Peter Matussek

Germanistik als Medienkulturwissenschaft. Neue Perspektiven einer gar nicht so neuen Programmatik.

 


In: Dogilmunhak, Koreanische Zeitschrift für Germanistik, Bd. 90, H. 2 (2004), S. 9–31.

 

     
 

ZUSAMMENFASSUNG

 

Der Aufschwung der Kulturwissenschaft als akademisches Fach und Forschungsprogramm, den wir seit rund fünfzehn Jahren erleben, ist für die Germanistik eine Herausforderung neuer Art. Während frühere Legitimationskrisen für die Disziplin geradezu konstitutiv waren, da sie mit einer auf die gesellschaftlichen und medialen Veränderungen angepaßten Erweiterung ihres Themen- und Methodenspektrums beantwortet werden konnten, läßt sich unter dem Konkurrenzdruck kulturwissenschaftlicher Fächer vielfach  eine Umkehrung dieser Tendenz beobachten. Manche Fachvertreter befürchten eine Selbstauflösung der Germanistik, wenn sie sich ihrerseits zur Kulturwissenschaft erweitert, und fordern deshalb einen profilbildenden Rückzug auf die klassischen Kernkompetenzen der deutschsprachigen Textphilologie. Die Auslandsgermanistik ist von diesem Dilemma besonders betroffen, da angesichts ihrer begrenzten Kapazitäten Akzentverlagerungen zur einen Seite als Positionsschwächungen auf der anderen spürbar werden: Eine kulturwissenschaftliche Öffnung des Fachs könnte  zu Lasten seiner sprach- und textphilologischen Anteile gehen,  durch eine Konzentration auf diese könnte  sie den Anschluß an die aktuellen Entwicklungen verlieren.

Es wäre jedoch unangemessen, die Kulturwissenschaft allein als konkurrentische Herausforderung der Germanistik zu sehen. Germanistik ist seit je – auch und gerade in ihren philologischen Ursprüngen – kulturwissenschaftlich orientiert gewesen. Eine kulturwissenschaftliche Öffnung der Germanistik muß nicht in Opposition zur Besinnung auf ihre philologischen Kernkompetenzen stehen, sondern kann durchaus als vitalisierender Rückgriff auf ihr eigenes, weitgehend noch unausgeschöpftes Potential angesehen werden. So sind auch die modernen Arbeitsfelder der Kulturwissenschaft – von der Historischen Anthropologie bis zur Medientheorie – für die Germanistik keine fachfremden Importe, sondern mit ihren eigenen Traditionen, Methoden und Instrumentarien eng verknüpft. Gerade die Auslandsgermanistik, die eo ipso interkulturell ausgerichtet und in besonderer Weise mit Fragen der medialen Vermittlung konfrontiert ist, hat diesbezüglich ein traditionsbedingt hohes Entwicklungspotential.

 

Die neuen Tendenzen zur Öffnung der Germanistik für kultur- und medienwissenschaftliche Fragestellungen werden mancherorts mit Skepsis und Sorge betrachtet. Insbesondere Auslandsgermanisten, die mit der schwierigen Aufgabe der Vermittlung von Sprachkompetenzen auf der Grundlage des literarischen Kanons ausgelastet sind, sehen sich von bildungspolitischen Initiativen überfordert, die der schwindenden Attraktivität ihres Fachs für die heutigen Studierenden (die zweifellos auch der geringeren ökonomischen Bedeutung Deutschlands geschuldet ist) durch Modernisierungen des Lehrangebots begegnen. Ich möchte deshalb zunächst klarstellen, daß ich volles Verständnis für diese Widerstände habe, soweit sie sich gegen eine von außen herangetragene Reform der Germanstik wenden. Änderungen eines Faches können nur von innen, aus einer Reflexion auf seine eigenen erkenntnisleitenden Interessen erfolgen. Allerdings  glaube ich, daß gerade ein solcher Prozeß der Selbstbesinnung dazu führt, Kultur- und Medienwissenschaft als genuine Kernelemente der Germanistik zu entdecken. Es handelt sich dabei nicht um eine Neuentdeckung, sondern eine Wiederentdeckung, wie ich im folgenden darlegen werde. Das ist nicht unmittelbar evident. Denn "Kulturwissenschaft" wird heute vielfach als Modewort gebraucht, das für eine Verwässerung thematischer und methodischer Stringenz herhalten muß. Und unter "Medien" werden heute meist nur die Neuen Medien begriffen, so daß mancher ältere Fachvertreter sich zu Recht fragen mag, warum er sich mit Computern beschäftigen soll, wenn er Goethe oder Thomas Mann interpretieren möchte. Daß Goethe und Thomas Mann die deutsche Sprache nicht isoliert, sondern in ihren kulturellen Kontexten begriffen und verwendeten, und daß sie dabei die Medialität der symbolischen und sinnesästhetischen Vermittlung von Kultur im Blick hatten – Goethe etwa mit seinen naturwissenschaftlichen Experimenten und Thomas Mann mit seinen politischen Rundfunkansprachen –, kann erst deutlich werden, wenn die Begriffe "Kultur" und "Medien" grundlegender und in diesem Sinne präziser gefaßt werden, d.h. wenn "Kultur" als historischer und lebensweltlicher Rahmen unseres Denkens, Fühlens, Wahrnehmens begriffen wird, und "Medien" als deren sowohl technische wie auch phänomenologische  Vermittlungsformen. Hinsichtlich eines derart erweiterten Verständnisses von Kultur und Medien hat die Germanistik eine lange Tradition und Kernkompetenzen ausgebildet, die auch für die Zukunft ein noch ausbaufähiges Potential bereitstellen. In diesem Sinne spreche ich von "Germanistik als Medienkulturwissenschaft" [1] .

Die Notwendigkeit eines derart erweiterten Fachverständnisses wird deutlich, wenn wir uns die Rezeptionssituation vor Augen führen, in die das deutsche Bildungsgut heute eingelassen ist. Hier führt in der Tat kein Weg daran vorbei, sich mit den Neuen Medien als Vermittlern von Kultur und Sprache auseinanderzusetzen. Ein exemplarischer Ausschnitt aus der populären Fernsehshow Wetten, daß...? mit Thomas Gottschalk mag das sinnfällig machen (D 01). [2] Für ein musikalisches Intermezzo waren hier zehn junge Leute eingeladen: die Endrunden-Kandidaten eines Casting-Wettbewerbs mit dem Motto Deutschland sucht den Superstar. Die Redakteure der Sendung hatten offenbar vorgehabt, das Klischee vom Desinteresse der Computergeneration für die klassische Kunst zu widerlegen, indem sie die Superstar-Aspiranten Beethovens Vertonung der Ode an die Freude einüben ließen. Peinlicherweise wußte aber auf die Frage des Moderators, von wem denn der Text sei, niemand die Antwort. Das Klischee wurde nicht wider-, sondern unfreiwillig belegt, und so der kulturpessimistische Verdacht genährt, daß die Bildschirmmedien als dominantes Wahrnehmungsformat das literarische Erbe verdrängt haben.

Angesichts dieser Situation gibt es zwei typische Reaktionsmuster – ein offensives und ein defensives:

Das offensive Reaktionsmuster haben unlängst der Verein Deutsche Sprache und weitere deutsche Sprachgesellschaften praktiziert: Sie schrieben einen Gedichtwettbewerb aus unter dem Motto: Deutschland sucht den Superdichter – annonciert über das Internet (D 02). Das Kalkül dahinter ist evident: Man sagt sich: Die internetsüchtigen jungen Leute nehmen nur noch auf, was ihnen in den Formaten der Bildschirmmedien serviert wird – also benutzen wir diese Formate, um die gute alte Dichtkunst darin zu verpacken und sie so gleichsam durch die Hintertür einzuschmuggeln. Die Bedingungen des Wettbewerbs waren entsprechend einfach gehalten: "Die Gedichte müssen Reimform haben, wobei das Versmaß gleichgültig ist. Minimum pro Gedicht sind 3 Zeilen, Maximum 3 locker bedruckte Schreibmaschinenseiten" (D 03). Die Jury, in der immerhin ein Literaturprofessor saß, entschied sich schließlich für ein Gedicht, das in amateurhafter Volkspoesie-Manier das Gedichtelernen eines musisch unbegabten Menschen glossiert (D 04). Die Wahl bestätigt den Verdacht, der schon bei der Lektüre der Wettbewerbsbedingungen aufkommen mochte: daß der Versuch, die deutsche Dichtkunst wieder populär zu machen, auf Nachgiebigkeit gegenüber dem Durchschnittsniveau beruht. Das Bedenkliche daran ist weniger der Versuch zur Modernisierung als vielmehr, daß die Computermoderne nur wie ein Make-Up benutzt wird, statt selbst als Aufgabenstellung für literarische Innovation begriffen zu werden.

Dies scheint dem zweiten Reaktionsmuster Recht zu geben: der defensiven Abwehr der Neuen Medien, um die bedrohte Position der Literatur gegen sie in Stellung zu bringen. So schreibt etwa Matthias Luserke: "Wenn Tachokratie das Signum der modernen Informationsgesellschaft ist …, dann muß die Literatur eine Form der Herrschaftsverweigerung sein. Literatur verweigert die Unterordnung unter das Diktat der schnellen Bewegung." [3] Die neuen Medien sind nach dieser Auffassung die Gegner der Literatur. Diese hat ihre Funktion einzig darin, sich dem Neuen zu verweigern. Und entsprechend lautet Luserkes Resümee: "Die Literatur ist zur pflegebedürftigen alten Dame geworden, die nicht mehr gut sieht, der von Zeit zu Zeit ein schönes Buch vorgelesen werden muß, von deren Weisheit und deren Erfahrung wir aber unendlich viel lernen könnten." [4]

Es klingt tapfer, die Germanistik als unverdrossene Altenpflegerin der Literatur gegen eine Übermacht kraftstrotzender Medienfeinde ins Feld zu führen. Aber ich glaube, daß diese Sichtweise problematisch ist. Denn zum einen ist die Literatur nicht per se ein Heilmittel gegen die Zerstreuungstendenzen der Moderne, sondern befördert sie unter Umständen genauso, wie man es den heutigen Bildmedien nachsagt. So hatte schon Goethe in der Globalisierungstendenz der Literatur seiner Zeit eine "Springflut" gesehen, die auf den Leser, "zum Ersäufen zuströmt". [5] Zum anderen sind die neuen Bildmedien nicht per se Feinde der Imagination und Agenten der Tachokratie, sondern können je nach ästhetischer Gestaltung auch kontemplative Wirkungen ausüben. Die Opposition von Schrift und Bild im Sinne von gut und böse ist also fragwürdig. Sie konstruiert einen Gegensatz, der dem Phänomen des Literarischen nicht gerecht wird, da dieses nicht von seinen piktoralen Elementen getrennt gesehen werden kann und oft auch im Verbund mit Bildern auftritt – nicht erst, aber besonders in der heutigen Zeit. Schon deshalb darf die Germanistik nicht halt machen vor den Bildschirmfenstern.

Mein grundsätzlicher Einwand gegenüber der defensiven Verteidigung der Literatur gegen die Bildmedien lautet mithin, daß sie gar keine Verteidigung der Literatur ist, sondern sie auf bestimmte Ausschnitte reduziert und damit ihre Potentiale beschneidet. Das heißt nun nicht, daß ich für das offensive Reaktionsmuster plädiere – also dafür, die "alte Dame" der Literatur zum Superstar umzuschminken. Ich glaube vielmehr, daß beide Positionen von einer falschen Voraussetzung ausgehen – nämlich der, daß Literatur sich den anderen Medien im Sinne einer "Herausforderung" stellen müßte. Wie Georg Stanitzek dargelegt hat, suggeriert das Wort "Herausforderung", daß die Neuen Medien von außen auf die Literatur zukämen wie eine Bedrohung. Literatur ist aber selbst ein Medium, das an den Umwälzungen durch die Digitaltechnik teil hat. So empfiehlt Stanizek, die Alternativformel "Literatur und Medien" preiszugeben und stattdessen besser von "Literatur im Wandel ihrer medialen Bedingungen"  zu sprechen. [6]

Diesen Wandel der medialen Bedingungen von Literatur können wir nicht ignorieren, wenn wir den literarischen Phänomenen weiterhin gerecht werden wollen. Die Beschäftigung mit den Neuen Medien ist also nicht ein neues Aufgabengebiet der Germanistik, das zu den alten hinzukäme, sondern sie ist die Voraussetzung, um die spezifische Art der Gegebenheit unserer Gegenstände zu begreifen. Auch in den Epochen vor der Computermoderne haben entsprechende Voraussetzungen gegolten. Das heißt aber nicht, daß wir uns mit Medien statt Literatur zu beschäftigen haben. Medien sind, wie ich eingangs sagte, lediglich die Vermittlungsformen von Kultur, zu denen die Literatur gehört, und genau das ist der Grund, warum wir als Germanisten immer zugleich Kulturwissenschaftler sind, wenn wir durch diese Vermittlungsformen hindurch unsere Gegenstände interpretieren.

Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: Rilkes Gedicht Archaischer Torso Apolls (D 05) kann nicht angemessen verstanden werden, wenn wir nicht seine kulturhistorischen Implikationen in den Blick nehmen. Dazu gehören unter anderem:

• die Bildgeschichte – hier insbesondere Winckelmanns Studien zur Skulptur der klassischen Antike, [7] die schon vor Rilke den Torso als Anlaß für imaginative Ergänzungsleistungen durch den Betrachter beschreiben (a) [8] ;

• die Technikgeschichte, die  deutlich macht, daß Rilke mit der Formulierung vom "Kandelaber, in dem das Sehen zurückgeschraubt" sei, auf industrielle Lebensbedingungen anspielt [9] (b);

• die Mentalitätsgeschichte, die die Wendung von den "flimmernden Raubtierfellen", die angesichts einer Marmorskulptur rätselhaft bleiben müßte, auf Rilkes Auseinandersetzung mit dem Exotismus der Zeit zurückzuführen vermag (c);

• die Geschichte der Wahrnehmungstheorie, die die lyrische Wendung von der Objekt- zur Selbstaufmerksamkeit kontextualisierend erhellt – z.B. mit Bezug auf Ernst Machs Analyse der Empfindungen [10] (d).

Kurz: Ein Gedicht zu interpretieren heißt nicht, die Literatur gegen andere Felder der Kulturgeschichte  abzudichten, sondern ihr Verhältnis zu diesen zu untersuchen. Nur so kann das spezifisch Literarische überhaupt als solches erfaßt werden.

Eine kulturwissenschaftliche Betrachtungsweise von Literatur ist deshalb keine von außen herankommende Bedrohung für die Germanistik, sondern eine Chance, ihre eigenen Gegenstände angemessener zur Entfaltung zu bringen, als eine isolierende Eingrenzung des Literarischen auf das Medium Schrift es könnte. Entsprechend habe ich im Titel unserer Tagung deutlich zu machen versucht, daß die Kulturwissenschaft nicht nur als Herausforderung der Germanistik zu begreifen ist, sondern auch und vor allem als ihr Potential. Dieses Potential muß nicht erst konstruiert werden, sondern es liegt, wie ich im folgenden zeigen möchte, in der Geschichte des Faches selbst begründet.

Für die Vorläufer der Germanistik als Fachdisziplin, die klassischen deutschen Philologen, war die Beschäftigung mit Literatur und Sprache dezidiert kulturwissenschaftlich ausgerichtet. Dies ist in der Zwischenzeit lediglich vergessen worden, so daß manchen Kritikern einer kulturwissenschaftlichen Germanistik als Mode erscheint, was zum traditionellen Kernbestand unseres Faches gehört. Um an das vergessene Erbe zu erinnern, seien nur einige Stichworte genannt (D 06):

Bereits die ersten Ansätze einer deutschen Philologie sahen – wie Hermann Bausinger mit Blick auf Friedrich Just Riedels Briefe über das Publikum von 1768 hervorhebt – Literatur und Sprache "eingebettet in eine [kulturelle, soziale] Totalität, die auch sonst für die wissenschaftlichen Ansätze der Aufklärung charakteristisch ist … Die Suche nach sprachlichen Besonderheiten ... war meistens Teil umfassender Beschreibungen von Land und Leuten." [11] Bausingers Beleg lassen sich zahlreiche andere an die Seite stellen. Ich verweise nur an den Kulturdiskurs Herders und Goethes, dem Beiträge im vorliegenden Band gewidmet sind. Herders Liedersammlung etwa, zu der Goethe maßgeblich beitrug, und die unter dem Titel Stimmen der Völker in Liedern (1778/79) erschien, ist gezielt im Interesse interkultureller Vergleiche angelegt. Kulturgeschichte wurde hier als vergleichende Sittengeschichte der Völker betrieben. Auch dem klassischen Philologen Friedrich August Wolf ging es in seiner Darstellung der Altertumswissenschaft (1807) um das kulturelle "Ganze": Er umschrieb die Philologie als "Inbegriff der Kenntnissse und Nachrichten, die uns mit den Handlungen und Schicksalen, mit dem politischen, gelehrten und häuslichen Zustand der Griechen und Römer, mit ihrer Cultur, ihren Sprachen, Künsten und Wissenschaften, Sitten, Religionen, National-Charakteren und Denkarten bekannt machen." [12]

Als unser Fach seine disziplinären Konturen erhielt, also im späten 19. Jahrhundert, war dieser Totalitätsbegriff zwar schon eingeschränkt. Er war aber immer noch wesentlich stärker ausgeprägt als in unserer Zeit. Germanistik wurde als umfassende Kulturwissenschaft postuliert – und dies nicht nur implizit: Der Terminus "Cultur-Wissenschaft" taucht in der Mitte des 19. Jahrhunderts erstmals auf. [13]

Vor diesem Hintergrund erklärte im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts Moritz Heyne, der die Germanistik als Professor in Basel und Göttingen vertrat: "[Die Aufgabe der deutschen Philologie liegt] in der Erfassung des gesamten Geisteslebens unserer Nation und seiner Entfaltung soweit es uns in Denkmälern überliefert. Diese Denkmäler sind nicht blos solche der Litt., sondern auch solche der Kunst, des Gewerbes, der mündl. Überlieferung." [14]

Um die Jahrhundertwende schließlich erlebte die Kulturwissenschaft ihre erste wissenschaftstheoretische Grundlegung durch die deutsche Kulturphilosophie – der Terminus "Kulturphilosophie" datiert exakt auf das Jahr 1900. Ich erinnere nur an die wichtigsten Namen (D 07):

Heinrich Rickert definierte die "Kulturwissenschaft" in epistemologischer Abgrenzung zur Naturwissenschaft: Die Naturwissenschaft, sagt Rickert,  geht wertfrei und generalisierend vor, während die Kulturwissenschaft wertorientiert und individualisierend vorgeht. Die eine betont die Gesetzmäßigkeit ihrer Gegenstände, die andere ihre Ereignishaftigkeit. Mit diesen Differenzbestimmungen löste Rickert zugleich Wilhelm Diltheys Terminus der (verstehenden) "Geisteswissenschaft" als Gegenbegriff zur (erklärenden) Naturwissenschaft ab, da durch die moderne Psychologie der Begriff  "Geist" mehrdeutig geworden sei. [15]

Georg Simmel  ist die zentrale Figur des sich um die 1910 gegründete Zeitschrift Logos scharenden Kreises von Kulturphilosophen. Als Schüler von Moritz Lazarus und Heymann Steinthal ist er mit der völkerpsychologisch orientierten Kulturanthropologie vertraut. Sein Begriff einer "Philosophischen Kultur" signalisiert denn auch, daß er nicht einfach Kulturphilosophie als neue Fachdisziplin betreiben will, sondern die Wissenschaft selbst als eine Hervorbringung von Kultur, mithin als kulturelle Praxis begreift. [16] Dabei ist ein ganz entscheidendes Motiv für ihn – wie für die spätere Kulturwissenschaft überhaupt – die Abstandsverringerung zwischen Wissenschaft und Leben.

• Bis heute die nachhaltigste Wirkung hat der von Ernst Cassirer  verfolgte Ansatz einer Grundlegung der Kulturwissenschaft als Philosophie der symbolischen Formen (1923–29). In seinem so betitelten Hauptwerk  werden die Bereiche der Kultur und ihrer Lebensformen (Sprache, Religion und Mythos sowie wissenschaftliche Erkenntnis) nach den ihnen jeweils eigentümlichen Funktionsprinzipien analysiert, in ihrem Ensemble aber wiederum als ein organisch sich ergänzendes Ganzes gesehen. Die symbolischen Formen erscheinen dabei als anthropologische Strukturmerkmale, die den Menschen durch alle Variationen hindurch zur Selbstbefreiung führen.

Neben den genannten Kulturphilosophien werden gleichzeitg auch kulturpsychologische Ansätze entwickelt, die auf die deutschsprachige Literatur nachhaltige Wirkung hatten. Zu ihnen gehören Otto Weininger und Sigmund Freud, denen ebenfalls Beiträge im vorliegenden Band gewidmet sind.

Quer zu dieser  ersten Gründungsphase der deutschen Kulturwissenschaft steht eine wissenschaftshistorische Entwicklung, die den soeben erst entfalteten Kulturbegriff bis zur Unkenntlichkeit verzerrte und schließlich durch einen borniert chauvinistischen verdrängte. Gehörte es bis hierher zum Erbe der Germanistik, die deutsche Literatur und Sprache als spezifischen Beitrag zu einem alle Völker verbindenen Kulturschaffen zu begreifen, instrumentalisierte sie nun unter dem Mandat imperialistischer Interessen das "Völkische" zu einem Kampfbegriff gegen die kulturell vermeintlich unterlegenen Feinde. Davon blieb auch Goethe, der Wielands Begriff der Weltliteratur zum Konzept eines interkulturellen Transfers erweitert hatte, nicht verschont. Hierfür seien nur zwei zwar skurrile, aber für die damalige Rezptionshaltung repräsentative Beispiele genannt. So berichtet zum einen der Schriftsteller Rudolf Wustmann über die Kampfhandlungen gegen Frankreich zu Beginn des Ersten Weltkriegs: „In manchen Schützengraben kehrte Faust mit ein, und … bei Fausts Selbstgesprächen dachten wir unserer Feinde: ‚So etwas habt ihr doch nicht.'" [17] Und selbst die Erz-Domäne positivistischen Philologenfleißes, die 143-bändige Weimarer Goetheausgabe, stellte sich nun in den Dienst des deutschnationalen Hegemonialbegriffs von Kultur. Im ersten Registerband findet sich unter dem Stichwort "England" am Ende der akribischen Auflistung aller Belegstellen der von den Editoren 1915 hinzugesetzte Kampfruf: "Gott strafe England!" (D 08)

Nach den beiden Weltkriegen hat man sich zwar bemüht, die nationalistischen Spuren wieder zu tilgen. Doch das bedeutete nicht, daß nun, nach der Abirrung, an die besseren Traditionen einer kulturwissenschaftlich orientierten Germanistik angeknüpft wurde.  Ganz im Gegenteil: Die Absage an die völkische Ideologie vollzog sich, wie Bausinger formuliert, im Zeichen einer  "Verschlankung" der Germanistik: Sie gab den Anspruch preis, das "Ganze" der Kultur zu verstehen, da dieses Ganze in den Ruch des Totalitarismus geraten war. Stattdessen konzentrierte sie sich nun auf fest umrissene Spezialdisziplinen: Sie beschränkte sich auf die Teilgebiete Linguistik, Ältere und Neuere deutsche Philologie (D 09).

So nachvollziehbar diese "Verschlankung" im Sinne einer Entideologisierung  einerseits war, so wirkte in ihr doch andererseits die nationalsozialistische Diskreditierung einer kulturwissenschaftlichen Germanistik indirekt nach. Das weitgehend befolgte Tabu, an die kulturwissenschaftliche orientierte Vergangenheit des Fachs anzuknüpfen, kam einer Denkblockade gleich und beschnitt den germanistischen Erkenntnisspielraum. Erst seit Beginn der siebziger Jahre kam es zu einer sukzessiven Wiederausweitung der Germanistik durch die Reimplementierung kulturwissenschaftlicher Ansätze. Die Impulse hierfür kamen zunächst von außen (a):

• aus der Mentalitätengeschichte, die in der französischen Geschichtswissenschaft zu Beginn der sechziger Jahre aufkam, und die an die Tradition der 1929 gegründeten "Annales"-Schule anknüpfte.

aus den Cultural Studies (begründet durch das "Center for Contemporary Cultural Studies" an der Universität Birmingham 1964).

• aus dem New Historicism, der (maßgeblich beeinflußt durch die Diskursanalyse Foucaults) von der amerikanischen Westküste in den siebzigerJahren ausging, und der von Stephen Greenblatt 1982 seinen Namen bekam.

Diese Einflüsse trugen erheblich dazu bei, daß die Kulturwissenschaft auch in der Germanistik wieder Fuß fassen konnte. Dabei sind zunächst zwei Basismerkmale hervorzuheben (b):

• Erstens die durch den ausländischen Methodentransport beförderte  Internationalität,

zweitens eine in den genannten Impulsgeber-Ansätzen geübte Tendenz zur Interdisziplinarität.

Internationalität war just das Merkmal, das der kulturwissenschaftlichen Germanistik in Imperialismus und Nationalsozialismus abhanden gekommen war. Es wiederaufzugreifen hieß, sich mit dem diskreditierten Erbe der deutschen Volkskunde auseinanderzusetzen. Dies leisteten zu Beginn der siebziger Jahre die jüngeren Vertreter der weiterhin an deutschen Universitäten bestehenden Volkskunde. Bezeichnend hierfür ist die 1971 von Hermann Bausinger vorgenommene Umbenennung des Tübinger Ludwig-Uhland-Institut für Volkskunde in Ludwig-Uhland-Institut für empirische Kulturwissenschaft (c). Wie Gottfried Korff hervorhebt, sollte mit dieser Umbenennung die notwendige "Entnationalisierung" der deutschen Volkskunde vor allem als Prozeß der "Internationalisierung" markiert werden. [18]

Aus parallelen Gründen vollzog sich auch innerhalb der Germanistik eine Tendenz zur Internationalisierung. In der Linguistik zeigte sich das etwa daran, daß nun Theorieimporte der Sprachanalyse, des Strukturalismus sowie der Semiotik in das Fach Einzug hielten (d).

Eine entscheidende Rolle bei der Internationalisierung der deutschen Sprachwissenschaft aber spielte die Auslandsgermanistik, die bei uns nun institutionell unter dem neuen Signum "Deutsch als Fremdsprache" verankert wurde (e). In den jeweiligen  Ländern, für die sie gelehrt wurde, konnte sie aber durchaus an ältere Traditionen anknüpfen. Dabei überschritt sie naturgemäß den engeren Horizont der Sprachdidaktik. Wie Karl Hyldgaard-Jensen definierte, ist "Deutsch als Fremdsprache … auch Deutsch als Fremdsprachenkultur" [19] .

Aber nicht nur in dieser Hinsicht einer kulturellen Kontextualisierung der deutschen Literatur und Sprache hat die Xenogermanistik unserem Fach zu einer der wichtigsten kulturwissenschafltichen Erweiterungen verholfen. Sie hat auch dazu geführt, daß Vergleiche zwischen den Kulturen hergestellt wurden, das Fach also für interkulturelle Fragestellungen geöffnet. (Beispiele zu solchen Ansätzen – sowohl zum Fremdverstehen als auch zum interkulturellen Vergleich von literarischen Motiven mit der asiatischen Tradition – finden wir in mehreren Beiträgen des vorliegenden Bandes.) Diese Art der Rückgewinnung des Merkmals der Internationalität durch die Auslandsgermanistik hilft davor bewahren, in bloßer Globalisierung aufzugehen, indem die Spezifik der jeweiligen Kulturen hervorgehoben wird. Wir sollten daher besser statt von "Internationalität" von "Interkulturalität" sprechen (f).

Das Merkmal der Interdisziplinarität geht damit Hand in Hand. Denn um das kulturelle Leben in seinen verschiedenen Ausdrucksformen zu verstehen, bedarf es des Zusammenwirkens mehrerer Einzeldisziplinen. Und diese Tendenz zur Interdisziplinarität zog nun auch in die germanistischen Kerndisziplinen ein (g):

• Insbesondere die Mediävistik ist ja per se dazu prädestiniert, fachübergreifend  zu arbeiten. Denn sie ist zur Erforschung ihrer Gegenstände darauf angewiesen, nicht nur literarische Texte zu studieren, sondern auch etwa archäologische Funde, historische Quellen und kunstgeschichtliche Dokumente. So hat sich, nicht nur durch den Import von Einflüssen der französischen Mentalitätengeschichte, sondern aus dem Kern des Fachs heraus, eine kulturwissenschaftliche Öffnung ergeben, die unter dem Orientierungsbegriff einer "Historischen Anthropologie" gefaßt werden kann.

• In der Neueren deutschen Literaturwissenschaft zeigte sich die Öffnung für interdisziplinäre Fragestellungen zunächst in einer sozialgeschichtlichen Orientierung, die sich ideologiekritisch mit der nationalistischen Verengung des Kanons auf ein vermeintlich naturwüchsiges Deutschtum auseinandersetzte. Diesem Anliegen trat zur Seite die Rezeptionsgeschichte, die sich gegen das insbesondere von Emil Staiger repräsentierte "einfühlende Verstehen" wandte und damit – nach einem Buchtitel von Hans Robert Jauß – zur Provokation der Literaturwissenschaft wurde. [20] Beides wurde zusätzlich dadurch befördert, daß die Auslandsgermanistik die Erkenntnis erneuern half, daß die Nationaliteratur erst als solche angemessen beschrieben werden kann, wenn ihre "Einbettung in die internationalen Entwicklungszusammenhänge der Weltliteratur" [21] berücksichtigt wird. Natürlich ist dieser Gedanke bei Goetheliebhabern nie in Vergessenheit geraten, aber er wurde eher von den Exilanten wachgehalten und war in der ersten Nachkriegszeit stark auf nationale Interessen bezogen geblieben.

In dem Maße, wie nun das Abgrenzungskriterium des germanistischen Kanons auf das vermeintlich "rein Germanische" der Kritik anheimfiel, öffnete sich auch der Methodenkanon für neue Disziplinen, die das kulturwissenschaftliche Erbe erneuern halfen. Die zurückgewonnene Interdisziplinärität der Germanistik wirkte also zurück auf die Stärkung des Gedankens der Interkulturalität (h).

Doch diese Entgrenzung der deutschen Philologien, die das methodische und thematische Spektrum der Germanistik wieder stark erweiterte, brachte auch ein neues Problem mit sich: Den kaum noch überschaubaren Methodenpluralismus. Nach Psychoanalyse, Sozial- und Rezeptionsgeschichte waren es Strukturalismus und Poststrukturalismus, Systemtheorie, Konstruktivismus und Kommunikationstheorie, schließlich auch Gender Studies, Ethnographie, Historische Anthropologie und Gedächtnisforschung, die seit Mitte der achtziger Jahre dazu geführt haben, daß die Germanistik paradoxerweise an der Entstehung ihrer eigenen Konkurrenz  mitgewirkt hat – und zwar in Gestalt von Neugründungen kulturwissenschaftlicher Institute, Fachbereiche und Forschungseinrichtungen. Damit steht sie nun vor einem Dilemma, das von vielen sogar als Zerreißprobe empfunden wird. Denn sie kann scheinbar nur zwischen zwei Optionen wählen, von denen die eine so problematisch ist wie die andere:

Die erste Option besteht darin, den Exodus der größtenteils aus ihr selbst generierten Ansätze in die als "Kulturwissenschaft" etikettierten Fächer zuzulassen und sich stattdessen auf "radikale Textphilologie" zu konzentrieren, wie es manche fordern. Ich hatte schon am Beispiel des Rilke-Gedichts erläutert, warum mir dieser Weg verfehlt zu sein scheint: Gerade eine "radikale" Philologie muß den Texten ganz buchstäblich an die in mannigfaltigen kulturellen Feldern liegenden Wurzeln gehen.

Die andere Option, die die Germanistik wählen könnte und bisweilen auch wählt, besteht darin, daß sie ihre eigene kulturwissenschaftliche "Suppe kocht". Problematisch ist diese Option, weil sie an dem generellen Vorwurf  gegenüber der Kulturwissenschaft partizipiert, daß sie auf allen möglichen Themenfeldern dilettiere, ohne klare methodische Konzepte zur Bewältigung dieser Themenvielfalt zu haben – ein Vorwurf, den schon Friedrich Schlegel gegenüber dem Enzyklopädiekonzept von Novalis übte.

Nun ist der Vorwurf des Dilettantismus nicht unbedingt ehrenrührig. Abermals läßt sich auf Goethe verweisen als prominentes Beispiel für die Produktivkraft  des Dilettierens auf verschiedenen Feldern, was ja nichts anderes heißt als Mut zum Grenzgängertum. Nur wer solchen Mut aufbringt und keine disziplinären Scheuklappen aufsetzt, vermag die Wissenschaft voranzubringen.

Aber für die Germanistik stellt sich das Problem anders als für die als "kulturwissenschaftlich" etikettierten Fächer. Die Kulturwissenschaft gewinnt ihr Profil just dadurch, daß sie – wie Hartmut Böhme formuliert – "bezogen auf die Relais-Struktur der Gegenstände eine qualitative Rekombination der vorhandenen Wissensfelder und eine experimentelle Integration des Gegenstandsphänomens vornimmt". [22] Wenn sich dagegen die Germanistik in Perspektivenvielfalt übt, dann stärkt sie nicht ihr fachliches Profil, sondern geht in die Breite und wird entsprechend schwerfällig.

Wir stehen also heute vor dem Dilemma,

– einerseits Germanistik als Kulturwissenschaft betreiben zu wollen (da unser Gegenstand, die deutsche Sprache und Literatur nur in der ungeschmälerten Vielfalt ihrer kulturellen Kontexte zu begreifen ist),

– andererseits uns nicht an der Vielfalt der Perspektiven zu übernehmen und keinen spezifischen Themenbezug  erkennen zu lassen.

Wie also soll die Germanistik sich orientieren, um in ihrer kulturwissenschaftlichen Erweiterung dennoch ein eigenes Profil zu behalten? Es gibt verschiedene Antwortversuche auf diese Frage:

Ein populärer und vieldiskutierter Ansatz zur Profilbildung einer germanistischen Kulturwissenschaft ist es, "Kultur als Text" zu begreifen. Wie Carsten Lenk ausführt, besteht die Verlockung dieses Paradigmas darin, die große Kompetenz der in den Philologien herausgebildeten texthermeneutischen Verfahren auf nichtliterarische Gegenstände anzuwenden – insbesondere diejenigen, die traditionell von Volkskunde, Kulturanthropologie und Ethnologie bearbeitet werden. [23] In Anlehnung an Max Weber und Paul Ricœur hat Clifford Geertz diesen Ansatz mustergültig in seinem Essay Deep Play vorgeführt und in einem weiteren Essay unter dem Titel Dichte Beschreibung dargelegt, daß Kulturen als von Menschen generierte Symbolsysteme anzusehen seien, die wie Texte gelesen werden können. Die Aufgabe des Ethnographen begreift er deshalb als Lektüre. [24]

Geertz selbst geht in seinen Arbeiten so weit, daß er Kulturen nicht nur wie Texte, also als text-analog, betrachtet, sondern als Texte, den jene schreiben, die in ihr handeln. Damit hat er die sogenannte writing culture-Debatte in der Ethnographie ausgelöst. Sie hat darauf aufmerksam gemacht, daß eine konsequente Anwendung des Paradigmas impliziert, nicht nur die vom Ethnographen beobachteten Kulturphänomene, sondern den Ethnographen selbst als Textproduzenten zu beobachten. So relativiert sich aber das Verfahren der "dichten Beschreibung": Es tritt nun selbst in den Fokus als textkonstituierende, notwendig selektierende und wertsetzende Verschriftung von Kulturen, die dem eigenen Diskurs unterworfen werden. Der Vorteil, über eine hochdifferenzierte Beschreibungsmethode zu verfügen, schlägt also in den Nachteil eines Differenzierungsverlustes um, da der Gegenstand vom Beschreibungsparadigma überformt wird und manche seiner Aspekte, die schlechterdings nicht textkonform sind, aus dem Blick geraten – zum Beispiel der Prozeßcharakter nichtverbaler sozialer Interaktionen.

Gerhart Mayer hat diese Feststellung auf die Formel gebracht, daß Literatur Modellcharakter hat, und daß die literarischen Modelle Kultur nicht nur als strukturales, sondern auch prozeßhaftes Phänomen beschreiben, wobei er sich auf die Interaktionstheorie von Talcott Parsons stützt. Allerdings bleibt auch diese paradigmatische Erweiterung  des literarischen Gegenstandes noch hinsichtlich einer kulturanalytischen Perspektive restringiert: Meyers Modellbegriff von Literatur nämlich fokussiert ihre Funktion auf das Merkmal der "repräsentativen Relevanz". [25]

Erika Fischer-Lichte wendet gegen dieses Paradigma der Repräsentation ein, daß es Kultur verkürzt erfaßt. Sie macht darauf aufmerksam, daß Kulturen nicht nur auf die Bedeutungen von Zeichen oder Handlungen befragt werden können und müssen, sondern auch auf Inszenierungsformen, ihre Performanzen, die mit Methoden zu untersuchen sind, wie sie insbesondere die Theateranalyse bereitstellt. Sie erinnert zugleich daran, daß es performativitätstheoretische Ansätze auch schon bei Nietzsche und Foucault, in Austins und Searles Sprechakttheorie oder in Milton Singers Konzept der "cultural performance" gab. Diese Ansätze ermöglichen die Analyse transtextueller Inszenierungtypen, die nicht in einem Repräsentierten, sondern in der Ereignishaftigkeit ihrer Vollzüge ihren Kern haben. Wichtig für das Verständnis der Position von Fischer-Lichte ist, daß sie das Paradigma "Kultur als Text" nicht einfach durch das Paradigma "Kultur als Performanz" austauschen möchte. Sondern es geht ihr um die Wechselwirkungen und Spannungsverhältnisse zwischen beiden Perspektiven. So wie eine Theateraufführung den ihr zugrundeliegenden Text  voraussetzt, so beziehen sich performative Kulturprozesse immer auch auf Bedeutungen, die sie "kommentieren, modifizieren, stärken oder auch schwächen können". [26] Wie Fischer-Lichte des weiteren hervorhebt, gibt es historische Dominanzverschiebungen zwischen textorientierten und performanzorientierten Kulturen, die jeweils Gegenbewegungen vom anderen Pol hervorrufen. So hat z.B. der Buchdruck zweifellos eine Dominanz des Textuellen mit sich gebracht, auf den aber das elisabethanische Theater oder die Gedächtnistheater der Renaissance mit Re-Performativisierungsschüben antworteten. Umgekehrt erleben wir heute – mit dem Vordringen von ereignisorientierten  kulturellen Praktiken in den postindustriellen Gesellschaften (Ausstellungs-"Events", Massensportveranstaltungen, jugendliche  Selbsinszenierungs-Rituale etc.) – eine Wiederkehr  des Performativen, auf die mit einer Betonung des Textparadigmas geantwortet wird.

Wenn wir nun für dieses Wechselverhältnis, das zweifellos in den Kompetenzbereich der Germanistik fällt – sowohl hinsichtlich ihrer Fähigkeiten zur Analyse von Textbedeutungen wie auch zur Beschreibung ihres Zusammenhangs mit performativen Kulturprozessen –, einen systematischen Zugang suchen, so bietet sich hierfür eine medienwissenschaftliche Perspektive an. Dies allerdings auf der Grundlage eines erweiterten Medienbegriffs, wie ich ihn eingangs erläutert hatte. Denn textuelle und mit diesen verkoppelte Repräsentationsformen sind ebenso wie performative Praktiken nach diesem Begriffsverständnis Medien, die als Erzeugnisse und als Bedingungen des Kulturprozesses unser Wahrnehmen, Fühlen und Denken  formen. Und auch wenn wir den Textbegriff, mit dem wir es in der Linguistik und den Philologien  vorwiegend zu tun haben, weiter ins Zentrum stellen, dann finden wir Anschluß an das zuvor beschriebene Wechselverhältnis, sofern wir diesen Textbegriff hinsichtlich seiner intermedialen Verbindungen zu anderen Medien ins Auge fassen: zu ästhetischen Medien wie Bild oder Klang, technischen Medien wie Buchdruck oder Computer und performativen Medien wie Ritual oder Spiel. Was wir also zuvor als Problem der Ausuferung gefaßt haben – die fehlende Fokussierung auf germanistische Kernkompetenzen hinsichtlich des Methodenpluralismus interdisziplinärer und interkulturelle Forschungsinteressen, könnte in einem solchen Intermedialitätskonzept eine Filterfunktion finden (i). Anknüpfungspunkte für eine entsprechende "Germanistik als Medienkulturwissenschaft" gehen aus ihren etablierten Teildisziplinen selbst hervor:

So hat die Linguistik im Vollzug  der Modernisierung ihrer Verfahren  als eine der ersten geisteswissenschaftlichen Disziplinen gelernt, die Computerrevolution für ihre Forschungsinteressen fruchtbar zu machen bzw. neue Forschungsfragen überhaupt erst zu generieren – wie computergestützte Textanalyse, Transformationsgrammatik, Forschungen auf dem Gebiet der "Künstlichen Intelligenz" (k). Gerade die letzteren haben die Einsicht vertieft, daß das Verstehen natürlicher Sprachen weitaus komplexer ist als alles, was wir bisher mit Computerprogrammen nachbilden können.

• Der Einsatz von Computern für die Forschung betrifft auch die Germanistik als historische Disziplin. Diesbezüglicher Vorreiter in der Mediävistik war der um die 1979 gegründete Zeitschrift Le Médiéviste et L'Ordinateur gruppierte Kreis von Wissenschaftlern (l). Aber auch und gerade in der Älteren deutschen Philologie hat die Beschäftigung mit den Neuen Medien dazu geführt, daß sie die spezifische Medialität ihrer historischen Gegenstände erkannt  hat. Dies hebt Horst Wenzel hervor, indem er exemplarisch auf die intermediale Position der älteren deutschen Literatur zwischen Oralität und Visualität hinweist. [27]

• In der Neueren deutschen Philologie  war es die mediale Entgrenzung des Kanons, die zu neuen Einsichten in ihre Gegenstände geführt hat. So führte die Diskussion der siebziger Jahre darüber, ob Comics untersuchungswürdig seien, zu einer Beschäftigung mit älteren Text-Bild-Kombinationen, an denen schon Goethe angesichts der Bildgeschichten Rodolphe Toepffers ein großes ästhetisches Innovatonspotential erkannte. Heute sind es der Hypertext und die Virtual Reality-Technologie, die zu einem intensivierten Nachdenken über Vernetzungsstrukturen von Literatur überhaupt anregen (m).

Die Beispiele zum Einzug der Neuen Medien in die germanistischen Teildisziplinen zeigen, daß es sich hierbei nicht um eine Ablösung der alten Gegenstände handelt, sondern daß diese um so intensiver in den Blick geraten. Voraussetzung hierfür ist, wie gesagt, daß wir die Neuen Medien nicht isoliert betrachten, sondern als zeitgemäße Ausformung einer immer schon medial vermittelten Sprachkultur. In diesem Sinne ist eine medienkulturwissenschafltiche Profilierung der Germanistik im Kern nichts Neues, sondern ein Anknüpfen an ältere, ja älteste Programmatiken. Dies sei abschließend in einem kurzen Rückgang durch die zuvor referierten historischen Etappen unseres Fachs verdeutlicht.

Der deutsche Literaturkritiker Walter Benjamin hatte schon lange vor Marshall McLuhan mit seinem Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit die neue Medientheorie begründet. In diesem Aufsatz versuchte Benjamin, die Auratisierung des Nationalsozialismus durch kunstgeschichtliche Analysen einer Kritik zuzuführen. [28] Während die Naziästhetik mit technischen Mitteln den Kult des naturhaften Genies inszenierte und damit ihre eigene Technizität verleugnete, postulierte Benjamin eine Kunst, die das Maschinenwesen der Moderne als solches zur Anschauung bringt (D 10). Benjamins Argumentation mag in diesem Fall, wie schon Adorno kritisierte, allzu einseitig materialistisch und technologisch ausgerichtet gewesen sein. Aber diese Verengung des Medienbegriffs läßt sich mit Benjamins eigenen Überlegungen korrigieren: In seinem frühen Sprach-Aufsatz hatte er definiert: "Das Mediale, das ist die Unmittelbarkeit aller geistigen Mitteilung". [29]

Diesen Gedanken finden wir philosophisch ausformuliert bei  Ernst Cassirer. Ihm zufolge sind die "einzelnen 'symbolischen Formen': der Mythos, die Sprache, die Kunst, die Erkenntnis ... die eigentümlichen Medien, die der Mensch sich erschafft, um sich kraft ihrer von der Welt zu trennen und sich eben in dieser Trennung um so fester mit ihr zu verbinden." [30]

Im Sinne eines solchen – gegenüber dem heute verbreiteten Technizismus erweiterten und ihn einer Kritik zuführenden – Medienbegriffs sind auch die Vorläufer unseres Fachs bereits Medienwissenschaflter gewesen. Ihr Verständnis von Philologie stellte die deutsche Literatur in den Kontext der anderen Medien der kulturellen Überlieferung. Sie untersuchten – um das Zitat von Moritz Heyne noch einmal aufzugreifen – "nicht blos [Denkmäler] der Litt., sondern auch solche der Kunst, des Gewerbes, der mündl. Überlieferung."

Was wir also aus den medientheoretischen Ansätzen der Germanistik und ihrer Vorläufer lernen können ist dies: Philologie ist kein Selbstzweck, sondern ein Mittel zur Erschließung von Medienkulturen. Die bedeutenden Vertreter unseres Fachs haben das seit je gewußt und diesbezüglich ein reichhaltiges Analyseinstrumentarium hinterlassen, um das wir von anderen Disziplinen – auch und gerade der noch in methodischen Kinderschuhen stehenden Medienwissenschaft – zu beneiden sind. Traditionsbewußt an der Geschichte der Germanistik festhalten heißt, ihre medienkulturwissenschaftliche Orientierung  weiterführen. Die Auslandsgermanistik ist hierfür in besonderer Weise prädestiniert, da sie eo ipso kulturvergleichend verfährt und in stärkerem Maße als die Inlandsgermanistik mit Fragen der medialen Vermittlung ihrer Inhalte konfrontiert ist. Darin liegt eine Chance, die nicht von außen an sie herangetragen werden muß, sondern aus der Besinnung auf ihre eigenen Potentiale hervorgeht.

 



[1] Dabei schließe ich mich an die nicht-maximalistische Auslegung dieser Programmatik an, wie sie formuliert ist in Schönert, Jörg: Literaturwissenschaft – Kulturwissenschaft – Medienkulturwissenschaft. In: Glaser, Renate / Luserke, Matthias (Hg.): Literaturwissenschaft – Kulturwissenschaft. Positionen, Themen, Perspektiven; Opladen 1996, S.192–208.

[2] Die Sigle "D" bezieht sich auf die medialen Demonstrationen zu meinem Vortrag, die in verkürzter Form im Internet abrufbar sind unter www.peter-matussek.de/Pub/V_41_Demos/.

[3] Luserke, Matthias: Kultur, Literatur, Medien. Aspekte einer verwickelten Beziehung. In: Glaser, Renate, / Luserke, Matthias (Hg.): Literaturwissenschaft - Kulturwissenschaft. Positionen, Themen, Perspektiven; Opladen 1996, S. 169–191, hier: S. 180.

[4] Ebd., S. 188.

[5] Goethe, Johann Wolfgang: Briefe. Hg. v. K. R. Mandelkow. Hamburger Ausgabe in 4 Bänden; München 1962–1967, Bd. 4, S. 215 (an Streckfuß) u. S. 277 (an Zelter).

[6] Stanitzek, Georg: Kriterien des literaturwissenschaftlichen Diskurses über Medien. In:  Ders./ Voßkamp, Wilhelm (Hg.): Schnittstelle: Medien und Kulturwissenschaften; Köln 2001, S. 51-77, hier: S. 51.

[7] Winckelmann, Johann Joachim: Beschreibung des Torso im Belvedere zu Rom. In: ders.: Kleine Schriften, Vorreden, Entwürfe, hg. v. Walther Rehm; Berlin 1968, S. 169–173.

[8] Buchstaben in runden Klammern beziehen sich auf Unterpunkte der jeweiligen Internet-Demonstrationen (Knopf drücken).

[9] Unter "Kandelaber" verstand man im allgemeinen Sprachgebrauch der Zeit nicht Kerzenständer, sondern Gaslampen, die zu bestimmten Uhrzeiten "zurückgeschraubt" wurden. Vgl. Steiner, Uwe: Hermeneutik, "zurückgeschraubt" – Einige Bemerkungen zur Zeit der Dichtung und zum Widerspruch des Ästhetischen am Beispiel von Rilkes 'Archaischer Torso Apollos'. In: Peter Rau (Hg.): Widersrpüche im Widersprechen. Historische und aktuelle Ansichten der Verneinung. Festgabe für Horst Meixner zum 60. Geburtstag; Frankfurt am Main Berlin u.a. 1996, S. 66–77.

[10] Mach, Ernst: Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen; Nachdruck der 9. Aufl. Darmstadt 1991.

[11] Bausinger, Hermann: Germanistik als Kulturwissenschaft. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 6. hg. v. Alois Wierlacher u.a.; Heidelberg 1980, S. 17–31, hier: S. 19.

[12] Wolf, Friedrich August: Darstellung der Altertumswissenschaft nach Begriff, Umfang, Zweck und Wert. Mit einem Nachwort von Johannes Irmscher; Weinheim 1986, S. 30.

[13] Böhme, Hartmut / Matussek, Peter / Müller, Lothar: Orientierung Kulturwissenschaft. Was sie kann, was sie will; Reinbek bei Hamburg 2000, 2. Aufl. 2002, S. 35.

[14] Heyne, Moritz: Deutsches Wörterbuch (1869), zit. nach Bausinger, a.a.O., S. 19.

[15] Rickert, Heinrich: Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft. Mit einem Nachwort herausgegeben von Friedrich Vollhardt; Stuttgart 1986, S. 11 f.

[16] Simmel, Georg: Philosophische Kultur. Gesammelte Essais; Potsdam 1911.

[17] Wustmann, Rudolf: Weimar und Deutschland 1815–1915. Im Auftrag der Goethe-Gesellschaft verfaßt; Weimar 1915, S. 386–389.

[18] Korff, Gottfried: Namenswechsel als Paradigmenwechsel? Die Umbenennung des Faches Volkskunde an deutschen Universitäten als Versuch einer "Entnationalisierung". In: Fünfzig Jahre danach. Zur Nachgeschichte des Nationalsozialismus, hg. v. Sigrid Weigel und Birgit Erdle; Zürich 1996, S. 403–435.

[19]   Zit. nach Bausinger, a.a.O., S. 24.

[20] Jauß, Hans Robert: Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft; Frankfurt am Main 1970.

[21]   Bausinger, a.a.O., S. 21.

[22] Böhme, Hartmut: Zur Gegenstandsfrage der Germanistik und Kulturwissenschaft. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft, Bd. XLII (1998), S. 476-485.

[23] Lenk, Carsten: Kultur als Text. Überlegungen zu einer Interpretationsfigur. In: Glaser, Renate; Luserke, Matthias (Hg.): Literaturwissenschaft – Kulturwissenschaft. Positionen, Themen, Perspektiven. Opladen 1996, S. 116-128.

[24] Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung: Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme; Frankfurtam Main 1983.

[25] Mayer, Gerhart: Zum kulturwissenschaftlichen Erkenntniswert literarischer Texte. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache, 6; hg. v.: Alois Wierlacher u.a. Heidelberg, 1980, S. 8–16, hier: S. 16.

[26] Fischer-Lichte, Erika: Vom "Text" zur "Performance". Der "perfomative turn" in den Kulturwissenschaften. In: Stanitzek, Georg / Voßkamp, Wilhelm (Hg.): Schnittstelle: Medien und Kulturwissenschaften; Köln 2001, S. 111–116, hier: S. 112.

[27] Wenzel, Horst: Mediävistik zwischen Textphilologie und Kulturwissenschaft. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 4 (1999), S. 546–561.

[28] Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit [dritte Fassung]. In: Gesammelte Schriften I.2, Frankfurt am Main 1980; S. 471-508.

[29] Benjamin, Walter: Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen (1916). In: Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Bd. II.1; Frankfurt am Main 1980, S. 140–157, hier: S. 142 f..

[30] Cassirer, Ernst: Der Gegenstand der Kulturwissenschaft. In: ders.: Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünf Studien; Darmstadt 1994, S. 1–33, hier: S. 25.