Peter Matussek

Rezension über Matthias Luserke: Der junge Goethe. "Ich weis nicht warum ich Narr soviel schreibe". Göttingen 1999, 181 S.

 


Erschienen in: Goethe-Jahrbuch 116 (1999), S. 416-418.

 

     
 

Der "junge Goethe", also die Schaffensphase bis zur Übersiedlung nach Weimar, gilt unter Philologen nicht gerade als Geheimtip. Goethedarstellungen aller Zeiten, angefangen mit der von Goethe selbst verfaßten, räumen dieser Lebensepoche den größten Raum ein – und wenn die Proportionen einmal umgekehrt verteilt werden, wie derzeit in Nicholas Boyles anti-monumentalistischem Monumentalwerk, zieht das bisweilen den Vorwurf der Langatmigkeit nach sich. Der junge Goethe ist es, der das philologisch interessierte Publikum, das junge zumal, am besten unterhält. Hier, wo sich das Genie entpuppt, greift man hinein ins volle Menschenleben, nimmt Anteil an Goethes ersten poetischen Versuchen und erotischen Aufregungen, an seinen alchemistischen Experimenten und ihrer Transformation in Sprachmagie, an seinem steilen Aufstieg zum nationalen und internationalen Erfolgsschriftsteller.

Daß Goethe bei aller frühen Berühmtheit kein Bestsellerautor war, daß er schon immer mehr besprochen als gelesen wurde, muß allerdings stutzig machen. Und diese Diskrepanz zwischen Werk und Wirkung ist es, die Matthias Luserke mit sicherem Gespür für ungelöste Fragen zum Ausgangspunkt eines ganz und gar nicht auf ausgetretenen Pfaden wandelnden Durchgangs durch das Frühwerk – von den Labores Juveniles bis zu Claudine von Villa Bella – genommen hat. Die Monographie des zur jüngeren Generation gehörenden Darmstädter Literaturwissenschaftlers trägt den selbstbewußt lapidaren Titel Der junge Goethe; das impliziert, daß sich nach allen Werken desselben Titels (Max Morris, Hanna Fischer-Lamberg, Karl Vietor, Rudolf Ibel) noch grundlegend Neues an dieser Werkepoche entdecken läßt.

Daß dieser Anspruch nicht zur Anmaßung gerät, verhindert schon seine elegante Herleitung. Gerade daß Goethe mit sekundären Diskursen überhäuft wurde, so Luserkes Argument, habe eine Kenntnis des Werks verhindert. Dieses Phänomen einer durch Goetherezeption behinderten Goetherezeption nennt er die "Goetheblockade" und macht "Vereinnahmungen durch Kult und Kommerz" für sie verantwortlich. Ein Rückblick auf das Jubiläumsjahr bestätigt die Aktualiät dieser Feststellung zur Genüge. Das Goethe-Merchandising, die kommerzielle Ausbeutung des großen Namens, fand hier seinen bisherigen Höhepunkt; und auch der Goethe-Kult wird ja durch den neuen Boom an "Enthüllungen" über den Superspitzel, Erz-Chauvi oder lyrischen Extremversager nicht überwunden, sondern nur mit umgekehrten Vorzeichen restauriert.

Die Kritik an solchen, periodisch schwankenden, Rezeptionsgestalten ist freilich opportun; originell aber ist die Art, wie Luserke sie an seinen Untersuchungsgegenstand zurückbindet: Er vertritt die These, daß Goethe schon zu seiner Zeit nicht nur Objekt, sondern auch Subjekt einer bewußt inszenierten Medienwirkung war – eine kühne These, insofern sie nicht nur beansprucht, einzelne Aspekte der ersten Werkphase zu charakterisieren, sondern deren generelles Grundmuster. Ob sie sich in allen Nuancen durchhalten läßt, wird man denn auch zu diskutieren haben.

Stark erscheint die These Luserkes dort, wo sie sich allgemein auf die Entstehungsgeschichte moderner Individualität bezieht. So gelingt es dem Verfasser, die Dialektik von Privatheit und Öffentlichkeit wie einen roten Faden im Werk des jungen Goethe aufzuzeigen, mit einem Knotenpunkt im Werther. Mit diesem, schreibt Luserke, "beginnt die Verlustgeschichte der Privatheit in Deutschland", dahier eine literarisch inszenierte Selbstenthüllung vollzogen werde, die die Anerkennung von Individualität paradoxerweise nur dadurch ermögliche, daß ihr prinzipieller Gegensatz zur Öffentlichkeit preisgegeben wird. Freilich läßt sich diese Paradoxie schon bei Rousseau oder Klopstock beobachten. Luserke hat aber zweifellos Recht, wenn er mit dem jungen Goethe eine neue, entscheidende Etappe in dieser Entwicklung anheben sieht.

Aber worin besteht das Neue? Der Verfasser versucht es mit einem Stichwort einzufangen, das unserer heutigen Lebenswirklichkeit entstammt: "Talkisierung". Der Begriff soll "auf Talk und Talkshow als inszeniertes öffentliches Geplauder", verweisen, auf "ein Raunen, in dessen Bedeutungszentrum nicht die Kommunikation selbst steht, sondern die Strategien der Kommunikation wichtig sind". Entsprechendes lasse sich schon beim jungen Goethe finden, nur daß dieser ein anderes Medium verwendet habe: "Die Talkshow, die er produziert, heißt Literatur", schreibt Luserke.

Diese mediengeschichtliche Aktualisierung seiner These wirft interessante Fragen auf. Inwiefern ist die Literalität der Goethezeit kein Gegensatz zur 'sekundären Oralität' unserer audiovisuellen Kultur, sondern deren Vorläufer? Inwiefern lehrt uns die Parallele mit Talkshows mehr über die literarischen Strategien Goethes als – wie medienpädagogisch üblich – deren Entgegensetzung? Und was erfahren wir umgekehrt über unser telematisches Dasein, wenn wir es mit Goethes literarischen Inszenierungen von Individualität vergleichen?

Leider geht das Buch auf diese Fragen, die es aufwirft, nicht vertiefend ein. Von der aktuellen Literalität/Oralität-Diskussion bleibt Luserkes Darstellung unberührt, und auch dort, wo sie dem Phänomen der Selbsreferentialität heutiger Medien nahekommt, nämlich in der Goethe attestierten Ästhetik einer "doppelten Beobachtung", bleibt das Verhältnis zwischen den mutmaßlich Strukturverwandten unbestimmt. Das Stichwort der Talkisierung taucht zwar in den verschiedensten Werkzusammenhängen leitmotivisch auf, wirkt aber in seiner Unausgeführtheit mehr anregend als aufklärend. Ähnlich verhält es sich mit dem Begriff des Mediums, dem zwar eine Schlüsselrolle für das Verständnis des Untersuchungsgegenstandes zugesprochen wird, der aber in dieser Funktion nicht spezifiziert wird. Da ist vom "Medium des Lustspiels" und vom "Medium Brief" genauso wie vom "Medium der Fiktionalität" die Rede, von Goethes "medialer Existenz" und seiner Rolle als "Vorläufer des freien Medienproduzenten" genauso wie vom "Medium der Liebe" – mit dem berühmten Goethe-Zitat über Charlotte von Steins Sicht der Welt, das im Kontext der Untersuchung Luserkes eine frappierende Gleichsetzung mit dem "Medium" einer literarisch-fiktionalen Realitätskonstruktion erfährt. Solche Äquivokationen lassen aufregende Verbindungen zwischen anthropologischen und kommunikationstechnischen Gegebenheiten erahnen, die der modische Mediendiskurs sonst in apparativer Blickverkürzung abschneidet. Doch ohne semantische und historische Differenzierung sind diese Verbindungen schwer nachzuvollziehen.

Dennoch wäre es falsch zu resümieren, daß das Buch sich dort am besten bewähre, wo der gesuchte Sprung in die Moderne nicht gewagt wird. Zwar erreicht der Autor auch ohne diesen Sprung, nämlich mit solider Text-Philologie, sein erklärtes Ziel, Lust auf eine Relektüre der Texte des jungen Goethe zu machen. Doch dem Anspruch seines Buches wäre damit nicht Genüge getan. Und so ist den Gründen zu fragen, warum manches an Luserkes Thesen hypothetisch bleibt.

Sie liegen nicht in einem Unvermögen des Autors, sondern in der Ungelöstheit eines Dilemmas, in dem sich die Literaturwissenschaft heute befindet: Einerseits fordert die Anerkennung der spezifischen Medialität von Literatur ein werkzentriertes Vorgehen, das die ästhetischen Gehalte nicht in ihren Entstehungsbedingungen auflöst. Konsequent erteilt denn auch Luserke jedem Biographismus bei seiner Untersuchung eine Absage: "Der beste Kommentar zum Leben, zum eigenen wie zum fremden, ist die Literatur." Andererseits ist dem Verfasser bewußt, daß gerade ein werkzentriertes Vorgehen nicht im Ausblenden der rezeptionsgeschichtlichen Vermittlungen bestehen kann, die den Zugang zu den Werken überhaupt erst ermöglichen: "Alten Goethe-Texten mit den ästhetischen Erfahrungen der Moderne zu begegnen", schreibt er ebenso konsequent, "heißt, sich mit allem Ernst ihren und unseren Fragen zu stellen." Der Brückenschlag zwischen den Fragehorizonten kann aber schwerlich aus den literarischen Texten allein herauskonstruiert werden. Sie bedürfen einer medien- und kulturgeschichtlichen Kontextualisierung, wenn sie zu den geweandelten Bedingungen unserer Gegenwart in ein Verhältnis gebracht werden sollen. Wie das zu leisten ist, nachdem einerseits die großen historischen Erzählungen durch Diskursanalyse und "New Historicism" diskreditiert wurden, andererseits die an ihre Stelle getretenen Verfahren, etwa Greenblatts "Poetics of Culture", ob ihrer Überdehnung des Textparadigmas in die Kritik gerieten, ist eine durchaus offene Frage. Und eben dies teilt sich zwangsläufig auch der vorliegenden Untersuchung mit. Sie oszilliert zwischen radikaler Philologie und Kulturanthropologie. Das allerdings tut sie auf hohem Niveau. Schon in früheren Arbeiten hat der Verfasser überzeugend dargelegt, daß die von den neuen Medien an die Literaturwissenschaft herangetragenen Fragen einer kulturwissenschaftlichen Öffnung der Untersuchungshorizonte bedürfen. Man darf gespannt sein, wie er diese Tendenz künftig konkretisiert – auch im Interesse der Goetheforschung, die von einer derartigen Öffnung  nur profitieren kann.