Peter Matussek

Intertextueller Totentanz.

Die Reanimation des Gedächtnisraums
in Hofmannsthals Drama »Der Tor und der Tod«

 


Erschienen in: Hofmannsthal - Jahrbuch zur europäischen Moderne 7 (1999), S. 199–231.

 

     
 

Merkwürdig muten Hofmannsthals Worte den heutigen Leser an, der in Anbetracht der jüngsten Jahrhundertwende über die vorhergegangene liest:

Welch ein Erlebnis aber auch, dieses neunzehnte Jahrhundert, so wie der deutsche Geist es durchzumachen hatte, […] bis endlich in diesem ganzen scheingeistigen Bereich die Luft unatembar wurde, bis endlich aus diesem Pandämonium von Ideen, die nach Lebenslenkung gierten – als ob es lebenslenkende Ideen geben könnte –, er sich losrang, unser suchender deutscher Geist, bewährt mit dieser einen Erleuchtung: daß ohne geglaubte Ganzheit zu leben unmöglich ist – daß im halben Glauben kein Leben ist, daß dem Leben entfliehen, wie die Romantik wähnte, unmöglich ist: daß das Leben lebbar nur wird durch gültige Bindungen.[1]

Dem 19. Jahrhundert entkommen zu sein ist in Hofmannsthals berühmt-berüchtigter Rede »Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation«gleichbedeutend mit einem Ausbruch aus erstickender Enge zu neuem Leben. Das endlich überwundene Säkulum war für ihn charakterisiert durch komplementäre Fehlentwicklungen. Der »scheingeistige Bereich« eines philiströs auftrumpfenden Bildungskanons auf der einen Seite und auf der anderen das »Pandämonium« eines abgehobenen Wissenschaftsidealismus hatten die Ansprüche der Lebenswirklichkeit zunehmend verdrängt – zum einen durch topische »Verengung des Raumes«, zum anderen durch romantische »Vergeudung des Raumes«. Mit Blick auf den vernachlässigten Bereich zwischen den beiden Polen der Lebensverleugnung entwirft der Dichter die Vorstellung eines »Geistraumes«, der nicht topographisch – durch die Errichtung einer »geistigen Besitzordnung« oder das »Wohnen auf dem Heimatboden« – bestimmt ist und dennoch Verbindlichkeit durch das Anknüpfen an literale Traditionen beansprucht: »Alles Höhere, des Merkens Würdige aber, seit vielen Jahrhunderten, wird durch die Schrift überliefert«.[2]

Der literarische Gedächtnisraum, von dem Hofmannsthal redet, ist als übernationaler und atopischer ein Gegenmodell zu dem des neunzehnten Jahrhunderts, der in der Errichtung von Nationalmuseen und Archiven seine monumentalistische Manifestation hatte, und der nur scheinbar durch die vergeistigte, also gegenüber den Ansprüchen des Lebens nicht weniger »hybrid gewordene Wissenschaft« kompensiert wurde, da diese ihre Vertreter nur zu »raumlosen Gefangenen« ihrer Gedankenwelten machte.[3] Am Ende des 20. Jahrhunderts, das dem Dilemma von überladenen Speichern einerseits und De-Realisierungen andererseits dank elektronischer Kapazitätssteigerungen in beide Richtungen um so mehr ausgesetzt ist, gewinnt Hofmannsthals Votum für eine Kultivierung der vergessenen Zwischenräume erneute Aktualität. Er selbst sah die antagonistischen Tendenzen seiner Epoche als Vertiefung eines Zwiespalts, der früheren Ursprungs ist: »jene Geistesumwälzung des sechzehnten Jahrhunderts, die wir in ihren zwei Aspekten Renaissance und Reformation zu nennen pflegen«. Was in ihnen als reziproke Vereinseitigungen anhob, sei zu korrigieren durch eine »innere Gegenbewegung«, eine »konservative Revolution von einem Umfange, wie die europäische Geschichte ihn nicht kennt«. »Ihr Ziel«, so lautet sein abschließender Ausblick, »ist Form, eine neue deutsche Wirklichkeit, an der die ganze Nation teilnehmen könnte.«[4]

Die neue deutsche Wirklichkeit sollte anders aussehen als diejenige, die Hofmannsthal am 10. Januar 1927 vor seinen Zuhörern an der Münchner Universität imaginierte. Sie folgte vielmehr den Antizipationen der nationalsozialistischen Propaganda, wie sie etwa Josef Nadler bereits drei Jahre vor der Schrifttumsrede kundtat: »Über uns, das Geschlecht eines strudelnden Chaos, ist es verhängt, nicht überkommene Formen zu pflegen, sondern formlos, formfrei, formenbefreit zu sein«.[5] Um so mehr stellt sich die Frage nach der Triftigkeit von Hofmannsthals Diagnose, die dem kulturellen Gedächtnis des neunzehnten Jahrhunderts ein falsches bzw. verlorenes Raumverständnis attestiert und sie, kühn generalisierend, aus Renaissance und Reformation, den historischen Vorläufern emanzipierter Kunst und Wissenschaft, herleitet. Das schillernde Stichwort von der »konservativen Revolution« macht diese Position vollends prekär.[6] Als »Gegenbewegung gegen die Neuzeit schlechthin« hat denn auch Gerhard R. Kaiser unlängst die Schrifttumsrede kritisiert. Er sucht ihr nachzuweisen, daß sie mit ihrer »Ideologie einer Literatur und Nation zusammenschließenden letzten Verbindlichkeit von einem Einheitswahn gezeichnet ist, der unter den Bedingungen der Moderne scheitern muß«, ja daß sie an jener »Überhöhung des Deutschen« partizipiere, die »im Nationalsozialismus in die Katastrophe führte«.[7] Schuld an diesem Einheitswahn sei das »Extrem einer idealtypischen Antithese«[8], mit der Hofmannsthal ebenso wie die faschistischen Kulturkritiker das 19. Jahrhundert fälschlich pathologisierten.

Zwei Nachfragen scheinen mir gegenüber diesem Typ der Hofmannsthal-Kritik angebracht: Zum einen, ob das Dilemma von Raumenge und Raumlosigkeit tatsächlich eine so unangemessene Diagnose für die Gedächtniskultur des 19. Jahrhunderts ist; zum anderen, ob der Formbegriff, den die Schrifttumsrede dieser schlechten Alternative entgegenhält, nicht geradezu als Antidot zur proklamierten Formlosigkeit der präfaschistischen Deutschttümelei angesehen werden kann. Worin besteht denn die »Form«, die Hofmannsthal den von ihm unterstellten Tendenzen entgegenstellen zu müssen glaubte? Arbeitet sie der geschichtlichen Katastrophe tatsächlich zu oder erinnert sie nicht vielmehr an die von ihr uneingelösten, vernichteten Potentiale? Die Antwort, dafür plädiert am Ende seines Artikels auch Kaiser, muß im dichterischen Œuvre gesucht werden – und zwar nicht nur demjenigen aus dem Umfeld der Schrifttumsrede, denn dies verengt die Beurteilungsperspektive allzu sehr auf ein simples Vergleichsmodell von poetischer Theorie und Praxis, das sich dann zwangsläufig, wie jene Argumentation zeigt, in einer konfrontativen Gegenüberstellung erschöpft. Der Blick muß sich vielmehr auf das Gesamtwerk beziehen; er muß sich von den am Ende des Lebens formulierten Gedanken auf die dichterischen Anfänge zurückwenden, um von dorther nach Kontinuitäten zu fragen – zumal mit Mathias Mayer festzustellen ist: »Immer wieder kehrt Hofmannsthal bei der Wertung und Gruppierung seiner Werke zu Tor und Tod als einem Fixpunkt« zurück, in dem er noch 1928 voll Stolz »nicht Weniges vom heutigen Weltzustand anticipiert« glaubt.[9] Das Jugenddrama, das ursprünglich Der neue Todtentanz heißen sollte,[10] sei daher im folgenden daraufhin untersucht, inwieweit es als dichterische Frühform jener Denkfigur angesehen werden kann, die schließlich von der Schrifttumsrede resümierend explizit gemacht wird. Im Mittelpunkt steht dabei die mysteriöse Lösung des dramatischen Konflikts, die Erweckung des Lebens durch die Begegnung mit dem Tod, die zunächst vor dem kulturkritischen Hintergrund ihrer Entstehungszeit dargestellt werden soll (I). Diese Lösung hat ihre poetische Analogie in einem Sprachduktus, der – allgemein gesprochen – seine Befangenheit im literarischen Kanon durch ein Innewerden seiner eigenen Mortifikationen überwindet (II). Konkret zeigt sich die Reanimation des abgestorbenen Gedächtnisraums als Dynamik intertextueller Reminiszenzen, die sich auf literarische Parallelen, insbesondere die Magiertragödie in Goethes Faust beziehen (III). Es ist dieser Rückverweis mit seiner konzisen Einschreibung in die Problemkonstellation des Dramas, der verständlich macht, warum Hofmannsthal der Überzeugung ist, daß die Überwindung des neunzehnten Jahrhunderts aus einer inneren Gegenbewegung gegen das sechzehnte hervorzugehen habe. Konkret ist hier an die Präraffaeliten zu denken. Ihr latentes Vorbild aber – so meine These – ist die von der intertextuellen Verweisdynamik des Dramas nur indirekt, dafür um so nachhaltiger evozierte Zwischenstellung zwischen Renaissance und Reformation, wie sie in der neuplatonischen Magisierung der ars memoria durch die Gedächtnistheatersysteme jener Zeit zum Ausdruck kam (IV).

 

 

I

 

Das 1893 verfaßte Stück des gerade erst neunzehnjährigen, gleichwohl schon außerordentlich belesenen Dichters spiegelt das Lebensgefühl seiner Gegenwart im »Kostüm der zwanziger Jahre«[11]. Claudio, dessen Name aus dem lateinischen Verb claudere hergeleitet ist[12], sitzt in einem nach »Empiregeschmack« eingerichten »Studierzimmer« – wahrhaft einer »includierenden« Situation[13]. Die Bühnenbeschreibung enthält alle Insignien jenes ambivalenten Umgangs mit dem Gedächtnisraum, den die Schrifttumsrede als charakteristisch für das neunzehnte Jahrhundert darstellte. Einerseits die Öffnung ins Freie: »große Fenster«, »Glastüre auf den Balkon«, »hängende Holztreppe in den Garten«, »Grundton der Tapete licht, fast weiß«. Andererseits die museale Inklusion: »An den Pfeilern Glaskasten mit Altertümern. An der Wand rechts eine gotische, dunkle, geschnitzte Truhe; darüber altertümliche Musikinstrumente. Ein fast schwarzgedunkeltes Bild eines italienischen Meisters« (281). Claudio erlebt diese Einrichtung als »Rumpelkammer voller totem Tand« (283); er wohnt zwar in ihr, fühlt sich aber nicht heimisch und durchschreitet sie wie ein Museumsbesucher, der nur noch in mechanischer Routine vor jedem Exponat kurz innehält, um sich dann, »alles öd« findend, dem nächsten zuzuwenden. »Vor dem Kruzifix«, »Vor einem alten Bild«, »vor einer Truhe«, vor den »alten Lauten«, vor den Glaskästen mit ihren Exponaten mythologischer Figuren der Antike (283f.) überkommt den Überdrüssigen doch immer wieder nur derselbe Gedanke: »Ich hab mich so an Künstliches verloren« (284). Was auch immer in Claudios Blickfeld gerät – unwillkürlich fließt Kennerschaft in seine Wahrnehmung ein. Das Gemälde der Gioconda sieht er durch die Brille der Leonardo-Interpretation Walter Paters,[14] und selbst beim Ausblick auf den Sonnenuntergang kann er sich von kunsthistorischen und literarischen Assoziationen nicht freimachen: Der »Alabasterwolkenkranz« erinnert ihn an Madonnenbilder der »Meister von den frühen Tagen« (281), der Glanz der Berge setzt sich aus Versen Nikolaus Lenaus und Goethes zusammen, die Farben der Landschaft stammen von Claude Lorrain, und die Schilderung ihrer Atmosphäre kulminiert in einem Hölderlin-Zitat.[15] Claudio kann nicht mehr umhin, sein »Leben zu erleben wie ein Buch« (284). An nichts findet er realen Halt. So beneidet er die Menschen von schlichterem Gemüt, auf deren Behausungen er nun seinen Fensterblick richtet: »Jetzt zünden sie die Lichter an und haben / In engen Wänden eine dumpfe Welt / Mit allen Rausch- und Tränengaben / Und was noch sonst ein Herz gefangenhält« (282). Aber auch damit spricht Claudio nur einen vorformulierten Gedanken aus, diesmal von Kierkegaard.[16]

Unschwer läßt sich in Hofmannthals Charaktereinführung der Fin de siècle-Typus des Ästheten erkennen, der den Kontakt zum Leben verloren hat. In der heterotopischen Weite seines Bücherkosmos sehnt er sich nach gefühlten Bindungen und erspürten Begrenzungen. Den Behausten seiner Epoche freilich geht es nicht besser als ihm. Auch ihnen ist die reale Welt aus dem Blick geraten. Denn ihr Raumbewußtsein ist von jener Art, wie sie die Schrifttumsrede als das Pendant zu dem in Claudio repräsentierten Entfremdungszustand kennzeichnete: Es ist das des philiströsen Philologen, der den geistigen Höhenflug scheut und sich in den Speicherkammern des kulturellen Gedächtnisses einnistet, um in dieser Abgeschlossenheit sein Dasein zu fristen. Eine anschauliche Beschreibung dieses komplementären Gegentyps zu Claudio gibt Hermann Bahr, Wegbereiter und Freund Hofmannsthals, in seinem Rückblick auf den Betrieb des 1885 errichteten Weimarer Goethe-Archivs, der als pointiertes Porträt eines Lebens unter den Bedingungen der Museumskultur des neunzehnten Jahrhunderts angesehen werden kann:

Diese jungen Germanisten saßen im Archiv zu Weimar über Goethes Schriften, Frühling kam und ging, es ward wieder Herbst, Nietzsche sank in Geistesnacht, der alte Kaiser starb, ihm folgte der Sohn, folgte der Enkel auf den Thron, Bismarck ging, Bismarck starb, Deutschland schwoll, stark und reich und neu, dem Deutschen ward enge, Volk zog aus, übers Meer, in die Welt, Deutschland wurde kühn und laut, […] aber jene saßen noch immer tagaus, tagein dort im Archiv zu Weimar über Goethes Schriften. Sie lasen Goethe, darin bestand ihr Leben: es hat etwas Heroisches, und es hat etwas Mönchisches, und es hat auch etwas Monomanisches zugleich. Einen eigenen Menschenschlag ergab es […] Ein fast erhabenes, rührendes, leicht ans Lächerliche streifendes Geschöpf mit faustischen Zügen, aber auch einigen vom Famulus, gewissermaßen: Eckermann als Generation ist der Goethephilolog.

Claudio, ganz und gar kein Eckermann, steht als das andere Extrem mit diesem doch in einer historischen Schicksalsgemeinschaft. Sein weiter Horizont verdankt sich der Kleinarbeit der Philologen, die ihn in pedantischer Blickbeschränkung mit Material versorgen. Fern vom Leben stehen sie beide, beide vergessen sich selbst im Bücherwissen. Und so trifft Bahrs Resümee über die Goethephilologie auf beider gelehrte Torheit zu:

[…] ja, wir kennen Goethe besser als eigentlich irgendwer unter uns sich selber kennt, wir wissen von ihm viel mehr als von uns selbst, weil wir doch, was wir erleben, Gott sei Dank meistens gleich wieder vergessen, aber jeder Atemzug seines Lebens ist uns unvergeßlich.[17]

 

»Unfähig des Vergessens« zu sein, zeiht sich auch Claudio, dessen »überwacher Sinn« jede Lebensregung sogleich in ein Bildungsgut verwandelt, das »tausende Vergleiche« herbeizitiert, bis schließlich das eigene Existenzgefühl darin untergeht – »zerfasert und zerfressen / Vom Denken, abgeblaßt und ausgelaugt!« (283). Die Selbstdiagnose – in ihrer Diktion von Shakespeare und Herder entlehnt[18] – greift ein Leitmotiv der zeitgenössischen Kulturkritik auf: die Überdeterminierung des externalisierten Gedächtnisses, das die Erfahrung des Erinnerns enteignet, im toten Speicherwissen untergehen läßt. Gleichwohl ist es kein Anachronismus, wenn Hofmannsthal sein Stück am Beginn des neunzehnten Jahrhunderts spielen läßt. Bei Hegel schon war jenes Leitmotiv angeklungen, das dann bei Nietzsche so variantenreich intoniert werden sollte – ja es hatte bereits resümierenden Charakter, wenn Hegel die Überwindung des topischen Prinzips der Datenspeicherung postulierte, das sich von den mnemonischen Architekturen der antiken Rhetorik bis zu den Tableaus der naturgeschichtlichen Klassifikationssysteme und die »Schemata der Naturphilosophie« mit ihren »toten Typen« bis in das letzte Viertel des 18. Jahrhunderts kontinuiert hatte. In seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie verurteilt er die klassische ars memoriae als »eine schlechte Kunst«, die zu »heillosesten Kombinationen« führe. Die einzige Einschränkung seines Verdikts macht er bei Giordano Bruno, dessen mnemonische Schriften »der Kunst eine tiefere innere Bedeutung gegeben« hätten.[19] In diesem Sinne vollzieht Hegel eine folgenreiche Binnendifferenzierung des Memoria-Begriffs, die mit einer Neubewertung des Vergessens einhergeht: Unter Gedächtnis versteht er nurmehr ein »Beinhaus der Wirklichkeiten«, ja einen »Galgen, an dem die griechischen Götter erwürgt hängen«[20], das Erinnern dagegen etymologisch als »Sich-innerlich-machen, Insichgehen«.[21] Kierkegaard greift dann diese Unterscheidung auf und deutet sie existentialistisch um. In Entweder/Oder beschreibt er die Situation des modernen Ästheten in einem entsprechenden Bild, das nicht nur Hofmannsthals Gedicht Nox portentis gravida erstaunlich nahekommt,[22] sondern auch der Klage Claudios:

Mein Leid ist meine Ritterburg, die einem Adlerhorste gleich hoch auf des Berges Spitze zwischen Wolken liegt; niemand kann sie erstürmen. Von ihr stoße ich hernieder in die Wirklichkeit und packe meine Beute; jedoch ich bleibe nicht da unten, ich bringe meine Beute heim, und diese Beute ist ein Bild, das ich hineinwebe in die Tapeten meines Schlosses. Allda leb ich einem Toten gleich.[23]

 

Auch Kierkegaard konstruiert seinen Begriff des Erinnerns aus der Hegelschen Antithese zum Gedächtnis. »Unter Entgegensetzung wider das im Gedächtnis Behalten«, schreibt er in den Stadien, »begehre ich mit Themistokles, vergessen zu können; sich erinnern aber und vergessen sind keine Gegensätze.«[24] Für Nietzsche schließlich wird das »Vergessen-können oder, gelehrter ausgedrückt, das Vermögen […] unhistorisch zu empfinden«, zur Bedingung des Lebensglücks schlechthin,[25] und er äußert die Vermutung, es sei »nichts furchtbarer und unheimlicher an der ganzen Vorgeschichte des Menschen, als seine Mnemotechnik.«[26]

Der Umschlag des dramatischen Konflikts in Hofmannsthals »neuem Todtentanz« ist vor dem historischen Hintergrund dieser Gegenbewegungen zum topisch-mnemonischen Gedächtnisraum zu sehen. Wie in Hegels »Beinhaus« kommt Claudio sich vor, wenn er das abgestorbene Leben der Kunstgeschöpfe in seinen Truhen und Vitrinen aus »toten Augen« (282) betrachtet; und er findet die Rettung vor seiner exzentrischen Selbstzerstreuung in »tausende Vergleiche« analog zur Hegelschen Wendung gegen eine Gedächtnistechnik, die zu den »heillosesten Kombinationen« führt, durch ein er-innerndes Insichgehen. Wie Kierkegaards Dichter »einem Toten gleich« in Gedanken lebend, kommt Claudio schließlich doch zur Anamnesis der eigenen Existenz, indem er ein amnesisches Begehren nach Art des Themistokles entwickelt. »Unfähig des Vergessens« wie Nietzsches unglücklicher Geschichtsschreiber, wird er endlich lernen, »unhistorisch zu empfinden«. Doch der Preis dafür ist hoch: Nur der Tod kann ihn noch »lehren, / Das Leben […] einmal ehren« (291). Erst bei den morbiden Klängen der Todesgeige vermag Claudio sich jenen »langersehnten Schauern« hinzugeben, die sein adynamischer Gedächtnisraum, seine »Rumpelkammer voller totem Tand« vermissen ließ. »Rücklebend« die musealen Insignien um sich her vergessend, wird er in die eigene Vergangenheit versetzt, als noch »alle Dinge / dem liebenden Erfassen nahgerückt« waren und er sich von ihnen noch »beseelt und tief entzückt« fühlen konnte. Die Speicherlast des »allzu alten, allzu wirren Wissens / […] Vergeht, von diesem Laut des Urgewissens« (287). Stattdessen erscheinen ihm nun die Geister von drei Verstorbenen, an denen er schuldig wurde: seine Mutter, die verlassene Geliebte und der Freund. Sie wecken seine Reue über die Gleichgültigkeit, Treulosigkeit und zersetzende Kälte, mit denen er ihnen begegnet war. Das eingeklagte Gefühl für seine Mitmenschen stellt sich in dem Moment ein, als ihm bewußt wird, daß er sie endgültig verloren hat. Beim Entschwinden des Erinnerungsbildes seiner Mutter spürt er erstmals »alle Wurzeln […] nach ihr sich zuckend« drängen (293). So wird die Begegnung mit dem Tod zur Voraussetzung einer erinnernden Vergegenwärtigung. »Erst da ich sterbe, spür ich, daß ich bin«, erkennt Claudio, und beschließt: »Da tot mein Leben war, sei du mein Leben, Tod!« (297).

Mit der Verwunderung des Todes darüber, daß die Menschen »Wege noch im Ewig-Dunkeln finden« (298), endet das Stück. In der Tat rühren Claudios letzte Worte an ein Mysterium, die Koinzidenz von Leben und Tod, die ewig rätselhaft bleiben muß. Was aber bedeutet Claudios Sterben für die darin artikulierte Ästhetismusproblematik? Ist der Tod des Ästheten[27]zugleich derTod einer Ästhetik, die ihn symbolisch zur Darstellung bringt? Muß auch die literarische Sprache sterben, um den mortifizierten Gedächtnisraum der Schrift, dem sie angehört, zu neuem Leben zu erwecken? Auch dies wäre ein rätselhafter Vorgang, ein poetisches Mysterium, über das die Form des Dramas Auskunft zu geben hätte.

 

 

II

 

Der Tod der literarischen Sprache ist ein Motiv, das insbesondere der »Chandos-Brief«in aller Deutlichkeit reflektieren wird. Doch ebenso, wie hier die Lösung des Problems nicht in einer Absage an die Dichtung besteht, so verweist schon Hofmannsthals Jugenddrama im Sinne einer immanenten Poetik auf die gegenteilige Konsequenz. Claudios Schlußverse geben einen Hinweis darauf, daß der ästhetistische Weltverlust nicht durch ein Entsagen der literarischen Sprache zu überwinden ist, sondern im Gegenteil durch die Steigerung ihrer fiktionalen Lebensferne: »Wenn einer träumt, so kann ein Übermaß / Geträumten Fühlens ihn erwachen machen« (297). Das artifizielle Sprechen, das die zitathaft erstarrten Formen der Prätexte nicht scheut, sondern verstärkt in sich aufnimmt, bis es im Übermaß der Assoziationen, Anspielungen und Verweise auf Vergangenes den toten Gedächtnisraum des literarischen Kanons von innen her aufsprengt und die darin gebundenen Gefühlsenergien freisetzt – diese Todesbegegnung des artifiziellen Sprechens ist das poetische Pendant zu Claudios Erinnerungsprozeß, der im Sterben sein Leben zurückgewinnt. Der junge Hofmannsthal, der über eine frappierende Kenntnis der Weltliteratur verfügte, hat die Wandlung seines Helden nicht etwa dadurch poetisch eingefangen, daß er den als Rede eines Ästheten markierten Eingangsversen eine von der Last des Bildungserbes befreite Sprache gegenüberstellte, sondern er hat im Gegenteil alles in sie hineingelegt, was sein breiter Bildungshorizont aufzubieten vermochte. Die Selbstfindung Claudios ist von der Literaturkenntnis seines Autors förmlich imprägniert. Den Auftakt macht Goethes Faust (V. 783f.): »Musik? […] Tön fort, Musik, noch eine Weile so / Und rühr mein Innres also innig auf« (286f.). Bei Goethe freilich ist es Chorgesang, nicht Geigenspiel, was zur Erweckung von »kindlichem Gefühle« (V. 781) führt, doch wie bei ihm der Erinnerungsvorgang »des Glockentones Fülle« (V. 773) assoziiert, so hört auch Hofmannsthals Claudio – als gelte es, die literarische Reminiszenz auch in der Instrumentierung noch zu sichern – aus den »kindisch-tiefen Tönen« vergangenes »Glockenläuten« heraus (288 u. 287). Sein »Schauern« (287, vgl. 288 u. 289) ist natürlich ebenfalls goethisch (z.B. Faust, V. 473), wird aber präzisiert durch eine Passage aus Herders Reisejournal.[28] Das Erscheinen des Todes (288) rekurriert auf Maeterlincks Drama L'Intruse, der erste Wortwechsel mit ihm hingegen auf Matthias Claudius' Der Tod und das Mädchen.[29]Die schöne Gestalt des Todes, auf die dann verwiesen wird, ist ein antiker Topos, den Hofmannsthal einem Fragment Heraklits[30] oder den einschlägigen Abhandlungen Lessings und Herders entlehnen konnte. Seine gefühlserschütternde Wirkung aber trägt neuere Züge: sie weist deutliche Parallelen zu Goethes Prometheus-Drama (V. 397–416) auf. Die topischen Vorbilder für das anschließende Streitgespräch zwischen Claudio und dem Tod (289ff.) sind freilich Legion; sie reichen von der Antike über das Mittelalter bis in die deutschen Totentanzdichtungen und haben zahlreiche Spuren in Hofmannsthals »neuem Todtentanz« hinterlassen.[31]

Die Kette der Zitate und Verweise reißt auch im weiteren Verlauf des Dramas nicht ab. Bibelkundig beneidet Claudio Jakobs ringende Gottesnähe[32] (290), mit Lenaus Faustbeklagt er seine Bindungsunfähigkeit[33], und mit dem Goetheschen läßt er sich einen »Toren«[34] nennen (291). Und so geht es fort, von Motiv zu Motiv. Der Bogen spannt sich nicht nur von Platon bis Platen, er umfaßt die gesamte abendländische Kulturgeschichte von Homer bis in die unmittelbare Gegenwart Hofmannsthals, der sich auch immer wieder selbst zitiert. Die griechische Tragödie wird mit dem deutschen Volkslied konfrontiert, Montaignes Moralismus mit Nietzsches Nihilismus, Ibsen mit George – kurz: Die Sprachform des Dramas läßt die Reden seines Personals nicht als authentischen Selbstausdruck erscheinen, sondern montiert sie in wechselnden Konstellationen aus tradierten Schriftpartikeln nach Art eines kombinatorischen Gedächtnistheaters. Dabei tun sich immer wieder neue Verbindungslinien auf. Die Klage des Freundes etwa («Scheinbar gepackt […] oder sonst«, 295) steht, wie der Kommentar anmerkt, in einer »Tradition […], die vom ›Stoizismus des Horaz‹ bis in die ›Resignationsphilosophie‹ seiner eigenen Tage« – gemeint sind hier Baudelaire und Schnitzler – reicht.[35] Macht es da überhaupt noch Sinn, den einzelnen Verweisspuren nachzugehen? Ist es nicht müßig zu überlegen, ob Claudios Vers »Da tot mein Leben war, sei du mein Leben, Tod!« von Euripides, Shakespeare, Goethe, Hölderlin oder Schopenhauer herrühren könnte?[36]

Eine positive Antwort könnte sich darauf stützen, daß jenes »Übermaß / Geträumten Fühlens«, das Claudio »erwachen« macht, seine poetische Analogie im Übermaß der literarischen Phantasien hat. Aber geht daraus schon eine vergleichbare Erweckungsfunktion hervor? Manche Kritiker glauben eher das Gegenteil. Von Alfred Kerr bis Anton Kuh äußert sich immer wieder mokante Bewunderung für den »Antiquar« Hofmannsthal, der sein Werk zum »Hort für fremde Stile – neben dem eigenen« machte,[37] oder den »Meister der Lektüre-Wiedergabe«: »So tief er in seine Seele hinabtauchte«, schreibt Kuh,«er fand nur Stoffe der Weltliteratur. Er war so gründlich von ihr bearbeitet, daß er erst zu sich kam, wenn er sie bearbeitete.«[38] Bei aller Ironie indessen trifft diese Beobachtung gleichwohl den transformatischen Prozeß, den Hofmannsthal in seinem Dramenhelden stattfinden läßt – als Ausweg für eine persönlich empfundene Problematik. Gleichlautend zum Eingangsmonolog Claudios bekennt er in einem Brief aus jener Zeit: »ich sehe mir selbst leben zu und was ich erlebe ist mir wie aus einem Buch gelesen«. Doch er fährt fort: »erst die Vergangenheit verklärt mir die Dinge und gibt ihnen Farbe und Duft. Das hat mich wohl auch zum ›Dichter‹ gemacht, dieses Bedürfnis nach dem künstlichen Leben«[39] Auch dies ist ein Beleg dafür, daß Hofmannsthal die von ihm diagnostizierte Krise des Ästhetentums nicht durch die Rückkehr zum »wirklichen Leben« zu überwinden suchte, sondern durch das Hervorkehren seiner Künstlichkeit. Explizit wehrt er sich gegen das Rezeptionsstereotyp, daß die in Der Tor und der Tod dargestellte Künstlerproblematik aus dem »Selbstvorwurf einer dürftigen Natur« resultiere. Vielmehr sei das Drama »aus einer inneren Herrlichkeit und Fülle hervorgegangen«.[40]

Es genügt freilich nicht, diese Fülle nur zu konstatieren. Um ihren hermeneutischen Gehalt freizulegen, bedarf es einer näheren Einlassung auf ihre Anspielungen. Denn sie betreffen nicht nur die sprachliche Gestalt, sondern auch die Thematik und Problemstellung des Dramas. Diesbezüglich grundlegend sind Beer-Hofmanns Erzählung Der Tod Georgs[41], Lenaus Faust und insbesondere natürlich der Goethesche Faust,dessen Eingangsverse in einer von Alfred Kerr »fast parodistisch« genannten Penetranz aufgegriffen werden.[42] Die parodistische Wirkung gehört aber durchaus zu den von Hofmannsthal bewußt in Kauf genommenen Konsequenzen seines Verfahrens, »Herrlichkeit und Fülle« auszudrücken: »es ist ein Hauch von jugendlicher Selbstironie über dem ganzen Ding«, schreibt er in dem erwähnten Brief. Der überzogene Anspielungsreichtum soll durchklingen. Dennoch ist das kein Selbstzweck, sondern Aspekt einer Sprachdynamik, die sich um so mehr entfaltet, je mehr sich der Rezipient ihren Assoziationen überläßt. Wie genau Hofmannsthal einer solchen Rezeption vorgearbeitet hat, sei im folgenden an der Hauptspur des Verweisgeflechts demonstriert.

 

 

III

 

Die Fokussierung auf Goethes Faust hat sich allerdings sogleich mit dem Vorwurf auseinanderzusetzen, eine überholte Forschungsposition zu restaurieren. Gotthart Wunberg stellt diesbezüglich fest: »Auf die Verwandtschaft mit Goethes Faust ist vor allem im Zusammenhang mit Der Tor und der Tod immer wieder hingewiesen worden. Schon eine halbe Generation später empfand man das als unangenehm.«[43] Selbst ein so subtiler Hofmannsthal-Interpret wie Peter Szondi, der die Renaissance-Bezüge des Dramas nicht aus der Nähe zur Faustfigur, sondern zum Tod des Tizian herleitet, vermag sich die »oft ans Peinliche grenzende Nähe der Sprache des Tor und Tod zur Goetheschen Dichtung« nicht recht zu erklären. Er schreibt:

Es bleibt merkwürdig, daß der junge Hofmannsthal seinen doch schon im Tod des Tizian nicht nur selbständigen, sondern auch meisterhaft gehandhabten Stil um einer thematischen Verwandtschaft willen – auch der Auftritt des Todes erinnert an Mephistos Eintreten in Fausts Studierkammer – oder von dieser Verwandtschaft verführt, in solchem Ausmaß wieder opfern konnte.[44]

Die von Szondi wie auch von anderen empfundene Peinlichkeit[45] indessen resultiert nicht etwa aus der Tatsache, daß die Parallele falsch wäre, sondern daß sie fälschlich als bloßes Oberflächenphänomen wahrgenommen wird. Denn sie besteht nicht nur, wie seit Alfred Kerr immer wieder allzu einfach konstatiert wird, im sprachlichen Duktus der Verse, sondern vor allem in der Tiefenstruktur der Konfliktkonstellation, die nicht so rasch auszuschöpfen ist. In – freilich problematischer Nationalfärbung – stellt Rudolf Borchardt fest: »Seit Werther und Faust […] ist Claudio der erste deutsche Typus eines Lebenszwiespaltes, wie nur höhere Gesellschaften ihn ausbilden und sich angleichen können.«[46] Auch unter Fortlassung des »unsterblichen germanischen Schmerzzustandes«, mit dem Borchardt die Verwandtschaft begründet, bleibt seine Beobachtung gültig, daß Hofmannsthal im Rekurs auf Goethes Drama an einer »abgebrochenen Kontinuität fortarbeitet«: Fausts Monologe, sagt er, hätten »Folgen für den Stil und die äußere Farbe [von Tor und Tod] bis in die Konzeption, bis ins Szenische, bis in die Sprache und ihr Bildliches hinein«. Dabei sei aber Hofmannsthals Drama niemals

der Versuchung ausgesetzt […], dem Tone, den es umbildet, zu erliegen, so wenig es durch das Goethesche Mittel hindurch auch noch hanssachsisch zu werden in Gefahr ist, sondern von der Gattung nur ihre festen Motive, vom Metrischen nur den Schatten seines Umrisses, vom Szenischen nur sein stehendes Verhältnis von Aktion und Rede, die mimische Entwickelung des Wortes aus der Geste gegen seine Welt entlehnt, – so weit und innerlich faßt es sein Verhältnis zum Stilmuster.[47]

Denn selbstverständlich ist Hofmannsthal kein Goethe-Kopist, sondern er modifiziert den Prätext in durchaus eigenständiger Weise. Zu Recht beschreibt auch Mathias Mayer »Claudios Rolle als die eines Faust des Fin de siècle«,[48] und betont damit die Differenz in der Gemeinsamkeit. Um aber diese Differenz und somit die Spezifik des Hofmannsthalschen Stils herauszuarbeiten, ist es nötig, den Gemeinsamkeiten auf den Grund zu gehen. Dies ist in der Forschung, allem Anschein zum Trotz, eben doch kaum geleistet worden. Die Nähe zum Faust wird in einschlägigen Arbeiten entweder gar nicht beachtet[49] oder nur en passant erwähnt.[50] Auch dort, wo sie durchaus angemessen als literarischer Firnis von »vagen Erinnerungen« des Vergangenen wahrgenommen wird, bleibt die Frage nach dem Ursprung dieser offenbar bewußt eingeschriebenen Alterungsspur offen.[51] Eine der jüngsten Veröffentlichungen zu Hofmannsthal – Uwe Steiners Die Zeit der Schrift, die auch ein ausführliches Kapitel über Der Tor und der Tod enthält – streift die Faust-Parallele mit wenigen Sätzen, um sie sogleich als unergiebig abzutun:

War dieser [Faust, P.M.] jedoch ein an allen Fakultäten bewanderter Gelehrter, so betitelt Hofmannsthal seinen Protagonisten ausdrücklich als Toren, eben weil dieser der alphabêtise verfallen ist. […] Faust scheitert in seiner Suche nach dem die Buchstaben- und Wissensmassen zusammenhaltenden transzendentalen Signifikat. Darum verläßt er die Studierstube und geht vom Buch gleich zur Natur über. Claudio dagegen mißlingt der hermeneutische Sprung aus dem Studierzimmer ins Leben bzw. ins Signifikat, weil sich die Schrift selbst als unüberwindbare Barriere erweist.[52]

Die Trefferquote dieser schwungvoll hingeworfenen Bemerkungen zeigt, wie nötig eine gründliche Untersuchung der Verbindungslinien zwischen beiden Werken nach wie vor ist: Zunächst einmal kann kein Zweifel daran bestehen, daß auch Claudio ein universell gebildeter Gelehrter ist; gleich Faust, der sich dennoch »so klug als wie zuvor« (V. 359) fühlt, sitzt er in seinem Studierzimmer und reflektiert darauf, daß seine Existenz »wie ein Buch« ist, »Das man zur Hälft noch nicht und halb nicht mehr begreift, / Und hinter dem der Sinn erst nach Lebendgem schweift« (285, Hv. P.M.) – auch er also sucht durchaus nach dem »transzendentalen Signifikat«. Und daß Claudio von seinem Autor gleichwohl als »Tor« bezeichnet wird, bringt ihn schon gar nicht in einen Gegensatz zu Goethes Faust, sondern unterstreicht abermals die Gemeinsamkeiten: »Nicht irdisch ist des Toren Trank noch Speise«, sagt Mephisto im Vorspiel auf die Frage des »Herrn«, ob er den Faust kenne (V. 299, 301). »Da steh' ich nun, ich armer Tor« (V. 358), klagt dieser, nachdem er vergeblich der scholastischen Wortwissenschaft nachjagte – eine »alphabêtise« par excellence, vor der er aus eigener Erfahrung dann seinen Famulus Wagner warnt: »Sei er kein schellenlauter Tor!« (V. 549). Hofmannsthal hat sich bemüht, diese Analogie explizit kenntlich zu machen, indem er der Bezeichnung »Tor« für Claudio das Attribut »schellenlaut« hinzufügt (291) – für manchen seiner Interpreten wohl immer noch nicht explizit genug. Die Behauptung schließlich, daß Faust im Unterschied zu Claudio seine Studierstube verlasse und »vom Buch gleich zur Natur« übergehe, trifft vollends daneben. »Flieh! auf! hinaus ins weite Land!« ruft Faust und stürzt sich – auf das »geheimnisvolle Buch, / Von Nostradamus' eigner Hand« (V. 418f.). Die Unterweisung der Natur (vgl. V. 423) sucht Faust eben nicht »draußen«, im unmittelbaren Erfassen des »transzendentalen Signifikats«, sondern in den Signifikanten, im »Zeichen des Makrokosmus« (vor V. 430) und im »Zeichen des Erdgeistes« (vor V. 460). Wenn Claudio – nach einem kurzen Fensterblick ebenfalls nicht den »graden Weg« ins Leben (283) wählend – sein eigentliches Existenzerlebnis im Studierzimmer hat, das ihm vorkommt, »Als strömte von den alten, stillen Mauern / Mein Leben flutend und verklärt hinein«, und ihn in ein »jugendliches Meer« wirft (287), so spielt diese Flutmetaphorik in doppelter Hinsicht auf Fausts »Zeichentrinken«[53] an. Bei der Makrokosmosvision heißt es: »Ha! welche Wonne fließt in diesem Blick / Auf einmal mir durch alle meine Sinnen! / Ich fühle junges, heil'ges Lebensglück / Neuglühend mir durch Nerv' und Adern rinnen« (V. 430–433). Und die Zeichenwirkung des Erdgeistes offenbart sich ihm als »Lebensfluten« (V. 501), als »ewiges Meer« (V. 505). Der Äquivokationen und Analogien ließen sich noch zahlreiche weitere nennen. Die angeführten Beispiele mögen indes genügen, um deutlich zu machen, daß beide Texte in einem innigen Korrespondenzverhältnis stehen. Erst auf der Grundlage dieser Einsicht lassen sich die Spezifika des Hofmannsthalschen Dramas näher bestimmen. Die Frage lautet: Warum sind Sprachduktus und Problemstellung von Der Tor und der Tod – eines zweifellos zeitgemäßen Stücks – derart nah an ein so überladenes Literaturerbe wie den Eingangsmonolog des Faust angelehnt? Welche Konturierung für den dramatischen Konflikt seines modernen Helden und dessen Lösung durfte Hofmannsthal von dieser Reminiszenz erwarten, die er einerseits unmißverständlich hervorkehrt und andererseits doch in einen derart eigensinnigen Handlungskontext einarbeitet, daß sie von vielen Interpreten für marginal gehalten werden kann?

Um die Antwort in einer knappen Formel vorwegzunehmen: Hofmannsthal beglaubigt den Erinnerungsprozeß Claudios durch die Poetik einer transformatorischen Intertextualität, die den zum Zitat geronnenen Phänotext durch Rückverweis auf seinen latenten Genotext reanimiert. Dies bedarf freilich der Erläuterung.

Die Unterscheidung zwischen dem Phänotext der sichtbaren Aussagen und dem Genotext strukturierender Syntagmen geht ebenso wie der Begriff der Intertexutalität auf Julia Kristeva zurück.[54] Renate Lachmann hat diese Terminologie für die Analyse der Funktion literarischer Erinnerungstechniken fruchtbar gemacht. Ihr Ausgangspunkt ist die Feststellung einer latenten Kontinuität zwischen den Gedächtnisarchitekturen der antiken Mnemotechnik mit ihrem Prinzip der loci et imagines und der Struktur literarischer Texte: »So wie der Text in das Gedächtnistheater der Kultur als in einen Außenraum eintritt, entwirft er dieses Theater noch einmal, indem er die anderen Texte in seinen Innenraum hereinholt.« Durch den Medienwechsel findet freilich eine Transformation des adaptierten Modells statt. Die nun von literarischen Tropen eingenommene Stelle der imagines entbindet diese von ihrer topographischen Anordnung; ihre Beziehungen untereinander sind nicht mehr nur als explizit gespeichertes Wissen, sondern zugleich als implizites, dem Assoziationsprozeß der Lektüre übereignetes Wissen präsent. In diesem Spannungsfeld, im »Raum zwischen den Texten«, entfaltet sich nach Lachmann der »eigentliche Gedächtnisraum« der Literatur.[55] Dabei unterscheidet sie drei Modelle der Intertextualität: Partizipation, Tropik und Transformation.[56]

Zweifellos lassen sich alle drei Modelle in Der Tor und der Tod wiederfinden. Die partizipierende Wiederholung und Nachahmung der vergangenen Texte liegt ebenso vor wie der tropische »Kampf gegen die sich in den eigenen Text notwendig einschreibenden fremden Texte«[57]. Insbesondere aber ist Hofmannsthals Drama, das seinen Helden in einem »Übermaß geträumten Fühlens« zum erinnernden Erwachen bringt, ein hervorragendes Beispiel einer intertextuellen Transformation des mnemonischen Gedächtnisraums. Mit der Fülle seiner literarischen Verweise, die stets implizit bleiben, erfüllt es Lachmanns Kriterium einer »über Distanz, Souveränität und zugleich usurpierende Gesten sich vollziehende[n] Aneignung des fremden Textes, die diesen verbirgt, verschleiert, mit ihm spielt, durch komplizierte Verfahren unkenntlich macht, respektlos umpolt, viele Texte mischt«.[58] Sehen wir uns die Spezifik der Hofmannsthalschen Reanimationsbewegung vor dieser heuristischen Folie näher an.

Claudios Konflikt spannt sich auf zwischen den beiden in der eingangs erwähnten Schrifttums-Rede kritisierten Vereinseitungen, topischer Raumenge und imaginativem Raumverlust: Der Beschränkung des kulturellen Gedächtnisspeichers, der »Rumpelkammer voller totem Tand«, korrespondiert die Entgrenztheit seines belesenen Assoziationsreichtums, der jede Lebensregung sogleich in »tausende Vergleiche […] zerfasert«. Und aus eben dieser Zwischenstellung ergibt sich eine Dynamik, die die Lösung herbeiführt: Die doppelte Abstoßungsbewegung führt ihn zu einem anderen Raumerleben, das weder topisch noch utopisch, sondern atopisch ist – das Erleben eines Gefühlsraums, der sich im Eingedenken der eigenen Vergänglichkeit offenbart. Dem entspricht auf der Ebene der poetischen Sprache der nicht verortbare Raum intertextueller Verweise, die Reminiszenzen an Vergangenes wecken, ohne sie auf bestimmte Bedeutungen festzulegen. Einen Komplex dieser Verweise haben wir herausgegriffen. Seine privilegierte Stellung ergibt sich aus dem Umstand, daß er nicht nur Anspielungsmaterial ist, sondern nach genau demselben Funktionsprinzip gebildet wurde: Fausts Makrokosmosvision und seine Erdgeistbeschwörung repräsentieren die beiden Aspekte des literarischen Textgewebes: die räumliche Struktur eines topischen Wissens, innerhalb dessen »alles sich zum Ganzen webt« (V. 447), und die raumlose, begrifflich nicht faßbare (vgl. V. 512f.) Kreativität der Einbildungskraft mit ihrem unendlich »wechselnd Weben« (V. 506). Auch diese Referenz bedürfte freilich einer eingehenden Interpretation, die hier nicht durchgeführt werden kann.[59] Für unseren Vergleichszusammenhang genügt die Feststellung, daß auch Fausts Konflikt darin besteht, zwischen Topik und Utopik hin- und hergerissen zu sein: die Makrokosmosvision befriedigt ihn nicht, weil sie nur ein »Schauspiel« ist (V. 454); die Erdgeistbeschwörung scheitert daran, daß er ihre »freie Kraft« (V. 618) nicht »halten« kann (V. 625). Auch hier gelingt das erinnernde Erwachen der verschütteten Gefühle erst in der Konfrontation mit dem eignen Tod: In dem Moment, als Faust die Giftphiole zum Mund führt, bringt ihn des »Glockentones Fülle« (V. 773) mit der Kindheitsreminiszenz »zurück […] in das Leben« (V. 770).

 

 

IV

 

Liegt also im Faust die Antwort auf das poetische Rätsel, das Der Tor und der Tod stellte? Selbstverständlich nicht. Sondern es ist die Frage, die sich in ihm spiegelt. Der Goethesche Prätext ist das Reflexionsmedium für den Dramentext Hofmannsthals. Wie dieser im Rekurs auf jenen seinen intertextuellen Erinnerungsraum vertieft, so vertieft auch der Prätext den seinen durch Anspielungen auf ältere Quellen. Was beide Werke verbindet, ist nicht einfach die isomorphe Struktur der Gedächtnisproblematik, sondern die Gestik des historischen Rückverweisens, in der sie zur Darstellung kommt. Die Museumskultur des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts, an der Claudio leidet, zeigt sich im Gewand der späten Goethezeit; und der frühe Goethe illustriert die Wissenskrise seiner Zeit durch einen Faust, der in ein »Museum gebannt« (V. 530) ist, das der Phase des Übergangs von der Renaissance zum Barock angehört. Zwar spiegelt sich sowohl in Claudios »Rumpelkammer voller totem Tand« wie auch in Fausts von »Trödel […] mit tausendfachem Tand« (V. 658) vollgestopfter Gelehrtenstube eine – bezogen auf den jeweiligen Moment der Werkentstehung – durchaus aktuelle Syptomatik. Diese jedoch wird beide Male durch Rückprojektion auf eine frühere Epoche in eine Bewegung des historischen Erinnerns hineingezogen, die die auktoriale Gegenwart als Zukunft erscheinen läßt. Der atmosphärische Effekt solch einer erinnernden Vorwegnahme ist die Öffnung des Möglichkeitssinns gegenüber dem faktischen Geschichtslauf; das historisch Geschehene verliert in der Besinnung auf seine Urspünge den Charakter der Zwangsläufigkeit und wird einer reaktualisierenden Betrachtung zugänglich. Was auf diese Weise von der Renaissance-Reminiszenz der Eingangsszene des Faust antizipiert wird, ist eine Alternative zu jener Form der Temporalisierung, die sich im letzten Drittel des achtzehnten Jahrhunderts als Reaktion auf den – mit den epochenspezifischen Formen der räumlichen Wissensorganisation, Tableau und Taxonomie, nicht mehr zu bewältigenden – Erfahrungsdruck abzuzeichnen begann.[60] Die Durchsetzung des historistischen Wissenschaftsverständnisses, die in den zwanziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts – der Zeit also, in der Hofmannsthals Drama spielt – abgeschlossen war, zeigt sich hier noch in der Offenheit der Ausgangssituation. Goethes Alternativentwurf zur Temporalisierung, der dem historistischen Dilemma von adynamischer Simultaneität und unanschaulicher Sukzession zu entgehen suchte,[61] ist in der poetischen Kritik an den komplementären Defiziten von Makrokosmosvision und Erdgeistbeschwörung bereits vorgezeichnet: Das erste Zeichen ist zwar anschaulich, läßt aber die authentische Erfahrung des Lebensprozesses vermissen, die das zweite Zeichen zwar vermittelt, ohne jedoch begreiflich zu sein. Die historischen Quellen, auf die Goethe bei dieser Konfrontation zweier Zeichenmodelle rekurriert, sind zu vielfältig, als daß hier auf sie eingegangen werden könnte. In unserem Zusammenhang genügt aber auch der Hinweis auf eine ganz bestimmte Referenz, da sie durch die Spezifik des Faust-Bezuges in Hofmannsthals Drama gleichsam herausgefiltert wird: die magische Animation des Gedächtnisraums durch Giordano Bruno.

Goethe, der den zwischen kosmologisch-anschaulicher und hermetisch-okkulter Renaissance-Alchemie eigentümlich oszillierenden Naturphilosophen zeitlebens schätzte,[62] war schon während seiner Jugend mit dessen Gedankenwelt in Berührung gekommen und las nachweislich während des Straßburger Studienaufenthaltes, als der Entschluß zu einem Faust-Drama reifte, De la causa, principio et Uno.[63] Zwar bleiben die Bezugnahmen in der »Magiertragödie« des Faust – abgesehen von der direkten Anspielung der Verse 590ff. – implizit. Doch die Motivverwandtschaft ist nicht zu übersehen. Fausts Übergang vom anfänglich begeistert aufgenommenen, dann enttäuscht fallengelassenen »Schauspiel« (V. 454) der Makrokosmosvision zur Beschwörung des Erdgeistes im Interesse der leibhaftig erfahrenen Teilhabe an der Produktivität der Gottnatur – dieser Übergang reflektiert Brunos Distanznahme zur pansophischen Weltharmonik, der er einerseits noch anhängt, die er aber andererseits in der erwähnten Schrift als bloßes »Gleichnis« der »großen und unendlichen Wirkung der göttlichen Allmacht« versteht, deren geistige Bewegung sich »alle die Glieder durchströmend, / Ganz mit dem Leibe vereint« manifestiert.[64] Dieses Strömen, das – wie oben erwähnt – ebenso von Claudio wie von Faust als Metapher für den Prozeß des Erinnerungsvorgangs verwendet wird, ist auch für Bruno letztlich nur in der Annahme des Todes zu erfahren. Was ihn seiner Hinrichtung furchtlos entgegensehen ließ, war die Gewißheit, in der Selbstauflösung zur urspünglichen Einheit zurückzukehren, in die »natura recessus«, die »himmlische Heimat« der Präexistenz[65].

Es sind aber nicht nur diese allgemein weltanschaulichen Ähnlichkeiten, die Hofmannsthals Drama über das Goethesche auf das Werk Brunos rückverweisen lassen. Der zentrale Strang in dieser Verweiskette wird durch das Motiv der Reanimation des toten Gedächtnisraums geknüpft. Jene schon von Hegel erkannte Tatsache, daß Bruno die klassische ars memoriae in einer Weise aufgriff, die »der Kunst eine tiefere innere Bedeutung gegeben« hat, kommt in Fausts Lektüreerfahrungen prägnant zum Ausdruck. Die »Zeichen« des Makrokosmos-Piktogramms, die ihm »das innere Toben stillen« und »Die Kräfte der Natur […] enthüllen« (V. 434–438), entsprechen dezidiert der Funktion des Gedächtnistheaters der Renaissance, wie sie Frances Yates herausgearbeitet hat:

Der hermetisch beeinflußte Mensch der Renaissance glaubt sich im Besitz göttlicher Kräfte; er kann ein magisches Gedächtnis bilden, mit dessen Hilfe er die Welt erfaßt, indem er den göttlichen Makrokosmos im Mikrokosmos seines göttlichen mens widerspiegelt. Die Magie der himmlischen Proportionen strömt aus seinem Weltgedächtnis in die magischen Wörter seiner Rede- und Dichtkunst, in die vollkommenen Proportionen seiner Kunst und Architektur. Etwas hat sich innerhalb der Psyche ereignet, wodurch neue Kräfte freigesetzt wurden.[66]

 

»Bin ich ein Gott?« fragt Faust, da er feststellt: »Ich schau in diesen reinen Zügen / Die wirkende Natur vor meiner Seele liegen« (V. 439ff). Schon das Gedächtnistheater des Giulio Camillo erweiterte die mnemotechnische Funktion der antiken Memoria-Paläste, indem es den gesamten Kosmos einzufangen suchte und dem Gedächtnis des Menschen dadurch magische Kräfte verlieh, daß es ihn aus sich heraus zu reproduzieren vermochte. »Bruno«, schreibt Yates,

geht von denselben hermetischen Prinzipien aus. Wenn der mens  des Menschen göttlich ist, dann liegt die göttliche Organisation des Universums in seinem Innern; und eine Kunst, die die göttliche Organisation im Gedächtnis reproduziert, wird die Kräfte des Kosmos anzapfen können, die im Menschen selbst sind.[67]

Fausts Bewunderungfür das »Schauspiel«, »Wie Himmelskräfte auf und niedersteigen / Und sich die goldenen Eimer reichen« (V. 449f.), muß im Zusammenhang mit dieser animistischen Magisierung der Memoria-Theater gesehen werden. Das antike Motiv der »goldenen Kette«, auf das Faust anspielt, fand unter dem Einfluß Marsilio Ficinos in Camillos Theater ebenso Eingang[68] wie in das Gedächtnissystem von Brunos Schatten; es ist, wie Yates erläutert, eine »Gedächtnishilfe«.[69] Diese Gedächtnishilfe freilich wird bei Bruno zu einer höchst komplizierten Anordnung ausgeweitet, deren abstruse Kombinatorik letztlich auch den von magischen Zeichen besetzten Rahmen des Gedächtnistheaters sprengt. Der dekonstruierende Überfluß der Bezüge, der an Claudios »tausende Vergleiche« erinnert, ist keineswegs, wie die Bruno-Rezeption lange Zeit angenommen hat, eine unbeabsichtigte Nebenwirkung.[70] Für Bruno »war Magie kein Zweck an sich, sondern ein Mittel, um hinter den Erscheinungen zu dem Einen zu gelangen.«[71] Deshalb inflationiert er die astrologischen, mythologischen und kabbalistischen Zeichen, um über den Kosmos ihrer Erscheinungsformen hinauszuweisen. Magische Gedächtnissysteme können ihm zufolge zwar »auf wunderbare Weise […] alle Seelenkräfte« unterstützen,[72] doch ihr mystischer Zweck wird erst dann erreicht, wenn sie gleichsam wie die Leiter, die man nach der Benutzung hinter sich läßt, als bloßes Instrument des Aufstiegs transzendiert werden. So gründet denn auch die Reihe in Die Fackel der Dreißig Statuen in den »figürlich nicht darstellbaren« Begriffen, die »das unendliche Verlangen und Bedürfnis nach der göttlichen Unendlichkeit, den Durst nach dem Unendlichen« zum Ausdruck bringen«.[73] Diese Position Brunos wird reflektiert in Fausts »Zeichentrinken«, der mit der Wendung »Welch Schauspiel! Aber ach! ein Schauspiel nur!« (V. 454) erkennt, daß die »unendliche Natur« darin nicht zu fassen (V. 455) ist und sich deshalb dem Erdgeist zuwendet, der ihm »näher« sei (V. 461). Näher ist er ihm, weil er unmittelbar leiblich erfahren und gefühlt werden kann. Dieses sinnliche, unter Einsatz des Lebens vollzogene (vgl. V. 481) Er-innern, das den Goetheschen Erdgeist mit Brunos »anima terrae« verbindet[74], repräsentiert eine Linie der Memoria-Tradition, auf die auch das Geschehen in Hofmannsthals Drama zentral anspielt.[75]Die Anspielung selbst bleibt dabei völlig latent – wie überhaupt eine Bruno-Lektüre Hofmannsthals, die über das allgemeine Bildungswissen zum Neuplatonismus hinausginge, für jene Zeit wohl auszuschließen ist[76]. Dennoch läßt sich die animistische Funktion seiner Sprachmagie erst erfassen, wenn sie vor diesem Hintergrund betrachtet wird. Wie Elisabeth von Samsonow darlegt, beruht Brunos »Pan-Mnemismus«[77] mit seiner »existential-logischen« Opposition zur »nur logischen« Linie der Gedächtnistheorie[78] auf einer doppeldeutigen Anschauung des Lebens als einer »Textilie«: Diese besteht zum einen aus der »Fadenreihe eines Gewebes« – so die ursprüngliche Bedeutung von Brunos ordo[79] – und zum anderen aus der Kraft des »verborgenen Samens«, aus dem der Körper die »Schicksalsfäden aussendet«.[80] Beide Aspekte dieser Webe-Metaphorik, die auf den etymologischen Ursprung des Textbegriffes rekurriert, werden explizit in Fausts Eingangsmonolog angesprochen: in der ordo des Makrokosmoszeichens, in der »alles sich zum Ganzen webt« (V. 447), und in der schöpferischen Produktivität des Erdgeistes, die »Quellen alles Lebens« (V. 456), die »am sausenden Webstuhl der Zeit / […] der Gottheit lebendiges Kleid« wirken (V. 508f.). Wie Bruno, so sieht auch Goethe, der die entsprechende Stelle aus der Monas kannte,[81]erstin der Vermittlung beider Aspekte den Weg zu einem Memorieren, das als emotionale Bewegung erfahren wird. Im Faust kommt dies dadurch zum Ausdruck, daß der eigentliche Verwandlungsakt, die Wiedergewinnung des authentischen Existenzerlebens in der gefühlten Erinnerung der eigenen Kindheit, erst stattfinden kann, nachdem die reziproken Vereinseitigungen der magischen Zeichen überwunden sind. Im Todesentschluß fallen beide zusammen; er vermittelt Faust eine neue Lebensintensität, die an das infantile Gefühl räumlicher Geborgenheit bei gleichzeitiger Offenheit für die himmlischen Sphären anknüpft (vgl. V. 761–784).

Im Verfolgen dieser Verweiskette von Der Tor und der Tod über Goethes Faust zu Brunos Memoria-Schriften, die wiederum Reminiszenzen an ältere Quellen – nämlich einerseits die antike Mnemonik und andererseits die hermetische Magie – evozieren, haben wir uns anscheinend weit von Hofmannsthals Drama fortbewegt. Doch das Gegenteil ist der Fall. Erst im Rückgang durch die mehrfach aufeinandergeschichteten Textebenen, die hinter dem jeweiligen Phänotext den zugrundeliegenden Genotext aufscheinen lassen, der sich wiederum als Phänotext eines weiter zurückliegenden Genotextes erweist und so fort – erst in diesem Rückgang durch die verschiedenen intertextuellen Transformationsstadien erschließt sich das poetische Rätsel, wie Claudios Selbstverwandlung literarisch beglaubigt wird. Claudios mysteriöser Wiedergeburt im Moment des Sterbens entspricht auf poetischer Ebene eine »Sprachmagie«, die durch indirekte Verweise einen unendlichen Regreß der Evokation von Vorläufertexten in Bewegung setzt, und deren Dynamik den Horizont der Textualität letztlich überschreitet. Worauf diese Bewegung zurückgeht, bleibt also philologisch im Dunkeln. Der Mechanismus der Verweisdynamik aber läßt sich durchaus beschreiben. Zu diesem Zweck sei zunächst noch einmal die Erinnerungsfigur der drei dominanten Referenztexte rekapituliert.

Aller drei Ausgangspunkt ist der geschlossene Gedächtnisraum (Brunos ordo, Fausts Makrokosmoszeichen, Claudios Bücherwelt), der als »Gleichnis«, als »Schauspiel«, als »Künstliches […] hinter dem der Sinn erst nach Lebendgem schweift« (Claudio, 284f., Hv. P.M.), zu überwinden ist. Doch das Eingehen in die reine Transzendenz – die »himmlische Heimat« (Bruno), die »Sphären reiner Tätigkeit« (Faust, V. 705), die »verborgene Geisterwelt« (Claudio, 297) – vollzieht sich erst im Tod. Was zuvor in dessen Angesicht aber bereits erfahren werden kann, ist die affektive Betroffenheit eines Erinnerns an frühere Existenzweisen. In ihr fallen die Partikularitäten der habituellen Alltagswahrnehmung ab, was anamnetische Prozesse aufsteigen läßt, die ein Vorgefühl der Einswerdung mit dem Lebensganzen vermitteln. In seiner Todesreflexion erinnert sich Bruno an die infantile Sehnsucht, daß er »heimwärts strebe« und antizipiert darin die Rückkehr zu seinem »Vaterhause«[82]. Im Moment der Todesbereitschaft, das »hohe Leben« der »Götterwonne« (V. 706) vorwegnehmend, wird Faust an seine Kindheit erinnert, als er »ahnungsvoll des Glockentones Fülle« (V. 773) vernahm. Und in Claudios Todesbegegnung »bemächtigt sich des Kindersinns / So hohe Ahnung von den Lebensdingen«, daß er sein »sterbendes Besinnen« dem »Lebenstraum« vorzieht (S. 297).

Die poetische Technik nun, die dieser Erinnerungsfigur entspricht, ist die Reanimation der Sprache durch die Konfrontation mit ihrem eigenen Tod. Analog zum ungeheuren Anspielungsreichtum der Memoria-Schriften Brunos und zu Fausts Durchstudieren aller scholastischen wie  esoterischen Wissenschaften äußert sich in Claudios »Übermaß / Geträumten Fühlens« (297) die Bereitschaft, diesen Tod der Sprache als solchen anzuerkennen und sein Eingedenken zugleich als Chance wahrzunehmen, den zum Zitat erstarrten Gedächtnisraum der Schrift zu öffnen. Dies geschieht durch eine Tiefenschichtung des sprachlichen Materials, die es dadurch in Bewegung versetzt, daß hinter jeder Ebene die Erinnerung einer ihr zugrundeliegenden erahnbar wird. Die sequentielle Oberflächensemantik des dramatischen Phänotextes öffnet sich in die Vertikale und läßt so einen neuen Raum entstehen, der nicht mehr von einer statischen Topik zusammengehalten wird, sondern von der temporalen Dynamik der geistigen Bewegung, die aus den transformatorischen Vollzügen der Lektüre hervorgeht. Indem sie sich auf jene Tiefenschichtung einläßt, erkennt sie, daß das sprachliche Material niemals für sich selbst steht; die zum Bildungsgut mortifizierten Schichten wecken Reminiszenzen an immer frühere, und daraus bezieht der Dramentext seine animistische Qualität. Seine Sprachmagie ist also keineswegs aus dem Nichts herbeigezaubert, sondern, wie Karl Pestalozzi in seiner einschlägigen Studie feststellt, Effekt einer Sprachskepsis,[83] die den Eindruck des déjà entendu, der sich unweigerlich mit jedem Satz einstellt, zum Ausgangspunkt intertextueller Transformationen nimmt. In das Überangebot der Rückverweise können Ahnungen dessen einströmen, was von dem an Ort und Stelle Gesagten verfehlt werden muß. Diesen Verwandlungsprozeß beschreibt Hofmannsthal sehr anschaulich in der kurz nach Der Tor und der Tod entstandenen Rezension über Alfred Bieses Philosophie des Metaphorischen: Er spricht dort von der »unheimlichen Herrschaft, die die von uns erzeugten Metaphern rückwirkend auf unser Denken ausübern, – andererseits der unsäglichen Lust, die wir durch metaphorische Beseelung aus toten Dingen saugen.« Dies bringe »in den gigantischen Raum [der metaphorisch angereicherten Wahrnehmung, P.M.] einen rätselhaft intimen Zauber«[84] Auf ihn zielen die Worte des Todes in Hofmannsthals Jugenddrama: »Was allen, ward auch dir gegeben, / Ein Erdenleben, irdisch es zu leben. / Im Innern quillt euch allen treu ein Geist, / Der diesem Chaos toter Sachen / Beziehung einzuhauchen heißt« (290). Solcher Art sind die Beziehungen der niemals sich selbst genügenden und in ihren Reminiszenzen rückwirkend das dramatische Geschehen beglaubigenden Sprache bei Hofmannsthal. Er haucht dem abgelebten Sprachkörper seines Stückes neues Leben ein und bringt ihn zum Tanzen, indem er ihm die Melodie seines eigenen Requiems vorspielt. Sein neuer Todtentanz ist der Totentanz transformatorischer Intertextualität.

Daß explizite Spuren einer Bruno-Lektüre dem Drama nicht anzumerken sind, spricht nicht gegen deren Bedeutung für das Zustandekommen dieser Sprachmagie. Im Gegenteil. Gerade auf der Tatsache, daß die Rückverweise mit jeder Textschicht palimpsestartig latenter werden, beruht die Dynamik der Animation des Gedächtnisraums: Je tiefer die Lektüre in die verborgeneren Subtext-Schichten eindringt, um so freier kann sich die Imagination des Lesers entfalten; mit der Abnahme der expliziten Vorgaben steigert sich der Eigenanteil assoziativen Erinnerns, das auf immer Vorläufigeres rekurriert, letztlich die Ahnung eines präexistenten Sinns. So ist auch Brunos Magisierung des Memoria-Theaters nur eine Zwischenstufe dieser Dynamik, an der sie nicht halt macht, sondern zurückverweist auf Plotin, auf Plato. Gleichwohl ist sie eine notwendige Zwischenstufe, die nicht ausgelassen werden kann. Denn über sie gehen alle Wege der Gedächtniskritik des 19. Jahrhunderts, die eingangs genannt wurden: Hegel nahm, wie erwähnt, Giordano Bruno von seiner Fundamentalkritik an der ars memoriae aus, da er »der Kunst eine tiefere innere Bedeutung gegeben« habe. Auch das Gleichnis über den Weltverlust des modernen Ästheten in Kierkegaards Entweder/Oder findet seine Auflösung in einem Erinnerungsakt, der mit Brunos antizipatorischer Regression korrespondiert: »Alles, was erlebt ist«, fährt Kierkegaards Dichter fort,

tauche ich unter in die Taufe des Vergessens zum ewigen Leben der Erinnerung. Alles Endliche und Zufällige ist vergessen und getilgt. Da sitze ich als ein alter grauhaariger Mann in Gedanken und erkläre die Bilder mit leiser Stimme, beinahe flüsternd, und mir zur Seite sitzt ein Kind und hört mir zu, wiewohl es sich an alles erinnert, ehe denn ich es erzähle.[85]

 

Für Nietzsche schließlich ist Bruno einer der wenigen, denen die Synthesis von Geist und Leben gelang – jene Synthesis, die Hofmannsthal zur Grundlage seines Formbegriffs machen wird. »Die höheren Formen«, notiert Nietzsche, liegen dort vor, »wo der Künstler nur ein Theil des Menschen ist – z. B. Plato, Goethe, G[iordano] Bruno. Diese Formen gerathen selten.«[86] In der Tat sind es besonders diese drei, die als Vorläufer genannt werden müssen, um Hofmannsthals Motiv der antizipatorischen Anamnesis verständlich zu machen. Ihre gemeinsame Intention, die Erinnerung an die Einheit mit der Weltseele bzw. dem Naturganzen,[87] realisiert sich nicht durch positive Darstellung, denn das wäre – wie dem in seiner Frühphase bereits mit dem neuplatonischen Schrifttum vertrauten Hofmannsthal[88] durchaus bewußt ist – eine »Verfehlung gegen die Wort-magie«: »Die magische Herrschaft über das Wort das Bild das Zeichen darf nicht aus der Prä-Existenz in die Existenz hinübergenommen werden.«[89] Eben dieser Vorbehalt, der klarstellt, daß die Innewerdung Claudios in der Begegnung mit dem Tod nur eine »ahnende Vorwegnahme«[90] sein kann, verbindet Hofmannsthal, unabhängig von dezidierter Lektüreerfahrung, mit Brunos neuplatonischer Skepsis gegenüber der Darstellbarkeit der göttlichen Substanz. Zu Recht verbindet Werner Metzeler die drei Stationen, wenn er feststellt: »Der Schritt [von der Plotinschen Selbstsetzung des Geistes, P.M.] zum Pantheismus eines Giordano Bruno und zum antizipierten Weltbesitz eines Hugo von Hofmannsthal ist nur ein kleiner.«[91] In der Antizipation einer vom Alltagsbewußtsein unverstellten Anamnesis sind sie sich verwandt. Und so ist es vielleicht doch ein versteckter Bezug zu Brunos Vers über den Zustand der Freiheit von den Konstrukten der gewöhnlichen Wahrnehmung – »Nie können sie verschleiern meinen Blick«[92] –, wenn Claudio sagt, er lerne durch den Tod das Leben erstmals »Nicht wie durch einen Schleier« sehen (296f.). Doch gerade in der Vagheit solcher Bezüge, dies sei noch einmal betont, besteht ihre Prägnanz. Die Intensität des Erinnerns steigert sich mit der Ferne des Erinnerungsobjekts. »Das alles sah ich jetzt scharf und springend, weil es verschwunden war«[93] – heißt es in der Erzählung Das Glück am Weg, die zeitgleich mit Der Tor und der Tod entstand.

 

 

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Sofern also das Frühwerk eine Antwort zu geben vermag auf unsere Ausgangsfrage nach der »Form«, die Hofmannsthal in seiner Schrifttumsrede vorschwebte, läßt sich feststellen, daß es sich um die Form eines antizipatorischen Erinnerns handelt, die aus ihrer doppelten Gegenbewegung zum erstarrten, bedeutungslos gewordenen Gedächtnisraum der Schrift und dessen Pendant, der positivistischen Philologie, ihr Profil gewinnt: Quer zu dieser schlechten Alternative wird der literarische Kanon bei Hofmannsthal durch intertextuelle Rückverweise und Reminiszenzen, Anspielungen und Andeutungen in ein dynamisches Kräftefeld verwandelt, in dem das Vergangene zu neuem Leben kommt – als Erinnerung nicht bloß an einen bestimmten Wissensbestand, sondern einen darin erst zu suchenden, erst noch zu realisierenden Gehalt. Dieses poetische Verfahren korrespondiert mit jener »höheren Form«, die Nietzsche an Plato, Goethe und Bruno wahrnahm. Und zu ihr liefert die Schrifttumsrede mit ihrer Gegenüberstellung der beiden in Renaissance und Reformation wurzelnden Topopathien des neunzehnten Jahrhunderts und der Forderung einer neuen Synthese von Geist und Leben den theoretisch-politischen Schlüssel nach, wie umgekehrt die Form des Frühwerks dem später formulierten Postulat Gehalt und Geltung verleiht. Vor diesem Hintergrund kann jener einleitend zitierte Typ der Hofmannsthal-Kritik nicht überzeugen, der den Dichter vor dem Essayisten retten zu müssen meint. Die »idealtypische Antithese« der Schrifttumsrede und ihre poetische Vorform gehören aufs engste zusammen. Gerade weil Hofmannsthal sich auch poetisch die Antithese von absoluter Künstlichkeit und reiner Unmittelbarkeit vorgibt, um sie in den intertextuellen Zwischenräumen eines antizipatorischen Erinnerns aufzulösen, demonstriert er, daß die von seiner nachgelieferten poetologischen Reflexion geforderte Synthese nicht ein verirrter »Vereinigungswahn« ist, wie Gerhard R. Kaiser meint. Geirrt hatte sich der späte Hofmannsthal freilich darin, daß er die »ahnende Vorwegnahme« jenes Erinnerns von Präexistenz »eine Haltung der ganzen Epoche«[94] nannte. Doch gerade weil er sich über seine Epoche getäuscht hatte, die ihr Antizipationsvermögen nicht aus Erinnerungen der Vergangenheit speiste, sondern aus deren musealer Stillstellung einerseits und ebenso geschichtsvergessenem Aktivismus andererseits, bleibt die Konstruktion der Schrifttumsrede gültig. Ihre Idee vom »geistigen Raum der Nation« steht quer zur präfaschistischen Propaganda, denn sie ist explizit »übernational«[95], nicht-topographisch bestimmt. Eine Notiz aus dem folgenden Jahr hebt dies abermals hervor:

die Nation als Geist = die Sprache. Ihr letztes Ziel: das Hervorbringen des Schönen – das ist des Maßhaften, Geordneten. [/] Das Dichterische ist immer und jedem Gegenstand gegenüber ein Durchstoßen (mit den Mitteln der Sprache) zum letzten Lebendigen – zu dem worin die Gesetze des Kosmos rein erkennbar sind: zum »Unterbewußtsein der Dinge«. [/] Vermöge der Schönheit ist das Dichterische das Repositorische des Qualitätssinnes und der ausgleichende Faktor: zwischen Religion und Welt, zwischen Tradition und Leben.[96]

 

Diese Sätze stehen in genauer Opposition zum zwanghaften, pathologischen Topographieverständnis eines Josef Nadler samt dessen »Geschlecht eines strudelnden Chaos«. Die Formen, die der »synthesesuchende Geist« bei Hofmannsthal »erringt«, sind, konträr dazu, »ins Chaos projizierte Punkte, deren Verbindungen den Grundriß jenes Geistraums ergäben«.[97] Dieser hat mit »Vereinigungswahn« nichts zu tun; er verdankt seine ausgleichende Funktion vielmehr, wie gezeigt wurde, einer intertextuellen Bewegung, die im Erinnerungsprozeß stets zwischen den Fixierungen der beiden topopathischen Extreme hindurchführt und damit für das Eingedenken des Vergangenen offen bleibt. Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Diskussionen um die Ambivalenzen von »Gedächtnistheatern«, die als mortifizierende Routineveranstaltungen[98] oder im Gegenteil als Versuche der performativen Reanimierung von totem Speicherwissen verstanden werden können[99], verdient jedenfalls die literarische Erinnerungstechnik Hofmannsthals eine differenziertere Auseinandersetzung.

 



[1] GW RA III, S. 39.

[2] Ebd., S. 40, 30, 24.

[3] Ebd., S. 34.

[4] Ebd., S 41.

[5] Josef Nadler: Goethe oder Herder? In: Hochland 22,1 (1924/25), S. 1–15, hier S. 14.

[6] Vgl. zur Verbindung der Hofmannsthalschen Verwendung des Begriffs mit der ästhetistischen Revolte der Vorkriegszeit: Hermann Rudolph: Kulturkritik und konservative Revolution: Zum kulturell-politischen Denken Hofmannsthals und seinem problemgeschichtlichen Kontext. Tübingen 1970. Zur Begriffsgeschichte allgemein: Stefan Breuer: Anatomie der Konservativen Revolution. Darmstadt 1995.

[7] Gerhard R. Kaiser: »Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation«? In: George-Jahrbuch 1 (1996/1997), S. 124–152, hier S. 146, 148 u. 149.

[8] Ebd., S. 145.

[9] Mathias Mayer: Hugo von Hofmannsthal. Stuttgart/Weimar 1993, S. 39. Hervorhebung im Zitat von Hofmannsthal.

[10] SW III Dramen 1, S. 429.

[11] GW GD I, S. 280. Im folgenden werden Zitate aus dem Stück nach dieser Ausgabe mit Seitenzahlen im Text belegt.

[12] GW RA III, S. 597–627, hier S. 600.

[13] Zum Begriff der »includierenden Situation« des konventionalisierten Gedächtnisses im Gegensatz zur »implantierenden Situation« des individuellen Erinnerns vgl. Hermann Schmitz: Leibliche und personale Kommunikation. In: Ders.: Höhlengänge. Über die gegenwärtige Aufgabe der Philosophie; Berlin 1997, S. 77–91.

[14] Vgl. SW III Dramen 1, S. 482.

[15] Vgl. ebd., S. 480f.

[16] Vgl. Manfred Hoppe: Literatentum, Magie und Mystik im Frühwerk Hugo von Hofmannsthals. Berlin/New York 1968, S. 16ff.

[17] Hermann Bahr: Sendung des Künstlers. Leipzig 1923, S. 23.

[18] Vgl. SW III Dramen 1, S. 482f.

[19] Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III. In: Werke in zwanzig Bänden. Frankfurt am Main 1995, Bd. 20, S. 39, 32 u. 33.

[20] Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Frühe Schriften. A.a.O., Bd. 1, S. 346 u. 432.

[21] Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie II. A.a.O., Bd. 19, S. 44.

[22] Vgl. Karl Pestalozzi: Sprachskepsis und Sprachmagie im Werk des jungen Hofmannsthal. Zürich 1958, S. 87.

[23] Sören Kierkegaard: Entweder /Oder. 3. Aufl. Gütersloh 1993, S. 45f.

[24] Sören Kierkegaard: Stadien auf des Lebens Weg. Band 1. 3. Aufl. Gütersloh 1991, S. 13.

[25] Friedrich Nietzsche, KSA Bd. 1, S. 243–334. Vgl. insbes. S. 248ff.

[26] Friedrich Nietzsche, KSA Bd. 5, S.245–412, hier S. 295.

[27] Richard Alewyn: Der Tod des Ästheten. In: ders.: Über Hugo von Hofmannsthal. Göttingen 1958, S. 64–77.

[28] Vgl. den Hinweis von Katharina Mommsen im Kommentar zu: Johann Gottfried Herder: Journal meiner Reise im Jahr 1769. Historisch-Kritische Ausgabe. Stuttgart 1976, S. 133f.

[29] Vgl. SW III Dramen 1, S. 484.

[30] Diese Anregung vermutet Richard Alewyn, a.a.O., S. 75f.

[31] Vgl. hierzu Hinrich C. Seeba: Kritik des ästhetischen Menschen. Hermeneutik und Moral in Hofmannsthals »Der Tor und der Tod«. Bad Homburg/Berlin/Zürich 1970, S. 167–178.

[32] Vgl. 1 Mose, 32, 23ff.

[33] Vgl. dort V. 3409f.

[34] Auf die entsprechenden Belege gehe ich weiter unten ein.

[35] SW III Dramen 1, S. 489.

[36] Vgl. SW III Dramen 1, S. 491. Der Hinweis auf Schopenhauer findet sich bei Alewyn, a.a.O., S. 76; auf die Parallele zu Goethes »Hermann und Dorothea«, 9. Gesang, V. 46ff. machte mich Ursula Renner aufmerksam, der ich noch weitere wertvolle Hinweise verdanke.

[37] Hier bezogen auf den »Jedermann«. In: Der Tag. Nr. 284, 3.12.1911. Illustrierte Zeitung. Zit. nach: Gesammelte Schriften R.1, Bd. 1. Berlin 1917.

[38] Anton Kuh: Metaphysik und Würstel. Zürich 1987, S. 279.

[39] BW Karg Bebenburg 6.9.1892.

[40] Brief vom 22.9.1920 an Felix Braun. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1968, S. 416.

[41] »Der Tod Georgs« ist zwar später erschienen, da Beer-Hofmanns Werke »dem Freundeskreis aber durch die ständigen Besprechungen längst vor dem Erscheinen bis ins Detail bekannt waren«, besteht nach Manfred Hoppe gleichwohl die Möglichkeit der Anregung, die er auch »aufs engste« realisiert sieht. Vgl. a.a.O., S. 50.

[42] Alfred Kerr: Hugo von Hofmannsthal [1900]. In: Gesammelte Schriften. Berlin 1917, R. 1, Bd. 1, S. 153.

[43] Gotthart Wunberg: Der frühe Hofmannsthal. Schizophrenie als dichterische Struktur. Stuttgart 1965, S. 103, Anm. 52.

[44] Szondi, Peter: Das lyrische Drama des Fin de siècle. Studienausgabe der Vorlesungen. Bd. 4. Hg. v. H. Beese. Frankfurt am Main 1975, S. 258.

[45] So schrieb etwa Heinrich Eduard Jacob über Hofmannsthals Jugenddrama: »Es war selbständiger – wenn auch keineswegs in der äußeren, peinlich goethisierenden Form – ». In: Die Aktion  43 (11.12.1911), Sp. 1356. Zitiert nach Wunberg, a.a.O.

[46] Rudolf Borchardt: Rede über Hofmannsthal. In: ders.: Reden. Stuttgart 1955. S. 45–103, hier S. 94.

[47] Ebd., S. 102f.

[48] Mathias Mayer: »Der Thor und der Tod« [Lexikonartikel]. In: Kindlers Neues Literatur-Lexikon, hg. v. Walter Jens. Studienausgabe München 1996, Bd. 7, S. 1017f., hier S. 1018.

[49] Vgl. Grete Schaeder: Hugo von Hofmannsthal und Goethe. Hameln 1947. – Schmid, Martin Erich: Symbol und Funktion der Musik im Werk Hugo von Hofmannsthals. Heidelberg 1968. – Manfred Hoppe: Literatentum, Magie und Mystik im Frühwerk Hugo von Hofmannsthals. Berlin/New York 1968.

[50] Vgl. neben Szondi, auf den bereits hingewiesen wurde, etwa Walter H. Perl: Das lyrische Jugendwerk Hugo von Hofmannsthals. Berlin 1936, S. 45, und Richard Alewyn, a.a.O. S. 64–77, hier S. 70f.

[51] Vgl. Pestalozzi, a.a.O., S. 92.

[52] Uwe C. Steiner: Die Zeit der Schrift. Die Krise der Schrift und die Vergänglichkeit der Gleichnisse bei Hofmannsthal und Rilke. München 1996, S. 90.

[53] So Friedrich Kittler: Aufschreibesysteme. München 1987, S. 13, auf den sich Steiner, a.a.O., Anm. 10 irrtümlich beruft.

[54] Vgl. Julia Kristeva: Die Revolution der poetischen Sprache. Frankfurt am Main 1978, S. 94-97 sowie dies.: Wort, Dialog und Roman bei Bachtin. In: Literaturwissenschaft und Linguistik III, hg. v. J. Ihwe. Frankfurt am Main 1972, S. 345–375.

[55] Renate Lachmann: Gedächtnis und Literatur. Frankfurt am Main 1990, S. 35.

[56] Ebd., S. 38ff.

[57] Ebd., S. 39.

[58] Ebd.

[59] Vgl. hierzu vom Vf.: Naturbild und Diskursgeschichte. 'Faust'-Studie zur Rekonstruktion ästhetischer Theorie; Stuttgart 1992, S. 115–255.

[60] Vgl. Wolf Lepenies: Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts. München/Wien 1976.

[61] Die zentrale Bedeutung dieses Motivs dokumentieren die Beiträge des vom Vf. hg. Bandes: Goethe und die Verzeitlichung der Natur. München 1998.

[62] »Dieser außerordentliche Mann ist mir niemals ganz fremd geworden«, schreibt Goethe am 1.2.1812 an Schlosser (WA IV 22, S. 258).

[63] Die Lektüre ist vermerkt in den »Ephemerides« von 1770. WA I 37, S. 82. Zu der bis in das Jahr 1764 zurückreichenden Bruno-Kenntnis Goethes und ihren Niederschlag in dessen Werk vgl. Werner Saenger: Goethe und Giordano Bruno. Ein Beitrag zur Geschichte der Goethischen Weltanschauung. Berlin 1930.

[64] Giordano Bruno: Über die Ursache, das Prinzip und das Eine [De la causa, principio, et uno]. Stuttgart 1986, S. 53 u. 57.

[65] Ebd., S. 20. An anderer Stelle heißt es: »Entweiche, Leben! und hindere mich nicht mehr, daß ich heimwärts strebe zu meinem Vaterhause und zu meiner Heimat, zu meiner Sonne; laß mich jetzt, daß ich nicht ferner Tränen zu vergießen und getrennt sein brauche von meinem Glück!« (K. V, S. 88).

[66] Frances A. Yates: Gedächtnis und Erinnern. Mnemonik von Aristoteles bis Shakespeare. 3. Aufl. Berlin 1994, S. 159.

[67] Ebd., S. 234.

[68] Ebd., S. 140.

[69] Ebd., S. 206.

[70] Hegel etwa schreibt: »es läuft hier in diesem Versuche zu ordnen alles aufs Unordentlichste durcheinander« [Vorlesungen, a.a.O., S. 39].

[71] Yates, a.a.O., S. 205.

[72] Bruno, Giordano: Opere latine, hg. v. F. Fiorentino u.a.. Neapel/Florenz 1879–91, II (i), S. 78.

[73] Yates, a.a.O., S. 266f. – Vgl. den Passus in»De la causa«: »Weil also die göttliche Substanz unendlich ist und sich überaus weit entfernt von ihren Wirkungen hält, welche die äußerste Grenze unseres Erkenntnisvermögens darstellen, so können wir unmittelbar von ihr gar nichts wissen, sondern nur ihre 'Spur' erkennen, wie die Platoniker sagen, ihre 'entfernte Wirkung' – in den Worten der Peripatetiker, ihre 'Hülle' – im sinne der Kabbalisten, ihre 'Rückansicht' – nach der Lehre der Talmudisten oder – mit den Apokalyptikern zu reden – nur ihr 'Spiegelbild', ihren 'Schattenriß', ihre Verschlüsselung im 'Rätsel'« [A.a.O., S. 53].

[74] Erich Trunz: Anmerkungen des Herausgebers zu Goethes 'Faust'. In: HA 3, S. 461–647, hier S. 498.

[75] Diese Linie betont – unabhängig von der vorliegenden Studie und mit etwas anderer Interpretationstendenz – auch Thomas Wägenbaur: Memory and Recollection: The Cognitive and Literary Model. In: ders. (Hg.): The Poetics of Memory; Tübingen 1998, S. 3–22, hier S. 14ff.

[76] Der »Index Nominum« verzeichnet ohnehin nur einen Eintrag zu Bruno, und zwar aus den »Aufzeichnungen«.

[77] Elisabeth von Samsonow: Das Konzept eines ontologischen Modells auf der Basis einer neuen Grammatik: Die Welt als göttlicher Körper in Giordano Bruno. In: MOMUS V-VI (1996), S. 145–152, hier S. 150.

[78] Elisabeth von Samsonow: Mnemotechnik auf weiblichem Körper. Petrus v. Ravennas Gedächtniskunst. Ts. Wien 1996, S. 5.

[79] Elisabeth von Samsonow: Zeit bei Giordano Bruno oder die Einverleibung der Welt im Gedächtnis; Ts. Wien 1996, S. 3, Anm. 9.

[80] Giordano Bruno: Über die Monas, die Zahl und die Figur, hg. v. Elisabeth v. Samsonow; Hamburg 1991, S. 19.

[81] Und zwar möglicherweise nicht erst durch seinen späteren Übersetzungsversuch, sondern bereits in Frankfurt, wo das Werk in der Städtischen Bibliothek zugänglich war. Vgl. Saenger, a.a.O., S. 40.

[82] S. Anm. 65.

[83] Er nennt Sprachskepsis und Sprachmagie die »verschwisterten Pole« in Hofmannstahls Werk. A.a.O., S. 126.

[84] GW RA I, S. 192.

[85] S. oben Anm. 20. Schon Hegel betont, daß »in dem Bilde der Erinnerung alle diese Zufälligkeiten verlöscht sind« [Werke, a.a.O., Bd. 13, S. 249].

[86] Friedrich Nietzsche, KSA Bd. 11, S. 159.

[87] Mit Bezug auf Goethe habe ich dies herausgearbeitet in dem Aufsatz: Goethes Lebens-Erinnerungen. In: Hans Werner Ingensiep / Richard Hoppe-Sailer (Hg.): NaturStücke. Zur Kulturgeschichte der Natur. Ostfildern 1996, S. 135–167.

[88] Vgl. Ortwin Kuhn: Mythos, Neuplatonismus, Mystik: Studien zur Gestaltung des Alkestisstoffes bei Hugo von Hofmannsthal, T.S. Eliot und Thornton Wilder. München 1972.

[89] GW RA III, S. 601.

[90] Ebd., S. 609.

[91] Werner Metzeler: Ursprung und Krise von Hofmannsthals Mystik. München 1956, S. 58. Die Feststellung spielt an auf eine Notiz in »Ad me ipsum«, die mit der zuvor zitierten in Verbindung steht: »Zustand dieser Jugend [/] antizipierter Weltbesitz« [a.a.O., S. 609].

[92] De la Causa,a.a.O., S. 23.

[93] GW E, S. 33.

[94] GW RA III, S. 609.

[95] Ebd., S. 632.

[96] Ebd., S. 592.

[97] Ebd., S. 40.

[98] Michal Y. Bodemann: Gedächtnistheater. Die jüdische Gemeinschaft und ihre deutsche Erfindung. Hamburg 1996.

[99] Vgl. vom Vf.: Computer als Gedächtnistheater. In: Darsow, Götz-Lothar (Hg.): Metamorphosen. Gedächtnismedien im Computerzeitalter; Stuttgart-Bad Cannstatt 1999, S. 81–99.