Hartmut Böhme/ Peter Matussek/ Lothar Müller

Vorwort

 


Erschienen in: Böhme, Hartmut / Matussek, Peter / Müller, Lothar: Orientierung Kulturwissenschaft. Was sie kann, was sie will; 2. Aufl. Reinbek bei Hamburg 2002, S. 7–10.

 

     
 

Wer studieren will, erwartet zu Recht, an den Universitäten auf theoretisch gut geordnete Fächer, gesicherte Traditionen, klare Fragestellungen, bewährte Methoden und erprobte Studiengänge zu stoßen. Ob Germanistik, Philosophie, Slawistik, Kunstgeschichte oder Soziologie – je näher eine universitäre Disziplin an einem Schulfach liegt, desto zutreffender werden diese Erwartungen sein. Schon die Schullehrer der Studierwilligen studierten das ins Auge gefaßte Fach, und zwar wiederum bei Universitätslehrern, die eben dieses Fach auch schon studiert hatten – und so weiter zurück, womöglich bis tief ins 19. Jahrhundert. All dies trifft auf die Kulturwissenschaft nicht zu. Es gibt sie als Studienfach, sieht man einmal von zwei weisungsgebundenen DDR-Instituten ab, erst seit Mitte der achtziger Jahre – und auch nur an einigen Universitäten. Keiner der derzeitigen Professoren der Kulturwissenschaft konnte diese also studiert haben. Das Fach mußte 'erfunden' werden, allerdings nicht im luftleeren Raum: Es gab in der Geschichte der Geisteswissenschaften vielfache Ansätze, die auf eine Kulturwissenschaft zielten. Und es bestand in den achtziger Jahren ein universitärer und bildungspolitischer Bedarf, dieses Fach und die mit ihm verbundenen Theorien, Fragestellungen und Perspektiven an den deutschen Universitäten zu etablieren. Internationale Einflüsse, vor allem aus dem angloamerikanischen und französischen Bereich, begünstigten den Neuansatz.
Wer Kulturwissenschaft studieren will, sollte diese Hintergründe kennen. Auch von ihnen handelt dieses Buch. Es wird deutlich machen, daß dieses Fach ein anspruchsvolles Abenteuer darstellt, dessen Zukunft in der akademischen Landschaft nicht gesichert ist; daß hier ein Ausbildungsfeld betreten wird, das von den Studierenden Neugier und Gestaltungswillen, Lust auf theoretisches Denken und historisches Forschen, Experimentierfreude im Umgang mit neuen Medien und geduldiges Versenken in alte Künste, teilnehmendes Interesse an großen Zusammenhängen wie an detaillierten Feinheiten des historischen Prozesses, Motivation für kulturelle Interventionen und soziale Phantasie schon während des Studiums erwartet. Das Fach ist neu – also ist es offen für unkonventionelle Aktivitäten; es ist relativ unbestimmt – also bietet es Raum für eigenes Gestalten; es ist mannigfaltig verzweigt – also kann man sehr Verschiedenes lernen, neue Wege ausprobieren, sich große Überblicke verschaffen oder auch in eine der Verästelungen vertiefen.
All dies eröffnet für die Studierenden Chancen, die in dieser Fülle kaum ein anderes Fach bieten kann. Doch zugleich haben diese Chancen der neuen Disziplin ihre Kehrseiten: Die Vielfalt ist verwirrend, das Fach hat an jeder Universität einen anderen Zuschnitt, die Gegenstandsfelder sind überwältigend weit, die Theorien und Methoden sind unübersichtlich, kompliziert und widersprüchlich; man wird zwischen produktivem Dilettantismus und Expertenwissen hin und her geworfen, man findet keinen festen Boden, man vermißt Perspektive und Orientierung. Solche Klagen werden zwar gelegentlich auch in ehrwürdig alten Disziplinen laut, in der Kulturwissenschaft aber, wo es keine ausgetretenen Pfade gibt, ist die Möglichkeit, sich zu verirren, besonders groß. Unsere Orientierung kann daher kein einfacher Reiseführer in einem völlig erschlossenen Gelände sein. Doch eine Kartographie wird geboten. Sie muß allerdings anders ausfallen als bei einem Fach, das, wie die Germanistik, seit mehr als 150 Jahren schon eine Reihe von Sackgassen erkunden, Krisen durchleben, Erneuerungen versuchen, Bewährtes sichern konnte. Orientierung heißt: Richtungen aufzeigen. Dies geschieht hier dadurch, daß wir die Untersuchungsfelder beschreiben – mit ihrer Geschichte, ihren Problemen und Ansprüchen, Fragwürdigkeiten und Faszinationen, und es geschieht dadurch, daß wir Begründungen und Bewertungen diskutieren, die für die verschiedenen Theorien und Methoden, Arbeitsgebiete und Fachkonzepte angeführt werden.
Nur scheinbar spiegelt sich im Fächerkanon der Universitäten die Ordnung der Dinge. Weder irgendeine Einzelwissenschaft noch das Spektrum der Wissenschaften insgesamt besitzen eine stabile, von den jeweiligen Gegenständen verläßlich garantierte Identität. Die Formel, wonach die Grundlage einer akademischen Disziplin die Einheit von klar definiertem Gegenstandsbereich und ebenso klar definierter Methode sei, ist kaum mehr als eine nützliche Fiktion. Als Schlüssel zur Realgeschichte der Wissenschaften taugt sie wenig, schon gar nicht im Blick auf die institutionellen und kulturellen Konstellationen, innerhalb derer sich im 19. und 20. Jahrhundert der universitäre Fächerkanon ausdifferenziert hat. Kurz bevor sich eine der wichtigsten Neugründungen, die Soziologie, in Deutschland als Disziplin konstituierte, schrieb Max Weber im Jahre 1904: "Nicht die 'sachlichen' Zusammenhänge der 'Dinge', sondern die gedanklichen Zusammenhänge der Probleme liegen den Arbeitsgebieten der Wissenschaften zugrunde: wo mit neuer Methode einem neuen Problem nachgegangen wird und dadurch Wahrheiten entdeckt werden, welche neue bedeutsame Gesichtspunkte eröffnen, da entsteht eine neue 'Wissenschaft'" (1904, S. 166).
Die Sozialwissenschaft, wie er selbst sie betrieb, rechnete Max Weber ausdrücklich den "Kulturwissenschaften" zu. Als solche galten ihm alle Disziplinen, "welche die Vorgänge des menschlichen Lebens unter dem Gesichtspunkt ihrer Kulturbedeutung betrachten" (S. 165). Webermachte "Kultur" nicht etwa deshalb zum perspektivischen Fixpunkt der Einzelwissenschaften, weil er sie als feste Hintergrundvoraussetzung der Einzelphänomene dachte. "Kultur" galt ihm zwar als das Ganze, das jede Einzelsphäre transzendiert, als Regulativ der Lebensführung und Orientierungsinstanz, eben darin aber zugleich als das Bedrohte, Nicht-Selbstverständliche. So nüchtern er die Frage nach der "Kulturbedeutung" formulierte, so sehr war sie aufgeladen mit der analytischen Durchdringung und skeptischen Reflexion der gesellschaftlichen Modernisierung um 1900.
Der Begriff "Kulturwissenschaft", wie er im deutschsprachigen Raum seit Mitte der achtziger Jahre zu einer Schlüsselkategorie der publizistischen und akademischen Debatten über den Zustand und die Zukunft vor allem der historisch-philologischen Disziplinen avancierte, taucht in zwei Begriffsvarianten auf. Seine plurale Verwendung rückte die "Kulturwissenschaften" in den Status einer fächerübergreifenden Orientierungskategorie, die das Erbe der "Geisteswissenschaften" zugleich antreten und einer kritischen Revision unterziehen soll. Die breite Streuung des Adjektivs in aktuellen Vorlesungsverzeichnissen ist ein Hinweis auf die Etablierung kulturwissenschaftlicher Projekte im Innern großer, hochgradig binnendifferenzierter Fächer wie der Geschichtswissenschaft oder Germanistik. Demgegenüber zielt die Begriffsverwendung im Singular in der Regel auf die Etablierung der "Kulturwissenschaft" als inter- bzw. transdisziplinär angelegtes Einzelfach.
Unsere Orientierung trägt dieser Doppelbewegung und zugleich der Vielfalt von Formen Rechnung, in denen sich gegenwärtig die Institutionalisierung der Kulturwissenschaft an den Universitäten und in Forschungsinstituten vollzieht. Sie markiert die Umrisse einer jungen Disziplin, die aber eine lange, weit verzweigter Vorgeschichte hat und ihre Kontur in einer vielschichtigen wissenschaftspolitischen und -theoretischen Diskussion gewinnt. Auch wenn es sich hier primär um eine Einführung handelt, halten wir es doch für unverzichtbar, auf diese systematischen und historischen Hintergründe einzugehen. Denn wir plädieren für eine anspruchsvolle Kulturwissenschaft, die mit "Wissenschaft light" nicht zu verwechseln ist und auch Studienanfängern nicht als Ausweichstudium vor "härteren" Fächern empfohlen werden kann. Unserem Überblick über aktuelle Arbeitsfelder der Kulturwissenschaft (Kap. III), Entwicklungsperspektiven des Fachs (Kap. IV) und die derzeit angebotenen Studien- und Forschungsmöglichkeiten (Kap. V) haben wir deshalb zwei Rahmen-Kapitel vorangestellt, die auf die komplexen Voraussetzungen des Faches eingehen: zum einen die gegenwärtigen Auseinandersetzungen um eine programmatische Neubestimmung der Kulturwissenschaft in Deutschland, die durch internationale Impulse angeregt wurde (Kap. I); zum anderen die verschiedenen Begriffs- und Theorietraditionen seit dem 19. Jahrhundert, die einen kulturwissenschaftlichen Problemzusammenhang konstituierten, ohne selbst je disziplinären Status zu gewinnen (Kap. II). Es ist nicht nötig, die Lektüre mit diesen Rahmen-Kapiteln zu beginnen – die einzelnen Teile des Buchs sind auch je für sich verständlich. Doch ganz begreifen wird den Reiz der Kulturwissenschaft erst, wer sich auf den intellektuellen Anspruch einläßt, ihre Voraussetzungen kennenzulernen.