Peter Matussek

Zwischen den Kulturen.

Das Problem der Faust-Verortung

 


Erschienen in: Rainis un G'ete: "Fausta" tulkojuma simtgade. / Rainis und Goethe: Zum hundertjährigen Jubiläum der Faustübersetzung; Nordik 1999, S. 53-65.

 

     
 

Das schöne Wort "Weltliteratur" verdanken wir zwar nicht Goethe, wie immer wieder behauptet wird, sondern Wieland. Goethe aber verdanken wir einen Begriff von Weltliteratur, der sich nicht auf den Kanon ihrer Meisterwerke beschränkt, wie es sowohl bei Wieland als auch im heutigen Sprachgebrauch konnotiert wird. Seine Verwendung des Begriffs umfaßt alles, was durch die Beschleunigung von Handel und Verkehr an Gedrucktem grenzüberschreitend Verbreitung findet. Dazu gehört sowohl die mit der Internationalisierung der Märkte unvermeidlich ausufernde Massenware als auch das Pretiose; die "englische Springflut" genauso wie der chinesische Sittenroman des Yü-chiao-li. Das entscheidende Definitionskriterium für Goethes Begriff der Weltliteratur ist die weltweite Rezipierbarkeit. Und was das Bedeutende vom Unbedeutenden unterscheidet, ist dennoch von denselben kommunikativen Voraussetzungen abhängig. Goethe betont:

Wenn nun aber eine solche Weltliteratur, wie bei der sich vermehrenden Schnelligkeit des Verkehrs unausbleiblich ist, sich nächstens bildet, so dürfen wir nur nicht mehr und nichts anderes von ihr erwarten als was sie leisten kann und leistet […]; was der Menge zusagt, wird sich grenzenlos ausbreiten und, wie wir jetzt sehen, sich in allen Gegenden empfehlen; dieses wird aber dem Ernsten und eigentlich Tüchtigen weniger gelingen; diejenigen aber, die sich dem Höheren und dem höher Fruchtbaren gewidmet haben, werden sich geschwinder und näher kennenlernen. (WA I, 42.2, 502f.)

 

In diesem qualitativen Sinn, der vom quantiativen nicht ablösbar ist, verdanken wir Goethe nicht nur den Begriff, sondern auch hervorragende Beispiele von Weltliteratur. Und mehr als die Wanderjahre, die schon thematisch auf ein nomadisches Weltbürgertum Bezug nehmen, das sich dem "höher Fruchtbaren" widmet – weit mehr als die Wanderjahre ist der Faust dasjenige Werk Goethes, das in die meisten Sprachen übersetzt wurde und außerhalb Deutschlands die nachhaltigste Wirkung gefunden hat.

Eigentlich muß man sich darüber wundern. Ist denn nicht gerade der Faust  ein viel zu spezifisch deutsches Drama, um polyglott zu wirken? Zumindest ist er doch derart durchdrungen von der kulturellen Atmosphäre des nordischen "Nebelwesens", daß es selbst seinem Autor, solange er sich im heiteren Süden aufhielt, nicht gelingen wollte, sich in ihn hineinzuversetzen. Der italienische Faust blieb unvollendet. Zwar vermochte Goethe in Rom die Hexenküche zu schreiben – aber diese Szene fällt ja auch insofern aus dem Rahmen, als hier ein steifer deutscher Doktor zum juvenilen Latin Lover verjüngt wird.

Im übrigen steckt ihm vor wie nach der "Doktor noch im Leib". Vom Lateinischen, der internationalen Gelehrtensprache seiner Zeit, hat er gar nichts in seinem Wesen. Fausts Sprache ist Hans-Sachsisch derb, sein Temperament nordisch-depressiv – durchsetzt von manischen Ausbrüchen aus der Enge seines gotischen Zimmers, die ihn schließlich auch einmal, am Ostertag, sich unters Volk mischen lassen, ein deutsches Biedervolk, das sich in ignorantem Behagen sonnt, "Wenn hinten, weit, in der Türkei, / Die Völker auf einander schlagen" (V.862f.). Teutonisch-plump ist auch seine Verführungskunst; er überrumpelt das arme Gretchen wie ein Sextourist mit üppigen Goldgeschenken, bis sie vor Demütigung und Scham willenlos dahinsinkt. Und als er dann doch einmal zart empfindet, wird er gleich tief romantisch – er zieht sich nach dem ersten Kuß in die Einsamkeit von Wald und Höhle zurück – ein in Deutschland gefährliches Refugium, da es von allen möglichen Geistern bewohnt wird, die ihn schließlich auch zur Walpurgisnacht auf den Brocken locken, zu sehr germanischen Riten.

Beim Faust II ist das spezifisch deutsche Element zwar deutlich abgeschwächt. Hier, in der großen, objektiven Welt, die Goethe dezidiert von der kleinen, subjektiven des ersten Teils abgehoben hat, öffnet sich der Horizont zu transkulturellen Geistesverwandtschaften – selbst beim deutschen Teufel, der "Vom Harz bis Hellas immer Vettern!" (7740ff.) findet.

Aber auch wenn der dramatische Horizont hier wesentlich weiter reicht, ist die weltweite Aufnahme des Dramas nicht durch das Weniger an Lokalkolorit im zweiten Teil zu erklären, denn es ist der erste Teil, der die größte internationale Verbreitung gefunden hat.

Anscheinend haben wir es hier mit einer Paradoxie zu tun: Der Faust  ist ein Drama, das als urdeutsch gilt, ja über den immer wieder zu lesen war und ist, daß es "die Seele des deutschen Menschen überhaupt" offenbare.[1]Andererseits hat der Faust ganz offenkundig auch eine starke Anziehungskraft für Seelen ohne deutschen Paß. So erinnere ich mich noch gut über meine Verwunderung, als mir auf einer Bahnfahrt in England ein japanischer Student den Eingangsmonolog des Faust in seiner Landessprache rezitierte und mir versicherte, es gebe keine Dichtung, in die er sich so sehr hineinversetzen könne, wie dieses Werk – ausdrücklich auch wegen der Schönheit der Sprache. Daß wir, beide im Ausland, ausgerechnet über eine gemeinsame Liebe zum Faust ins Gespräch kamen, war bemerkenswert genug; daß aber für ihn der völlig andere Klang der Sprache und der völlig andere kulturgeschichtliche Hintergrund eine so identifikatorische Aufnahme bewirken konnte, hat mich völlig verblüfft. Wie ist so etwas möglich? Ist es überhaupt möglich?

Dies zu bestreiten hieße, in jenes bornierte Ressentiment zu fallen, das unter dem von Oswald Spengler in Umlauf gebrachten Markenzeichen des "faustischen Menschen" die deutsche Rezeptionsgeschichte nachhaltig geprägt hat. Es geht bereits auf die Anfänge des deutschen Kaiserreichs zurück, als man militärisch wie ideologisch alle Anstrenungen unternahm, eine Weltmacht zu werden. Faust wurde bei diesem ehrgeizigen Projekt zur wichtigsten Ikone imperialistischer Abgrenzung und kultureller Überlegenheit instrumentalisiert.

Repräsentativ für die gründerzeitliche Rekrutierung des Dramas als Waffe im ideologischen Wettrüsten ist Hermann Grimms Feststellung:

"Dadurch, daß wir Faust und Gretchen besitzen, stehen die Deutschen in der Dichtkunst aller Zeiten und Nationen an erster Stelle."[2]

 

Dieses Denkmodell in Kategorien olympischer Wettbewerbe und Weltmeisterschaften verbaut sich von vornherein die Erklärung für die unabweisbare Tatsache, daß der Faust zum geistigen Besitz eben nicht nur der Deutschen, sondern der unterschiedlichsten Kulturen in aller Welt werden konnte. Einwände gegen diese Inanspruchnahme Goethes für das nationalistische Abgrenzungsmodell blieben dennoch lange Zeit chancenlos. Vergeblich wies etwa Nietzsche darauf hin, daß Goethe "kein deutsches, sondern ein europäisches Ereignis" sei. Auch Nietzsches Zarathustra fand ja seinen verkehrten Ort im Tornister des deutschen Wehrmachtssoldaten, gleich neben Goethes Faust, der freilich ganz besonders benutzt wurde: Das geistige Sturmgepäck sollte die Kampfmoral stärken. So heißt es in einem Bericht aus dem Ersten Weltkrieg, den der Schriftsteller Rudolf Wustmann im Auftrag der Goethegesellschaft verfaßt hat:

„In manchen Schützengraben kehrte Faust mit ein, und … bei Fausts Selbst­gesprächen dachten wir unserer Feinde: ‚So etwas habt ihr doch nicht.‘“[3]

 

Wie die reiche internationale Rezeptionsgeschichte dokumentiert, haben die Ausgegrenzten ihren Faust besser verstanden als jene, die das Werk für nationalistisches Kraftfutter hielten. Deren Irrtum liegt aber weniger darin, daß der Faust als "deutsches" Drama wahrgenommen wird. Zwar behandelt es Konflikte, die letztlich in die leib-seelische Doppelnatur jedes Menschen hinabreichen, doch es behandelt sie in enger Anlehnung an eine deutsche Mentalität, eine landestypische Befindlichkeit.

Eben diese Dialektik ist es, die es zu verstehen gilt, wenn man darüber nachsinnt, warum gerade der so deutlich lokalisierte Faust eine weltweite Wirkung haben konnte.

Die Koinzidenz von kultureller Verortung und Interkulturalität entspricht durchaus dem Goetheschen Begriff von Weltliteratur. Weltliteratur ist ihm zufolge dasjenige, was in der kulturellen Besonderung an menschlich Allgemeinem zum Ausdruck kommt, was im eigenen Tonfall die Stimme der anthropologischen Natur schlechthin vernehmbar macht.

Es ist eine Denkfigur, die Goethe nicht erst in späten Jahren entwickelt hat, sondern die ihm bereits früh vertraut war. Und zwar maßgeblich durch die Vermittlung Herders, der aus dieser Stadt, aus Riga, nach Straßburg gekommen war, wo er mit Goethe zusammentraf. Man wird also villeicht sagen können, daß es eine Rigaer Denkfigur ist, die Goethes Konzept von Weltliteratur ursprünglich, avant la lettre  geprägt hat. In seiner Zeit als Prediger an diesem Ort entwickelte Herder seine Vorstellungen Über die neuere deutsche Literatur. Darin betont er, daß jedes Volk, seine spezifische Dichtung hat, abhängig von der jeweiligen "Muttersprache". Und gerade diese Spezifik sei es, die als genuiner Ausdruck der eigenen Natur die Beziehung zur allgemeinen Menschennatur herstelle. Die Naturlaute, wie sie dann die Straßburger Sprachschrift Herders charakterisiert, werden als Genietöne erst vernehmbar in der vergleichenden Reflexion auf die verschiedenen Stimmen der Völker:

Goethes Konzept der Weltliteratur hat hier seinen Ursprung. Und auch die spätere Ausdehnung des weltliterarischen Horizonts auf eine ostwestliche Begegnung, wie sie insbesondere seit der Divan-Zeit zur Geltung kommt, geht durchaus auf Herderische Vorarbeiten zurück. Herder war der erste, der orientalische Dichtungen nicht als Exotismen behandelte, sondern als "Dokumente der Humanität, die in allen Völkern und Kulturen sich ausgestaltet … jeweils verschieden und doch im rein Menschlichen übereinstimmend" (HA II, 719).

Die darin implizierte Dialektik macht Goethe in seiner Übersetzungstheorie aus den Noten und Abhandlungen zum besseren Verständnis des Divan explizit: Je deutlicher die Differenzen zwischen der eigenen und der fremden Kultur zum Tragen kommen, je offener das Verhältnis zwischen Originalsprache und Fremdsprache, desto intensiver ist der Eindruck ihrer Begegnung, desto näher kommen sich beide.

Wenn es also in Goethes Konzept der Weltliteratur diese Koinzidenz gibt zwischen der Erkennbarkeit des konkreten Lokalkolorits und der Weite der allgemeinmenschlichen Bedeutung, so wäre die weltweite Wirkung des Faust gerade durch seine kulturelle Spezifikation zu erklären, die in der Besonderung das Allgemeine zum Ausdruck bringt.

In der Tat glaube ich, daß hierin ein Schlüssel zum Verständnis der Faustwirkung besteht. Dabei muß freilich geklärt werden: Worin besteht das Kulturspezifische, worin das Transkulturelle? Die nationalchauvinistische deutsche Propaganda hat das Kulturspezifische zum Transkulturellen aufgebläht; sie hat sich aus dem Stück einen "faustischen Menschen" herauskonstruiert, der die Eigenschaften, die Goethe als zutiefst fragwürdig am deutschen Charakter zeichnet, von allen problematischen Zügen bereinigt und zu einem zwanghaft positiven Heroen aufgeblasen, der den nationalen Größenphantasien zum Vorbild gemacht wurde. Auf die Absurdität dieses "perfektibilistischen" Rezeptionsschemas ist mittlerweile oft genug hingewiesen worden.[4]Die Tatsache, daß Faust nicht die pathetische Bestätigung, sondern die Pathographie jenes nationalen Größenwahns ist, wurde immer wieder hervorghoben. Was hingegen vor dem Hintergrund der heutigen Interkulturalitätsdiskussion verstärkte Beachtung verdient, ist ein Allgemeines, das vom Drama in der deutschen Besonderung behandelt wird: nämlich, daß Goethes Faust nicht nur den "faustischen" Perfektibilismus diskreditiert, sondern zugleich auch in wiederholten Spiegelungen demonstriert, warum ein Kulturmodell, das jenem Deutungsmuster folgt, das also Identität durch Verdrängung bis hin zur Vernichtung des anderem zu behaupten sucht, scheitern muß, sich letztlich sein eigenes Grab schaufelt. Goethes Faust bringt nicht nur anhand der eigenen Kultur eine grundsätzliche Problematik zum Ausdruck, sondern er macht die Dialektik von Selbstheit und Fremdheit, Identität und Alterität selbstreflexiv zum Thema. Kurz: Er ist nicht nur der Form seines dramatischen Konflikts nach, sondern auch als Forum der Reflexion dieses Konflikts ein interkulturelles Drama.

In der verbleibenden Zeit will ich das an einigen ausgewählten Szenen verdeutlichen, in denen die Dialektik von Selbsterfahrung und Fremderfahrung in unterschiedlichen Konstellationen durchgespielt wird.

 

 

Urfaust

 

Die Anregungen seines von Riga nach Straßburg gekommenen Mentors aufgreifend, konzipiert Goethe seine ersten Faust-Szenen im Sinne der von Herder postulierten "neuen Mythologie": Insbesondere die Erdgeistbeschwörung (V.454–517) läßt erkennen, wie Goethe hier einen "heuristischen" Gebrauch des alten, aus der magischen und alchemistischen Tradition herrührenden Bildmaterials macht, um einen modernen Gehalt, die neue Magie der poetischen Sprache zu inszenieren. Dabei kommen verschiedenste kulturelle Einflüsse zusammen. Die Beglaubigung der von Faust angerufenen "Kräfte" vollzieht sich durch ein Erhabenheitsvokabular (Trunkenheit, Stürme, Schiffbruch), das seine Vorbilder in der nordischen Dichtung und Poetik hat. Fausts leidenschaftliche "Glut" und die von ihr herbeigerufene "Flammengestalt" des Erdgeistes entsprechen Herders Lehre vom pindarischen "Odenfeuer", das die traditionelle Funktion des Alchemistenherdes übernimmt. Die pindarische Ode zeichnet sich gegenüber der anakreontischen dadurch aus, daß sie die äußeren Regularitäten der Sprache abstreift. Eben das vollzieht sich nun auch in der Beschwörungsrede Fausts: Der Reim löst sich auf, das Metrum wird unregelmäßig, die Sätze elliptisch. Dieses dithyrambische Sprechen, das nicht mehr der narrativen Logik der Beschreibung, sondern der parataktischen Logik des Gefühlsausdrucks folgt, repräsentiert eine Rückkehr zur Ursprache im Sinne Herders. Mit ihren Ausrufen und Interjektionen realisiert es die Forderung der Sprachschrift: "Ton der Empfindung soll das sympathetische Geschöpf in denselben Ton versetzen!"[5]

Tatsächlich erscheint daraufhin der Erdgeist, "angesogen", wie es heißt, durch "der Seele Ruf", der das optisch orientierte Nachahmungsprinzip der Aufklärung durch eine akustisch-performative „Nachahmung der tönenden, handelnden, sich regenden Natur“[6] ersetzt hat.

Doch wie wir wissen, wird die Erdgeistbeschwörung im Moment ihres Gelingens scheitern. Warum ist das so?

Wir haben es hier mit einem Identifikationstyp zu tun, der ganz auf dem Gefühl der Gleichheit beruht. Fausts Mimesis an den Erdgeist ist so perfekt, daß ihr Erfahrungsgehalt in völliger Indifferenz verschwindet. Das offenbart ihre vernichtende Gewalt. "Ich fühle ganz mein Herz dir hingegeben" sagt Faust in absolut heteropathischer Geste, die aber ob ihrer Absolutheit ins Gegenteil, die Überwältigung des anderen, umschlägt, wie der nächste Vers deutlich macht: "Du mußt, du mußt, und kostet es mein Leben". Die unmittelbare Identifikation erweist sich als abstrakt, die totale Mimesis als reine Konstruktion. Dieser Umschlag von absoluter Nähe in absolute Fremdheit kommt auch prosodisch deutlich zum Ausdruck. So achte man in der folgenden Rede und Gegenrede besonders auf die starke klangliche Übereinstimmung, mit der die Differenz ausgesagt wird:

Faust. Der du die weite Welt umschweifst,
Geschäftiger Geist, wie nah fühl' ich mich dir!

Geist. Du gleichst dem Geist, den du begreifst,
Nicht mir!

 

Der Erdgeist nimmt in Rhythmus, Reim und Assonanz das Identifikationsbegehren Fausts völlig auf und spiegelt es als Echo zurück. Konfrontiert mit der eigenen Klangkopie, erfährt Faust, daß sein Anspruch auf absolute Gleichheit mit dem anderen auf reine Selbstbezüglichkeit hinausläuft. Dies treibt ihn in dieselbe Art von Verzweiflung, die schon in Ovids Mythos von Narziß und der Nymphe Echo beschrieben wird.

Die narzißtische Grundstruktur der Gelehrtentragödie spiegelt sich auch in Fausts Verhältnis zu Margarete. Es folgt dem Mechanismus, den Goethe am Erdgeistbeschwörer diagnostizierte, nämlich daß der unduldsame, unmittelbare Zugriff auf das andere dieses in seiner Andersheit negiert und damit zugleich um das Intendierte bringt. "Hör, du mußt mir diese Dirne schaffen!", fordert Faust von Mephisto, Margarete auf einen Konsumartikel reduzierend, den er sich durch den überrumpelnden Einsatz von Gold und Rhetorik gefügig macht. Liebe kann von vornherein daraus nicht werden; Faust bleibt hier – analog zur Erdgeistbeschörung – verstrickt in die Dialektik von völliger Vereinnahmung und Vernichtung des anderen.

Das hat viel mit der Genieproblematik zu tun. Denn auch das Genie kann seine Unbedingtheit letztlich nur im Scheitern erweisen, da jede bedingte Erfüllung den eigenen Anspruch auf Absolutheit falsifizieren würde.

 

 

Faust-Fragment

 

Ein reiferes Modell des Umgangs mit dem anderen kommt durch die Szene hinein, die unter dem Eindruck der Erfahrungen des ersten Weimarer Jahrzehnts entstand. Faust zieht sich in die Einsamkeit von Wald und Höhle zurück – wie auch Goethe es in jener Zeit der starken äußeren Beanspruchung immer wieder tat – und hat nun eine zweite Begegnung mit dem Erdgeist, die völlig anders geartet ist. Was damals – auf der Grundlage des Naturbildes der Geniebewegung – unerfüllt geblieben war, das ist Faust nun vergönnt: Er bedankt sich dafür, daß er "die herrliche Natur zum Königreich" erhalten habe und die "Kraft, sie zu fühlen, zu genießen." Der Begriff des "Reiches" wird hier metonymisch gebraucht – und zwar in den Bedeutungsverschiebungen, die auch für den Faust-Autor seinerzeit bestimmend waren: Zum einen bezeichnet er das politische Reich, an dem Goethe in jener Phase intensiven Anteil nahm – mit einer Position, die ich als "Kleinmachtpolitik" bezeichnen möchte. Zum zweiten spielt der Begriff auf die "Reiche" der Natur an, die Goethe – nicht zuletzt veranlaßt durch seine administrativen Tätigkeiten – nun erst genauer kennenlernte. Und drittens schwingt in der Danksagung, diese Reiche als "Gabe" bekommen zu haben, etwas vom emotionalen Reichtum ästhetischer Naturerfahrung mit.

Woher kommt nun die Fülle, die der frühere Drang nach dem Absoluten nicht zu geben vermochte?

Faust begegnet dem anderen nicht mehr mit dem Anspruch absoluter Gleichheit, sondern als Dialogpartner, der die Differenz anerkennt und sich zu ihr in ein Verhältnis bringt. (Auch hier fühlt man sich an Nietzsche erinnert und dessen "Pathos der Distanz".) Er behauptet nicht, alles schon in sich zu fühlen, sondern läßt sich die Natur in einzelnen Erscheinungen zeigen und ist offen für den schrittweisen Prozeß der Erweiterung seiner Erfahrungen:

Du führst die Reihe der Lebendigen
Vor mir vorbei, und lehrst mich meine Brüder
Im stillen Busch, in Luft und Wasser kennen. (V. 3221–28)

 

Die "Reihe der Lebendigen" ist eine Reminiszenz an das alte neuplatonische Motiv der "Kette der Wesen"; es erinnert zugleich an die Herderische Formel "Kette der Generationen", die von Goethe nun auf die Natur übertragen wird, und zum schwärmerischen Naturbild der Geniezeit ebenso ein Gegenmodell bildet, wie zur statischen Taxonomie Linnés.

Es handelt sich um einen sympathetischen Bezug, der weder sich dem anderen gleichmacht, noch das andere sich – was ja auf dasselbe hinausliefe –, sondern zur Selbsterfahrung in der Fremderfahrung findet: Du "Zeigst / Mich dann mir selbst", sagt Faust zum Erdgeist, "und meiner eignen Brust / Geheime tiefe Wunder öffnen sich." (V. 3232ff.)

Doch auch dieses Modell der Verhältnisbestimmung von Identität und Alterität ist nicht unproblematisch, wie der Umschlag des Monologs nach seiner Zäsur zeigt: Die Kontemplation der Natur vermag zwar ein gewaltfreies Miteinander des Verschiedenen zu begründen, aber nur in der Vorstellung, nicht in der Praxis. Der Bedarf an leibhaftiger Erfahrung bleibt unerfüllt, wie es gerade die kontemplative Haltung bewußt werden läßt: Im vergeistigten "Genuß" meldet sich die physische "Begierde" wieder. Das gilt für Faust, der nun in Gretchens Kammer eilt, ebenso wie für Goethe, dem das platonische Liebesverhältnis zu Charlotte von Stein zwar eine zeitlang kompensatorischen Halt für die starke äußere Beanspruchung  zu geben vermochte, ihn letztlich aber in seinen kreativen Möglichkeiten versiegen ließ. Die Konsequenz ist bekanntlich, daß Goethe, der sich in den Amtsgeschäften zu verlieren, sich fremd zu werden drohte, nach Italien, in die Fremde geht, um sich zu finden.

 

 

Faust I

 

Dort, in Italien, schließlich als Künstler "wiedergeboren", faßt Goethe das Verhältnis von Subjekt und Objekt nicht mehr nur kontemplativ, sondern im weiteren Sinne ästhetisch, also auch taktil wahrnehmend. Das führt zu einem Vermittlungstyp, der auch in den Faustszenen der hochklassischen Phase seinen Niederschlag findet. Als Beispiel sei nur Fausts Osterspaziergang erwähnt. Er entwirft ein Bild der Harmonie von Mensch und Natur auf der Grundlage paralleler Polaritäten (Winter und Frühling, städtische Enge und ländliches Erholungsgebiet), die sich zu einem gemeinsamen Prozeß von "Bildung und Streben" steigern. Freilich läßt diese Parallelisierung zugleich deutlich werden, daß der feiertägliche Aufbruch des Volks aus seinen beengten Lebensverhältnissen ebenso ephemer ist, wie "Strom und Bäche" auch nur für eine Saison im wiederkehrenden Zyklus der Jahreszeiten "befreit" sind. Wie am Allgemeinheitsgrad und der Konventionalität der Sprache deutlich wird, handelt es sich um Bedeutungszuweisung, die buchstäblich "von oben" kommt: Faust steht auf einem Hügel und nimmt nicht die einzelnen Menschen und Naturphänomene wahr, sondern nur Farben und Formen, die erst aus der Distanz so weit verschmelzen, daß sie pars pro toto gegenseitig Stellverterfunktion einnehmen können. Nur ob dieser Abstraktion ist es zum Beispiel möglich, daß Faust über die Frühlingsnatur sagt: "Doch an Blumen fehlts im Revier / sie nimmt geputzte Menschen dafür."

Die Harmonie zwischen Mensch und Natur – aber auch Fausts zum Volk, die er daraus ja ableitet, wenn er am Ende sagt: "Hier bin ich Mensch, hier darf ich's sein" – diese Harmonie zwischen dem Selbst und dem Anderen, ist also erkauft durch den Oktroi einer Sinnsetzung. Eine Interpretation der Szene hätte ihren Reiz heute auch darin, daß sie sich zur Problematisierung jener gutgemeinten Kultursynthesen eignet, wie sie etwa in den Begriffen "Weltmusik" und "Weltsprache", manchmal auch in dem der "Weltliteratur" mitschwingt, und die sich bisweilen als zu einfache Standardlösung für interkulturelle Konflikte erweisen.

 

 

Faust II

 

Eine neue Behutsamkeit und Zurückhaltung im Anspruch auf das Verstehen des anderen, die berühmte "Resignation in die Sinne", die Goethes Urphänomen kennzeichnet – bis hin zum Respekt vor dem Unauflöslichen und Numinosen –, äußert sich im Beginn des zweiten Teils. Ich lasse hier die heikle Frage beiseite, warum Faust die im ersten Teil auf sich geladene Schuld durch einen Vergessensschlaf los werden kann. Immerhin lassen doch die Worte, die er beim Erwachen spricht, zunächst vermuten, daß er tatsächlich aus früheren Fehlern gelernt hat bzw. im Moment des Erwachens einen Gesinnungswandel vollzieht:

Anfangs klingt er zwar unverbesserlich: Kaum "schlagen" ihm des "Lebens Pulse … frisch lebendig", faßt er in der mit ihm erwachenden Natur ein perfektibilistisches "Beschließen, / Zum höchsten Dasein immerfort zu streben" (V. 4679 ff.). Die Sonne geht auf – Symbol dieses soeben erneuerten Entschlusses, nach dem Absoluten zu greifen –, doch ihr Licht ist für den unmittelbaren Anblick zu hell. Faust muß ihr den Rücken zuwenden, und sieht nun einen, durch Lichtbrechung in der Abstrahlung eines Wasserfalls hervorgerufenen Regenbogen. "Der", erkennt er nun, "spiegelt ab das menschliche Bestreben. / Ihm sinne nach, und du begreifst genauer: / Am farbigen Abglanz haben wir das Leben." (V.4725ff.)

Der Perspektivenwechsel von der unmittelbaren zur vermittelten Verhältnisbestimmung zwischen Ich und Welt, Eigenem und Anderem, wird im weiteren Verlauf des Dramas vielfältig gespiegelt.

Ich erwähne nur die beiden Formen der Annäherung an Helena. Die erste ist buchstäbliches "Dilettantentheater": Faust will die antike Schönheit unmittelbar ergreifen; – in dem Moment gibt es eine Explosion, das Subjekt liegt ohnmächtig am Boden, sein Objekt ist verpufft.

Doch so wie Faust sich im Eingangsmonolog vom unmittelbaren, blendenden Anblick der Sonne abwendet, um im Farbenspiel ihre Wirkung zu erfahren, so kommt es dann doch noch zur Verbindung mit Helena, da Faust sie nunmehr als mythologischen Abglanz anerkennt und über verschiedene Vermittlungsstufen in der Klassischen Walpurgisnacht aufsucht. Als mittelalterlich-nordischer Burgherr kann er sich schließlich mit ihr vermählen. Dabei reißt er sie nicht wie zuvor gewaltsam in seine Sphäre hinüber, sondern umwirbt sie – die als antik-südliches Wesen respektiert wird – im Sprachspiel: Helena, in klassischen Pentametern sprechend, wundert sich über die Gleichklänge in Fausts Rede. Er gibt ihr daraufhin praktischen Unterricht im Reimen, nimmt dabei aber umgekehrt auch ihre Sprechhaltung auf, so daß sich ein gemeinsames Drittes ergibt, in dem beider Eigenanteile gleichwohl erkennbar bleiben.

Helena: So sage denn, wie sprech' ich auch so schön?

Faust: Das ist gar leicht, es muß von Herzen gehn.

Und wenn die Brust von Sehnsucht überfließt,

Man sieht sich um und fragt –

Helena:                                                      wer mitgenießt. (V.9377ff.)


Der Kontrast zwischen dem unmittelbaren Zugriff auf das Andere und der Bescheidung auf den Abglanz und das Gleichnishafte wird abermals gespiegelt im fünften Akt. Hier finden wir die erste Position in Fausts Verhalten als Kolonisator, die Gegenposition in der Haltung liebender Hingabe, wie sie die darauffolgende Szene Bergschluchten mit den Schlußversen des Chorus Mysticus  zum Ausdruck bringt.

Beide Szenen sind so oft interpretiert worden, daß ich dem nichts weiter hinzufügen will. Ich möchte abschließend lediglich auf eine Interpretationsperspektive hinweisen, die heute meines Erachtens besondere Beachtung verdient: Faust II ist ein allegorisches Drama; und das heißt eben auch, daß es bei der Landgewinnungsszene nicht nur um die destruktiven und letztlich selbstmörderischen Effekte naturbeherrschender Technik geht. Das Bild vom blinden Visionär Faust sagt uns nicht nur etwas über den rücksichtslosen Umgang mit der Natur, sondern es ist auch die Allegorie der Großmacht, die den kleinen Lebensraum von Philemon und Baucis nicht ertragen kann, weil er das Prinzip ihrer Planwirtschaft in Frage stellt. Die Hütte der beiden muß weg, weil ihre bloße Existenz den Gedanken irritiert, daß ein "paradiesisch Land" nur dann geschaffen werden kann, wenn alle Beteiligten gleichgeschaltet sind:

 

"Daß sich das größte Werk vollende,

Genügt ein Geist für tausend Hände" (V. 11509f.)

 

– so lautet die Maxime Fausts, und sie besiegelt bekanntlich seinen eigenen Untergang.

Die Schlußszene kontrastiert dieses Bild des totalitären Umgangs mit dem anderen, Fremden, Heterogenen, das durch ideelle wie materielle Barrieren und "Deiche" als Bedrohung ausgegrenzt wird, mit dem Motiv der hingebenden Liebe. Wie in ihrem Namen die Sünden und Wunden von Faust und Margarete, dem Eroberer und der Überwältigten, verziehen und geheilt werden können, das bleibt letztlich rätselhaft, ein Mysterium. Was aber die Perspektive ist, auf die hin es zu lösen wäre, das hat Goethe stets klar zu formulieren gewußt:

"Die höchste Kultur" schrieb er in einer Reflexion zur Wetlliteratur, "erwiese sich wohl darin: daß alles Würdige, dem Menschen eigentlich Werte, in verschiedenen Formen nebeneinander müßte bestehen können und daß daher verschiedene Denkweisen, ohne sich verdrängen zu wollen, in einer und derselben Region ruhig nebeneinander fortwandelten." (LA I.8, S. 285)

 



[1]Faust. Mit Einführung und Vorbemerkungen herausgegeben von J. M. Metzger. In: Goethe: Ausgewählte Werke, Neunter und Zehnter Band; Hamburg 1928, S. 5.

[2]Zit. nach Mandelkow, Karl Robert: Goethe in Deutschland. Rezeptionsgeschichte eines Klassikers. Band I: 1773–1918; München 1980, S. 246.

[3]Wustmann, Rudolf: Weimar und Deutschland 1815–1915. Im Auftrag der Goethe-Gesellschaft verfaßt; Weimar 1915, S. 386–389, hier S. 386.

[4]Vgl. Mandelkow (Anm. 2).

[5]Herder, Johann Gottfried: Abhandlung über den Ursprung der Sprache; Stuttgart 1985, S. 16.

[6]Ebd., S. 50.