Peter Matussek

Deutschlands Superdichter.
Goethe unter Medienaspekten

 


In: forum deutsch. Revista Brasileira de Estudos Germânicos, Vol. IX (2005),
S. 88–96.

 

     
 

Welchen Stellenwert haben unsere literarischen Bildungsgüter in der Mediengesellschaft? Stehen Goethe und Schiller, das Dioskurenpaar der deutschen Klassik, noch fest auf dem Weimarer Sockel, oder zerbröselt dieser zum Sanierungsfall, en passant besucht auf Klassenfahrten, von denen nur das ins heimische Bücherregal wandert, was leicht faßlich ist? (D 01)[1]

Viele meinen, dieses Desinteresse rühre daher, daß die Jugendlichen zuviel vor Bildschirmen hocken. Allerdings kann es auch heute durchaus passieren, daß ihnen just dort Goethe und Schiller begegnen. So waren z.B. in einer Ausstrahlung der populären Fernsehshow "Wetten daß..." mit Thomas Gottschalk als musikalisches Intermezzo zehn junge Leute eingeladen – die Kandidaten der Endrunde eines Casting-Wettbewerbs unter dem Motto "Deutschland sucht den Superstar" (D 02). Die Redakteure der Sendung hatten offenbar vorgehabt, das Klischee vom Desinteresse der Computergeneration für die klassische Kunst zu widerlegen, indem sie die Superstar-Aspiranten Beethovens Vertonung der Ode an die Freude einüben ließen. Peinlicherweise wußte aber auf die Frage des Moderators, von wem denn der Text sei, niemand die Antwort. Das Klischee wurde nicht widerlegt, sondern unfreiwillig belegt, und so der kulturpessimistische Verdacht genährt, daß die Bildschirmmedien als dominantes Wahrnehmungsformat das literarische Erbe verdrängt haben.

Angesichts dieser Situation gibt es zwei typische Reaktionsmuster – ein offensives und ein defensives:

Das offensive Reaktionsmuster haben unlängst der Verein Deutsche Sprache und weitere deutsche Sprachgesellschaften praktiziert: Sie schrieben einen Gedichtwettbewerb aus unter dem Motto: Deutschland sucht den Superdichter – annonciert über das Internet (D 03). Das Kalkül dahinter ist evident. Man sagte sich: Die internetsüchtigen jungen Leute nehmen nur noch auf, was ihnen in den Formaten der Bildschirmmedien serviert wird – also benutzen wir diese Formate, um die gute alte Dichtkunst darin zu verpacken und sie so gleichsam durch die Hintertür einzuschmuggeln. Die Bedingungen des Wettbewerbs waren entsprechend einfach gehalten: "Die Gedichte müssen Reimform haben, wobei das Versmaß gleichgültig ist. Minimum pro Gedicht sind 3 Zeilen, Maximum 3 locker bedruckte Schreibmaschinenseiten" (D 04). Die Jury, in der immerhin ein Literaturprofessor saß, entschied sich schließlich für ein Gedicht, das in amateurhafter Volkspoesie-Manier das Gedichtelernen eines musisch unbegabten Menschen glossiert (D 05). Die Wahl bestätigte den Verdacht, der schon bei der Lektüre der Wettbewerbsbedingungen aufkommen mochte: daß der Versuch, die deutsche Dichtkunst wieder populär zu machen, auf Nachgiebigkeit gegenüber dem Durchschnittsniveau beruht. Das Bedenkliche daran ist weniger der Versuch zur Modernisierung als vielmehr, daß die Computermoderne nur wie ein Make-Up benutzt wird, statt selbst als Aufgabenstellung für literarische Innovation begriffen zu werden.

Dies scheint dem zweiten Reaktionsmuster Recht zu geben: der defensiven Abwehr der Neuen Medien, um die bedrohte Position der Literatur gegen sie in Stellung zu bringen. So schreibt etwa Matthias Luserke: "Wenn Tachokratie das Signum der modernen Informationsgesellschaft ist …, dann muß die Literatur eine Form der Herrschaftsverweigerung sein. Literatur verweigert die Unterordnung unter das Diktat der schnellen Bewegung."[2] Die neuen Medien sind nach dieser Auffassung die Gegner der Literatur. Diese hat ihre Funktion einzig darin, sich dem Neuen zu verweigern. Und entsprechend lautet Luserkes Resümee: "Die Literatur ist zur pflegebedürftigen alten Dame geworden, die nicht mehr gut sieht, der von Zeit zu Zeit ein schönes Buch vorgelesen werden muß, von deren Weisheit und deren Erfahrung wir aber unendlich viel lernen könnten."[3]

Es klingt tapfer, die Germanistik als unverdrossene Altenpflegerin der Literatur gegen eine Übermacht kraftstrotzender Medienfeinde ins Feld zu führen. Aber ich glaube, daß diese Sichtweise problematisch ist. Denn zum einen ist die Literatur nicht per se ein Heilmittel gegen die Zerstreuungstendenzen der Moderne, sondern befördert sie unter Umständen genauso, wie man es den heutigen Bildmedien nachsagt. So hatte schon Goethe in der Globalisierungstendenz der Literatur seiner Zeit eine "Springflut" (an Streckfuß, 27.1.1827) gesehen, die auf den Leser, "zum Ersäufen zuströmt" (an Zelter, 21.5.1828). Zum anderen wissen wir ebenfalls von Goethe, der lange Zeit schwankte, ob er zum Dichter oder zum Maler geboren sei, daß Bilder nicht per se Feinde der Imagination und Agenten der Tachokratie sein müssen. Die entscheidende Frage ist vielmehr, wie Schrift und Bild jeweils verwendet werden.

Wenn wir uns Goethes Medienpräsenz daraufhin ansehen, dann scheint zunächst die Lage gar nicht so hoffnungslos zu sein. Er hatte nämlich bei einem ZDF-Ranking unter dem Titel "Unsere Besten" sehr gut abgeschnitten: Während Schiller mit einem 68. Platz weit abgeschlagen war hinter dem Superstar Daniel Küblböck (Platz 16), der seinen Namen nicht kannte, kam Goethe gleich in der ersten Abstimmungsrunde unter die Top Ten (D 06). Aber heißt das, daß seine Qualitäten erkannt und anerkannt wurden? Daß es der Dichter und Naturforscher geschafft hätte, sich gegen die Trivialisierungstendenzen der audiovisuellen Medien zu behaupten?

Wenn man sich ansieht, wie in der Sendung für Goethe geworben wurde, kommen Zweifel auf. Die Plädoyers versuchten sich in Populismus: Der Fernsehschauspieler und Theaterintendant Peter Sodan las – unbeschwert vom philologischen Forschungsstand – den Schlußmonolog Fausts als affirmative Mahnung an die Tagespolitik (D 07), Focus-Herausgeber Helmut Markwort assistierte, die (vermentliche) Bekanntheit des Faust und die Liebesgedichte seien Grund genug für eine Titelstory (D 08), und die Bühnenschauspielerin Sunnyi Melles stimmte das Heidenröslein in der Fassung Heinrich Werners an – jener Melodie, die sich 1829 bei einem Wettbewerb unter rund 100 Vertonungen von Goethes Volksliedgedicht durchsetzen konnte, ein Studiopublikum des Jahres 2003 aber offenbar nicht mehr erreichte (D 09). Der so Beworbene rutschte daraufhin im Publikums-Ranking deutlich ab – von Platz 3 auf Platz 8 (D 10). "Goethe im Sinkflug" titelte DER SPIEGEL.

Aber kann man überhaupt ein bildschirmgerechtes Plädoyer für Goethe halten, ohne ihn just damit um seine Substanz zu bringen?

Man kann es durchaus, wenn man sich auf wenig rezipierte Aspekte seines Werks besinnt, die jenseits der aufgezeigten Alternative von offensiver oder defensiver Reaktion auf die Mediatisierung liegen: Goethes Aktualität wird man weder dadurch gerecht, daß man ihn zum Medienstar stilisiert, noch dadurch, daß man ihn zu einer allem Medientechnischen abholden Nischenfigur erklärt. Goethes Bedeutung in der Ära der audiovisuellen Medien besteht vielmehr darin, daß er sich mit deren technischen Urspüngen dezidiert auseinandergesetzt hat und somit zu den wichtigsten Analytikern und Kritikern der modernen Telepräsenz gehört.

Die Germanistik ist diesem Werkaspekt bislang erstaunlicherweise kaum nachgegangen – erstaunlicherweise, da wir ja schon seit den 60er Jahren eine medienwissenschaftliche Öffnung unseres Fachs verzeichnen können. Der engere Horizont der reinen Textwissenschaft wurde überschritten zugunsten einer Analyse von Wechselbeziehungen zwischen Einzelmedien wie Schrift und Bild. So eroberten die Comix die germanistischen Seminare und Studierstuben (D 11). Daß aber bereits Goethe auf das Genre der Bildgeschichten als beachtenswerter medialer Ausdrucksform hinwies, war den meisten 68er-Professoren, die ihn in die konservative Ecke stellen wollten, entgangen. Das Lob, das er den ersten Comix, der "littérature-en-estampes" Rodolphe Töpffers spendete, war nicht dahingesagt, sondern dezidiert begründet. Er selbst hatte sich ja schon in frühen Jahren als Physiognomien-Zeichner für Lavater betätigt und mit den Vor- und Nachteilen einer bildhaften gegenüber einer literalen Darstellung auseinandergesetzt. Als nun der Genfer Schulmeister Töpffer 1827 begann, in einer karikaturistischen Adaption der Physiognomik Lavaters sequentielle Bildgeschichten zu verfassen, mußte das Goethes Interesse wecken. Das war die richtige Vermutung Frédéric Sorets, der sich von seinem Freund Töpffer zwei Manuskripte auslieh und sie Ende 1830 mit nach Weimar brachte. Es handelte sich um Dr. Festus und Monsieur Cryptogramme (D 12).

Goethe war voll des Lobs über das neue Genre. Immer wieder nahm er sich, wie Soret berichtet, die Manuskriptblätter (D 13) vor und rief begeistert: "Es ist wirklich zu toll! Es funkelt alles von Talent und Geist! Einige Blätter sind ganz unübertrefflich; sie zeigen, was der Künstler zu leisten imstsande wäre, wenn er weniger unmittelbar und reflektierter zu Werke ginge. Mit einem weniger frivolen Gegenstand könnte er Dinge machen, die über alle Begriffe wären" (Eckermann, 4.1.1831). Auch in Briefen bekräftigte Goethe mehrfach sein positives Urteil. "Man muß in höchstem Maß bewundern", schrieb er an Soret, "ein solches Gespenst […] durch eine geistreiche Feder auf das seltsamste fixiert zu sehen. Danken Sie dem vorzüglichen Manne und versichern ihn daß jede Mittheilung dankbar und beyfällig werde aufgenommen seyn" (28.1.1932). "Bewundernswürdig", präzisierte er in einem weiteren Brief, seien "die mannichfaltigen Motive, die (Töpffer) aus wenigen Figuren herauszulocken weiß; er beschämt den allertüchtigsten Combinationsverständigen" (an Soret, 10.1.1831). Die neuartigen Schrift-Bild-Kombinationen beschäftigten Goethe so sehr, daß er einen ausführlichen Artikel über Töpffer für seine Zeitschrift Über Kunst und Altertum plante, den Eckermann und Soret dann postum im 6. Heft (1832, S. 581–590) unter Verwendung von Brief- und Gesprächsäußerungen realisierten. Was faszinierte Goethe so an der "littérature-en-estampes"?

Es sind nicht die Schrift-Bild-Kombinationen als solche, die ihn zu seinem Lob veranlaßten. Ganz im Gegenteil: Bekannt ist Goethes Reaktion auf den Vorschlag seines Verlegers, eine illustrierte Faust-Edition herauszubringen: "Den Faust", schrieb er 1805 an Cotta, "dächt' ich, gäben wir ohne Holzschnitte und Bildwerk. [...] Kupfer und  Poesie parodieren sich gewöhnlich wechselweise. Ich denke, der Hexenmeister soll sich allein durchhelfen" (25.11.1805).

Unter welchen Umständen Illustration und Text sich wechselseitig parodieren, läßt sich vor dem Hintergrund der Laokoon-Diskussion erläutern, die von Lessing ausgelöst und von Goethe weitergeführt wurde. Lessing hatte Literatur und bildende Kunst dadurch unterschieden, daß dieser die Dimension der Zeit fehle, die jene aufgrund ihrer narrativen Struktur mit sich brächte. Das Zeitmoment könne die bildende Kunst aber dadurch hereinholen, daß sie einen Moment zur Darstellung bringe, der vor einem erwarteten Ereignis liege. Im Falle der Laokoon-Gruppe ist das die Darstellung des Moments, als die Schlange zubeißt, der Gebissene aber noch nicht schreit – die Schmerzwirkung wird nicht gezeigt, sondern vom Betrachter imaginiert (D 14). Lessing spricht deshalb vom "fruchtbaren Augenblick".[4] Die Literatur hat diese Zeitverschiebung nicht nötig, da ihre Nichtanschaulichkeit eo ipso zu jenen imaginativen Ergänzugnsleistungen Anlaß gibt. Würde der Bildhauer der Laokoon-Gruppe aber den Moment des Schreis zeigen, ließe er der Vorstellungskraft nicht zu tun übrig.

Goethe hat zweifellos  ähnliches im Sinn, wenn er an den Bildgeschichten Töpffers weniger Unmittelbarkeit und mehr Reflexivität fordert. Dann nämlich offenbart sich das ganze Potential der Schrift-Bild-Kombinationen, indem die Wirkungen der beiden Medien sich nicht wechselseitig aufheben, sondern verstärken. Daß Goethe dieses Potential bei Töpffer angelegt sieht, geht daraus hervor, daß er dessen Talente als "Schriftsteller wie als bildender Künstler" als " gleich groß" bezeichnet. So steigern sich nach Goethes Urteil die jeweils ihre Autonomie behauptenden Medien in ihrer Kombination wechselseitig zu illuminierenden Kontrasteffekten, die den Erwartungshorizont der Einzelmedien transzendieren.

Daß sich Faust, der Hexemmeister "allein durchhelfen" sollte, ist vor diesem Hintergrund nicht als Plädoyer für Monomedialität zu verstehen. Schließlich ist der Faust ein Theaterstück, also selbst schon ein multimediales Kunstwerk. Eine Besonderheit dieses Stücks allerdings ist es, daß es nicht in der Darstellung einer Handlung aufgeht, sondern Darstellbarkeit selbstreflexiv zum Problem erhebt. Das sei im folgenden näher erläutert.

Die Ausgangslage von Goethes Faust ist die eines Lesers, der die Schrift als unzulänglich erfährt (D 15): Wir sehen Faust in seiner Gelehrtenstube, vollgestopft mit Büchern, die er "Durchaus studiert" hat mit "heißem Bemühn" (V. 357). Aber diese Bücher haben ihm nicht die erhoffte Erkenntnis dessen vermitteln können, "was die Welt/ Im Innersten zusammenhält" (V. 382 f.). Was er nun im historischen Kontext durch Magie erreichen will, läßt sich unter modernen Gesichtspunkten als Medienwechsel beschreiben: Anstatt weiter in geschriebenen "Worten [zu] kramen" sucht er "alle Wirkenskraft und Samen" (V. 384 f.) fortan in einer bildlichen Darstellungsformen, nämlich durch die Makrokosmosvision. Als er das Makrokosmoszeichen erblickt, erlebt er diesen Übergang von der Schrift zum Bild als Offenbarung. Mit dem Medienwechsel  vom Wort- zum Schauspiel ist Faust also seinem Erkenntnisziel offenbar näher gerückt. Doch nicht nah genug: Auch die Visualisierung des Kosmos erweist sich als begrenzt (D 16).

Aber gerade weil Faust das Schauspiel als bloßes Schauspiel erfährt – die Transzendierung der Schrift also ihr Komplement in einer Transzendierung des Bildes hat – gerade darum wird er fähig, demjenigen näher zu kommen, was den Horizont beider Medien überschreitet. Es offenbart sich zunächst im Übergang vom Bild zum Sprachlaut bei der Erdgeistbeschwörung (D 17). Diese stellt einen pointiert auditiven Bezug her ("Meine Stimme zu hören" – " Dein mächtig Seelenflehn" – " der Seele Ruf" – "des Stimme mir erklang?" etc. – V. 487 ff.), eine Kommunikationsform, die im Sinne der frühen Sprachtheorie Herders auf der Expression von Naturlauten beruht.

Durch den Übergang vom Bild zum Klang kommt Faust seinem Ziel abermals näher. Zwar wird auch hier der Durchbruch zur Essenz der Dinge zunächst verfehlt – der anfangs angezogene Erdgeist weist ihn zurück (D 18). Aber die jeweilige Selbstreflexion des Mediengebrauchs, die die spezifischen Limitierungen literaler, visueller und auditiver Darstellbarkeit überwindet (D 19), setzt eine Dynamik in Gang, die letztlich doch zum Erfolg führt: "Du hast mir nicht umsonst/ Dein Angesicht im Feuer zugewendet" (V. 3218 f.) sagt Faust, rückblickend auf den Beschwörungsversuch, in der Szene Wald und Höhle zum Erdgeist, als er das Vorgefühl eines erfüllten Augenblicks erlebt.

Goethes Behandlung des Problems, wie ein literarischer Gehalt den Medienwechsel zur Audivisualität überdauern kann, ist damit differenzierter als es uns die geläufige Medientheorie anzubieten hat. Denn einerseits demonstriert Goethe, daß – mit McLuhan gesprochen – das Medium die Botschaft ist: Fausts Transzendierungsstreben bleibt an die Materialität der Zeichen gebunden. Andererseits zeigt Goethe, daß der Gebrauch eines Mediums seine Materialität überwinden kann: Die Buchzeichen transzenideren – und sei es auch nur für Augenblicke – ihren Signifikantencharakter – und zwar just durch das Eingedenken ihrer technischen Bedingtheit.

Welche Konsequenzen lassen sich hieraus für den modernen Mediengebrauch ziehen? Goethe hat sich auch dazu klar geäußert. Erwähnt sei nur das berühmte Gespräch aus den Wanderjahren zwischen Wilhelm und dem Astronomen über Fernrohre. Es wird meist herangezogen, um Goethes pauschalen Einspruch gegen technische Medien bei der Naturbeobachtung zu belegen. Aber Wilhelm äußert sich differenzierter: "Ich habe im Leben überhaupt und im Durchschnitt gefunden, daß diese Mittel, wodurch wir unseren Sinnen zu Hülfe kommen, keine sittlich günstige Wirkung auf den Menschen ausüben. Wer durch Brillen sieht, hält sich für klüger, als er ist, denn sein äußerer Sinn wird dadurch mit seiner inneren Urteilsfähigkeit außer Gleichgewicht gesetzt".

Es ist hier von einem Ungleichgewicht die Rede zwischen äußerem Sinn und innerer Urteilsfähigkeit – z.B. indem ein Fernrohr uns Planeten so nahe vors Auge rückt, daß wir unsere Orientierung in dem uns umgebenden Lebensraum verlieren. Das gilt natürlich erst recht für die modernen Bildschirmmedien: Fernstes  wird durch Television und Datenübertragung ungewohnt nahe an uns herangerückt (MacLuhan spricht deshalb vom "globalen  Dorf"), so daß wir uns zwar einbilden, klüger und informierter zu sein, aber in Wirklichkeit dabei unser Urteilsvermögen verlieren. Unser innerer Sinn kann mit der Überpräsenz des äußerlich Dargebotenen nicht mehr Schritt halten. Deshalb ziehen manche Germanisten die Konsequenz, sich von den neuen Medien fernzuhalten, und die Literatur als Gegengift gegen die Bilderflut zu empfehlen. Was Goethe im Namen Wilhelm Meisters postuliert, ist jedoch eine andere Option. Wilhelm  fährt fort: "Wir werden diese Gläser so wenig als irgendein Maschinenwesen aus der Welt bannen, aber dem Sittenbeobachter ist es wichtig, zu erforschen und zu wissen, woher sich manches in die Menschheit eingeschlichen hat, worüber man sich beklagt." Das heißt, es wird nicht der Illusion gehuldigt, daß wir uns der zunehmend technisierten Medienentwicklung  entgegenstellen könnten. Vielmehr empfiehlt uns Wilhelm, diese Entwicklung zum Untersuchungsgegenstand zu machen, um herauszufinden, was sie antreibt, und was die Ursachen ihrer deformierenden Auswirkungen sind.

Daß Goethe kein Technikfeind war, ist evident, und muß doch immer wieder betont werden. So war er selbst ein eifriger Nutzer des siebenfüßigen Herschel-Teleskops, auf das in Wilhelms Gespräch problematisierend Bezug genommen wird (D 20). Er transportierte es zu seinem Gartenhaus, um von hier den Mond und die Planeten zu beobachten. Schließlich machte er sogar Reklame für das Gerät, um einen Käufer zu finden, und nachdem dieser Versuch wegen des hohen Preises erfolglos blieb, konnte das Fernrohr mit Goethes Hilfe 1813 an die neu gegründete Sternwarte in Jena gebracht werden.

Statt des vergeblichen Bemühens, die Apparate aus der Welt zu schaffen, empfiehlt Goethe, sich mit den Ursachen und Effekten ihrer Existenz auseinanderzusetzen. Und wenn sein "Sittenbeobachter" – den wir heute Medienwirkungsforscher nennen würden –  zu der Feststellung eines zunehmenden Ungleichgewichts zwischen innerem und äußerem Sinn gelangt, dann ist das für ihn wiederum kein Anlaß zum Medienverzicht, sondern Aufforderung zu einer Erweiterung unseres kulturellen Horizonts. Wilhelm resümiert: "Es gehört eine höhere Kultur dazu, deren nur vorzügliche Menschen fähig sind, ihr Inneres, Wahres mit diesem von außen herangerückten Falschen einigermaßen auszugleichen."[5] Entscheidend ist also für Goethe die Weiterentwicklung der kulturellen Bedingungen, die mit den technischen Entwicklungen Schritt halten müssen, um jene Ausgewogenheit von Innen- und Außenwahrnehmung zu ermöglichen.

Bezogen auf unsere Ausgangsfrage heißt das: Als Germanisten haben wir uns mit den audiovisuellen Medien zu beschäftigen. Nicht im Sinne einer Anpassung an die Bildschirmformate, auch nicht im Sinne einer Verweigerung, sondern im Sinne einer Reflexion ihrer Wirkungen nach Maßgabe dessen, was wir dem Sensorium der literarischen Bildung entnehmen können.

Eine resümierende Einschätzung der aktuellen Medienpräsenz Goethes versorgt uns daher mit einer guten und einer schlechten Nachricht, die sich beide einem Auszug aus der Quizsendung Wer wird Millionär? mit dem beliebten Moderator Günther Jauch entnehmen lassen (D 21).

Zunächst die schlechte Nachricht: Die Kandidatin wußte auf die 8000-Euro-Frage nach dem Namen von Goethes Osterspaziergänger keine Antwort, was nicht gerade auf eine "höhere Medienkultur" schließen läßt. Allerdings gibt bei dem Quiz die Möglichkeit, einen "Telefonjoker" einzusetzen, also jemanden anzurufen, der die Antwort wahrscheinlich weiß. In diesem Fall war es die Deutschlehrerin der Kandidatin. Diese wußte bzw. "hoffte", daß die richtige Antwort Faust hieß (D 22).

Natürlich ist nicht das die gute Nachricht, sondern daß uns Germanisten angesichts solcher Goetheabende ganz offensichtlich noch viel zu tun bleibt.




[1] Die in Klammern angegebenen "D"-Verweise mit Ordnungsziffer beziehen sich auf die medialen Präsentationen zu diesem Text, die zugänglich sind unter der URL peter-matussek.de/Pub/A_55_Demos/.

[2] Luserke, Matthias: Kultur, Literatur, Medien. Aspekte einer verwickelten Beziehung. In: Glaser, Renate, / Luserke, Matthias (Hg.): Literaturwissenschaft - Kulturwissenschaft. Positionen, Themen, Perspektiven; Opladen 1996, S. 169–191, hier: S. 180.

[3] Ebd., S. 188.

[4] Vgl. Lessing, Gotthold Ephraim: Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie. In: Werke, hg. v. Wilfried Barner, Bd. 5/2; Frankfurt am Main 1990, S. 11–206, hier S. 32.

[5] Goethe, Johann Wolfgang: Wilhelm Meisters Wanderjahre oder Die Entsagenden. In: Werke in 14 Bänden. Hg. von Erich Trunz; 11., überarbeitete Aufl. München 1978, Bd. VIII, S. 120 f.