.
Mit Lyrik bisher nichts im Sinn,
fragt nach er bei der Nachbarin.
Frau Helma, welche Kunst studiert
und das Problem sogleich kapiert,
hat flugs ein altes Buch gezückt,
das schlägt sie auf und spricht beglückt:
Dies mag ich ganz besonders gern,
ein Zeilenwerk von ´Abendstern´.

Dann trägt sie's voller Inbrunst vor,
ein Schmaus selbst fürs geübte Ohr.
Die Stimme kunstvoll variiert
bei jedem Vers, den sie passiert,
mal dumpf sie scheint, dann wieder heller,
an manchen Stellen etwas schneller,
im Wechsel zart und voller Ruh.
Begeistert hört Max K. ihr zu.
Gekonnt sie auch Akzente setzt,
so hält die Spannung bis zuletzt
und Max - erfasst vom Lyrik-Hauch
weiß bloß: so können will ich's auch.
Die Zweifel all sind nunmehr nichtig,
grad dieses Werk erscheint ihm richtig.
Wie werden da die andern staunen,
träumt er und hört schon Beifall raunen.

Jedoch der Weg ist noch sehr weit,
bis dieser Traum wird Wirklichkeit,
und unter Helmas strenger Leitung
beginnt nun seine Vorbereitung:
Den Text er schon nach kurzer Zeit
im Schlaf beherrscht voll Sicherheit.
Draufhin sie nutzen jede Stunde,
dem Werk zu gehen auf den Grunde.
Was will der Autor damit sagen?,
hört man die beiden sich nun fragen
bei jedem Wort, nach jedem Satz,
die Zeilen werd'n zum wahren Schatz.
Als selbst der letzte Strich geklärt,
Frau Helma noch Betonung lehrt,
damit die Tiefen, die erschlossen,
dann auch vom Hörer werd'n genossen.
Auch Haltung, Gesten, Atmung, Blick
probt Max mit wachsendem Geschick,
und trotz sie manchen Nerven lassen,
die Fortschritte sind kaum zu fassen.
Am Tag als Max zur Feier fährt,
weiß er, die Mühe war es wert.

Das Fest nimmt den gewohnten Gang,
es dauert gar nicht allzu lang,
da wird gesungen, froh gelacht,
manch Kunst zur Aufführung gebracht,
und unser Max ist am Sich-Fragen,
wann er sollt seinen Auftritt wagen:
Durchaus schon früh, doch bloß nicht gleich,
wohl so im mittleren Bereich.
Nach einer Stunde, die voll Bangen
für unsern Max nun ist vergangen,
und die Erregung grad mal ruht,
denkt er, jetzt wär der Zeitpunkt gut.
Nur einen lasse ich noch dran,
beschließt er eisern, aber dann...
Und als man in die Runde fragt,
wer wohl den nächsten Auftritt wagt,
stolziert zur Freude aller hier
die brave Eva zum Klavier.
Dort klimpert sie 'ne Ewigkeit
wie jedes Mal in letzter Zeit,
und die Verwandtschaft ist entzückt,
wie lieblich sie die Tasten drückt.

Dann endlich schließt sie ab ihr Stück.
Jetzt kommt der große Augenblick:
Max K. nimmt allen Mut zusammen,
steht auf, beginnt sich vorzurammen.
Sein Herz - ein einziges Gepoch
als Eva ruft: Eins hab ich noch!
Als Bonus spräche ich noch gern
ein Zeilenwerk von Abendstern...
Max K. bleibt wie versteinert stehn.
Fast vorne schon, muss er nun sehn,
wie sie bekannte Worte spricht:
Aus ihrem Mund nun sein Gedicht.
Gelähmt durch einen kalten Schauer
aus Wut, Enttäuschung, tiefer Trauer,
steht er verzweifelt und betrachtet,
wie sie das Werk zusammenschmachtet.
Der Ausdruck kaum zum Inhalt passt,
vom Sinn hat sie wohl nichts erfasst.
Mit jedem Vers steigt seine Wut,
er kann es tausendmal so gut.
Am Ende liest sie gar bloß ab,
verspricht sich trotzdem nicht zu knapp...
Der Beifall aber ist enorm:
Ach, ist sie wieder mal in Form!
Und welch ein herrliches Gedicht,
so passend, heut grad, findst du nicht.
Und während man noch Lobe säht,
das Tantchen unsern Max erspäht
und zischt zu ihm mit spitzer Zunge:
Da, nimm dir mal ein Beispiel, Junge!