Peter Matussek

Hypomnemata und Hypermedia.

Erinnerung im Medienwechsel: die platonische Dialogtechnik und ihre digitalen Amplifikationen

 


Erschienen in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Sonderheft 1998: "Medien des Gedächtnisses", S. 264–278.

 




"Matussek zeigt am Beispiel von Platons Phaidros-Dialog – gemeinhin als Kritik an der Schrift aufgefaßt – wie ein Rezipient aus der Konfrontation verschiedener Textstellen neue Bedeutungen entwickeln kann."
Frankfurter Allgemeine Zeitung

     
 

Abstract
Plato already used the intertextual ability of literary writing as a subversive potential to undermine any data storing technique staying within the limits of mnemonic devices, the so-called hypomenmata, in order to to allow the alternative process of anamnesis to arise. Ironically however, one of today's most advanced hypomnemata, the hypertext, is based upon the decentralized, non-linear structure that is characteristic of the phenomenon of intertextuality. So, one might ask – as many theorists of the new medium actually do – whether the hypertext is even superior to conventional literature in its capacity to stimulate the process of recollection in the sense of Plato's anamnesis. Rather, in this article, it will be shown that the opposite is the case. An intertextual dynamic can only arise out of the readers's response to a given static texture. With each step through the "web of trails" of the hypertext the reader decomposes that illuminating effect. This observation points to the necessity of developing a new poetics of hypermedia.



"Der Text selbst ist unerbittliches Gedächtnis."[1] Mit diesem apodiktischen Memorandum beschließt Renate Lachmann ihren Text über Borges' memorioso, die fiktive Fallstudie einer Gedächtnishypertrophie. Freilich gilt für die Interpretin wie für ihren Gegenstand, daß gerade die herausgestellte Unerbittlichkeit des (über)determinierten Gedächtnisses zur "Verheißung eines anderen"[2] wird – eines Gedächtnisses, das sich der Imagination öffnet, weil es durch Zwischenräumlichkeit charakterisiert ist. Lachmanns Standardwerk hat es auf die zum eingangs zitierten Merksatz konträre und nicht minder apodiktische Formel gebracht: "Das Gedächtnis des Textes ist seine Intertextualität."[3]

Topik und Utopik von Gedächtnismedien, die räumliche Fixierung der Memorabilia und das Versprechen ihrer Freisetzung, sind im strengen Sinne komplementär: Sie schließen einander aus und bedingen sich doch wechselseitig. So wenig eine lebendige Erinnerungskultur aus der bloßen Wiedereinschaltung von Gespeichertem[4], das heißt zuvor Mortifiziertem, hervorgehen kann, so wenig kann sie unabhängig von solchen Mortifikationen zu sich finden. Erst die Konfrontation mit der Totenstarre der Sammlungen weckt das Bedürfnis nach Sammlung als deren nachträglich rekonstruierte Ursprungsintention. Noch am selbstvergessenen Datenrecycling des digitalen storage and retrieval läßt sich das realisieren. Mit seinen kybernetischen Speicherräumen simuliert es nach Belieben alle möglichen historischen Formen der Wissensorganisation – seien es die mnemonischen Architekturen der Antike, die Memoriatheater der Renaissance oder die Tableaus der Neuzeit – und kontinuiert damit unbewußt die Impulse, die darin eingeschlossen wurden.[5] Stets war die Freisetzung dieser Impulse aus den Formen ihrer Fixierung abhängig von einer Reflexion auf die spezifischen Verdinglichungstendenzen der verwendeten Gedächtnismedien. Ein solcher Reflexionsprozeß freilich unterliegt seinerseits dem Wissenszuschnitt und den Anmutungen des Phänomens, das er untersucht, so daß wir hier von einer Wechselwirkung sprechen müssen. Die Situation dieser Wechselwirkung, das Spannungsfeld der Vermittlung zwischen der objektiven Repräsentation der Memorabilia und ihrer subjektiven Erschließung nenne ich die "Medialität des Erinnerns". Die damit angedeutete Begriffserweiterung gegenüber einem rein technisch definierten Begriff der Gedächtnismedien halte ich für nötig, da ich glaube, daß die spezifischen Einflüsse von Speichertechniken auf unser Erinnerungsvermögen von einer technikgeschichtlichen Betrachtungsweise allein nicht zu erfassen sind, sondern daß hierfür eine historische Anthropologie der Rezeptionsmodalitäten hinzugezogen werden muß.[6]

Eben dies aber bestreitet eine etablierte Konvention der Mediengeschichtsschreibung. Allein aus den Präsentationsformen historischer Gedächtnistechniken will sie die entsprechenden Präformationen der Erinnerungsvorgänge ablesen.[7] Derartigen Homologieschlüssen verdanken wir eindrucksvolle Studien über die Mediatisierung unserer Bewußtseinsfunktionen. Ihr Fokus bleibt aber auf diejenigen Funktionen beschränkt, die als mediatisierte beschreibbar sind – ein zirkuläres und historiographisch halbiertes Forschungsprogramm, das die Diachronizität technischer und anthropologischer Entwicklungstendenzen unterschlägt. Die Evolution unserer Wahrnehmungskapazität bleibt hinter der unvergleichlich schnelleren Innovation der Informationsmedien eklatant zurück; die Überforderung der physiologischen und kognitiven Anpassungsleistungen angesichts der rasant zunehmenden Reizzumutungen (die freilich aufgrund der verkürzten Reaktionszeiten mit einer Unterforderung ihrer Erfahrungspotentiale korreliert),[8] führt in einen dramatisch sich vertiefenden Hiatus zwischen beiden Chronologien. Dieser Hiatus gibt einerseits zu bedrohlicheren Perspektiven Anlaß als sie der von seiner eigenen Ausnüchterungskur geschwächte Mediendeterminismus in den Blick bekommt, andererseits bringt er Konturen in die digitalmodische Nacht der Indifferenz, in der alle Kybernetiker schwarz sehen müssen. Denn die Wahrnehmung jener Diachronizität kann intentionale Gegenbewegungen veranlassen, die um so aussichtsreicher sind, je deutlicher die speichertechnische Begrenztheit eines Mediums als solche in Erscheinung tritt. Insofern ist die Frage nach der Medialität des Erinnerns auch eine technikgeschichtliche. Doch erst die Berücksichtigung der subjektiven Reaktionsformen komplettiert das Bild der Situation, in der die genannten Kontrasteffekte sich auswirken. Ich möchte das im folgenden anhand eines Vergleichs zwischen der platonischen Dialogregie und der in jüngster Zeit häufig als deren Vollendung und Überbietung gepriesenen Technik des interaktiven Hypertextes demonstrieren. Ihr Unterschied, so meine These, bemißt sich nicht allein an den jeweiligen Formen der Informationsspeicherung, sondern auch am Niveau der Imaginationsleistungen, die sie ihren Lesern abverlangen.

Beide Schreibtechniken können als exemplarisch für historische Grenzerfahrungen unter den Bedingungen eines Medienwechsels angesehen werden: der eine, indem er das unerbittliche Gedächtnis der Texte im Blick auf noch nicht schriftliche Gedächtnisformen kritisiert, der andere, indem er eine nicht mehr an die Linearität der Schrift gebundene Textpräsentation propagiert. Ob bezüglich der Hypermedien von Intertextualität gesprochen werden kann, wie es häufig geschieht,[9] bezweifle ich ebenso wie ich umgekehrt Platons Kritik der Hypomnemata nicht als Pauschalverurteilung der Schrift lese, was gleichfalls gegen eine Konvention der Forschung verstößt.[10] Inwieweit es mir gelingt, die einschlägige Mediengeschichtsschreibung gegen den Strich zu bürsten, wird über die Plausibilität des hier vorgeschlagenen situationsanalytischen Ansatzes entscheiden.

Da sich meine Frage nach der Medialität des Erinnerns auf die Transzendierungleistungen richtet, die durch Gedächtnismedien evoziert werden, wäre es eigentlich naheliegend, empirische Wirkungsforschungen zum Interface-Design zu Rate zu ziehen. Da diese aber bislang kaum entwickelt sind,[11]wähle ich ein anderes Verfahren. Ich verwende zwei Extremvarianten von Gedächtnisstörungen aus dem Sample des bekannten Neurologen Alexander Lurija als heuristische Folie, um vor diesem plakativen Hintergrund die Wirkungstendenz der in Frage stehenden Rezeptionsmodalitäten näher zu charakterisieren: zum einen die Mnemopathie Schereschewskis,das Leiden unter der Flut der Merkbilder, und zum anderen die "geistige Aphasie" Sassezkis, die einen Verlust seiner Biographie bedingte, da sie ihn daran hinderte, Einzelnes in einen assoziativen Zusammenhang zu bringen.[12]

 

 

I.

 

Einen Verifikationstest für die These des Phaidros-Dialogs, daß Verschriftlichung Vergessen nach sich ziehe, können wir in dem Bemühen Schereschewskis sehen, sich auf eben diese Art von der Überdeterminierung seines Gedächtnisses zu befreien: "Um sich etwas einzuprägen," berichtet er, "schreiben die Leute es auf … Ich fand das komisch, und ich beschloß, das Problem auf meine Weise zu lösen: Hat jemand etwas aufgeschrieben, besteht für ihn keine Notwendigkeit, es sich ins Gedächtnis zu rufen; hätte er aber keinen Bleistift zur Hand gehabt und so nichts aufschreiben können, dann hätte er es sich eingeprägt! Wenn ich etwas aufschreibe, weiß ich demnach, daß ich es mir nicht ins Gedächtnis zu rufen brauche."[13]

Das gewissenhaft durchgeführte Experiment scheitert jedoch. Schereschewski kann nicht verhindern, daß das Geschriebene sich ihm einprägt. Auf eben diesen Effekt, den ja die Alltagserfahrung auch zu bestätigen scheint,[14] stützt sich die Hoffnung von Schereschewskis Antipoden Sassezki. Das Tagebuchsschreiben wird ihm zum unverzichtbaren Pharmakon, mit dem er verzweifelt gegen das Vergessen kämpft. Platons Befürchtungen wären somit vor dem Hintergrund beider idealtypischer Extreme falsifiziert – wenn es der Beweise nach einer in Jahrtausenden bewährten Tradition der Erinnerungsarbeit durch Schrift noch bedurft hätte. Und widerlegt nicht schon der Dialogautor sich selbst, indem er sich des geschmähten Mediums bedient?

Wie ich im folgenden zeigen werde, verfängt sich Platon keineswegs in einem performativen Widerspruch, sondern praktiziert konsequent ein Verfahren der Schriftkritik, das auch durch die beiden erwähnten Befunde bestätigt wird. Entgegen der geläufigen Ansicht, daß der Phaidros im Namen der Erinnerung die mündliche Rede gegen die Schrift ausspiele, lese ich den Dialog so, daß die Argumentationslinie quer zur Opposition beider Medien verläuft: Beide können den anamnetischen Prozeß sowohl behindern als auch befördern, je nachdem, welcher Gebrauch von ihnen gemacht wird. Sokrates' Gesprächspartner übernimmt dabei in doppelter Hinsicht die Rolle des Negativ-Exempels. Er hat einen Vortrag des Lysias über die Liebe gehört, dessen Schriftfassung er sich aushändigen ließ, um sie auswendig zu lernen. Nun möchte er an Sokrates erproben, ob es ihm gelingt, so zu tun, als würde er die Rede frisch aus dem Gedächtnis reproduzieren. Es soll der Eindruck entstehen, als gelänge ihm die Wiedergabe allein aufgrund seiner Ergriffenheit durch das zuvor Gehörte. Doch die Deklamationsübung platzt. Sokrates, der bei der Erwähnung des Lysias von vornherein Verdacht schöpft, entdeckt die Kladde und schlägt vor, doch besser gleich diese vorzulesen.

Was hier schon in der Rahmenhandlung zum Problem gemacht wird: die bloß äußerliche Reproduktion von Schrift und Rede, das zeigt sich nun auch an deren Inhalt: Er traktiert das Phänomen der Liebe exothen, aus der Sicht des Nichtverliebten. Dieser, so lautet die Argumentation des Lysias, ist ein besserer Liebhaber als der Verliebte, da er sich stets zu kontrollieren weiß und somit auf die Bedürfnisse des anderen kalkuliert einzugehen vermag.

Sokrates' Gegenbeispiel zur Lysias-Rede, an der er zwar ihre 'Diathesis', die äußere Anordnung, lobt, die 'Heuresis' (236a) aber, die ergreifende Idee, vermißt, beruht auf einer inneren Dynamik, die die beiden Kernelemente der platonischen Anamnesis-Lehre ins Spiel bringt: das negative der 'Aporie' und das positive der Ergriffenheit der Seele. Daß das eine der Evozierung durch das andere bedarf, hat Platon bereits im Menon dargelegt. Durch geschicktes Nachfragen hintertrieb da Sokrates die falschen, mechanisch dahergesagten Antworten des Sklaven, bis dieser seine völlige Ratlosigkeit gestehen mußte: "Aber beim Zeus, Sokrates, ich weiß es nicht!" – "Siehst du wohl", sagte dieser daraufhin zu Menon, "wie weit er schon fortgeht im Erinnern? … Indem wir ihn also in Verlegenheit brachten und zum Erstarren, wie der Zitterrochen, … haben wir vorläufig etwas ausgerichtet … Denn jetzt möchte er es wohl gern suchen, da er es nicht weiß; damals aber glaubte er, ohne Schwierigkeit vor vielen … gut zu reden." (84b)

Die Zerstörung des falschen Glaubens, gut zu reden, ist die Voraussetzung für wahrhaft gutes Reden. Auch im Phaidros wird das demonstriert: Sokrates kann die Heuresis in seine Rede Eingang finden lassen, weil er nicht schon weiß, was er sagen wird. Er stellt es den Musen anheim, ob es ihm gelingen wird, überzeugend über die Liebe zu sprechen (237a), das heißt, er stellt sich der eigenen Ratlosigkeit.[15]

Die aporetische Öffnung für das nicht schon im Gedächtnis Präsente setzt nun einen anamnetischen Prozeß in Gang, bei dem Sokrates "durch göttliche Gunst" in eine Art von "Wahnsinn" versetzt wird (244a): der vom toten Speicherwissen unverstellten Wiedererinnerung der Seele an die einst geschaute Schönheit (249a–250c).

Beide Momente, die Verunsicherung durch die Aporie und die Affiziertheit von der "Sehnsucht nach dem Damaligen" (250c), Schönen, werden von Sokrates nicht nur als Voraussetzungen eines guten Redners genannt, sondern sie machen zugleich den zentralen Inhalt seines gegen Lysias gerichteten Arguments aus, nämlich daß ein Verliebter der bessere Liebhaber sei: Wenn einer, sagt Sokrates, "ein gottähnliches Angesicht erblickt oder eine Gestalt des Körpers, welche die Schönheit vollkommen darstellen: so schaudert er zuerst, und es wandelt ihn etwas an von den damaligen Ängsten, hernach aber betet er sie anschauend an wie einen Gott…" (251a). Der Inhalt der Rede ist also zugleich die Begründung für ihr rhetorisches Gelingen.

Analog zu diesem Beispiel für gutes Reden sind die sich anschließenden Erörterungen darüber zu verstehen, was "die Art und Weise, gut zu schreiben" sei (258d). Die Kriterien bleiben dieselben: Es muß mit den Mitteln des jeweiligen Mediums ein Bewußtsein vom Ungenügen seiner bloß mnemonischen Verwendung geweckt werden, um eine Wiedererinnerung der speichertechnisch verstellten Gehalte zu ermöglichen.

Daß Platon den Phaidros-Dialog aufgezeichnet hat, ist kein Paradox, sondern die konsequente Anwendung des darin erläuterten Verfahrens zur Erzeugung einer aporetischen Situation. Wenn wir in einer Schrift zu lesen bekommen, daß die Menschen "im Vertrauen auf die Schrift sich nur von außen vermittels fremder Zeichen, nicht aber von innen sich selbst und unmittelbar erinnern werden" (275a), so erscheint das diskreditierte Medium durch diese autodestruktive Verwendungsweise als Mittel seiner Selbsttranszendenz. Sie wird im Verlauf des Dialogs variantenreich durchgespielt. Das Aufzeichnen erscheint dabei zwar durchaus als Antagonist der Anamnesis, aber nicht in der "Form eines krassen Entweder Oder",[16] sondern der eines intertextuellen Konterkarierens, bei dem die sich durchkreuzenden Diskurse wechselseitig begrenzen und somit relativieren.

In der Tat glaube ich, daß alle drei der von Renate Lachmann in Gedächtnis und Literatur beschriebenen Intertextualitätsmodelle[17] in Platons Dialog vorkommen, was hier nur stichwortartig angedeutet werden kann:

Das partizipierende Wiederholen und Weiterschreiben der vergangenen Texte vollzieht sich in zahlreichen Anspielungen und Reminiszenzen expliziter und mehr noch impliziter Art, die das gesamte Spektrum des antiken Bildungskanons von den Mythen über die Dichtung bis zu den Rhetorik-Lehren herbeizitieren.[18] Im Mittelpunkt steht dabei die Rede des Lysias, ein Imitat Platons, das aber nach dem Urteil von Ernst Heitsch "in Wortschatz und Satzbau außerordentlich eng mit den erhaltenen Lysiasreden verwandt ist".[19]

Das Anschreiben gegen Vorläufertexte im Sinne der 'Tropik' zeigt sich denn auch insbesondere in den sokratischen Gegenentwürfen zu Lysias. Es steckt aber schon in der Reproduktion der Vorlage, die durch ironische "Übertreibung bestimmter stilistischer Charakteristika"[20] den Abwehrgestus vorbereitet. Der wiederum vollzieht sich in zwei Schritten. Bevor Sokrates zu seiner eigentlichen Gegenrede ausholt, die den Prätext widerlegt und hinter sich läßt, hält er einen Vortrag, der die Argumentation des Lysias aufgreift und ganz in ihrem Sinne überbietet: Er beginnt mit einer stereotypen Anrufung der Musen, gerät in Fahrt, unterbricht sich bald mit der Feststellung, daß er "nicht mehr fern von Dithyramben" (238d) sei, um schließlich zu behaupten, daß er sich gar bremsen müsse, weil er "schon Verse spreche" (241e). Die scheinspontane Rede überführt sich selbst als mustergerecht.

Damit stiftet sie die für die intendierte 'Transformation' des Vorläufertextes nötige Distanz. Sokrates' zweite Rede baut nun die vorgegebene Argumentation vollständig um zum Beweis des Gegenteils. Noch die Umpolung aber exponiert die eigene Konstruiertheit und relativiert sich selbst: Sokrates entschuldigt sich am Ende bei Eros, daß sein Widerruf "im Ausdruck des Phaidros wegen etwas dichterisch abgefaßt werden mußte" (257a). Das subversive Spiel mit der eigenen Glaubwürdigkeit betrifft auch die didaktisch eingeflochtenen Mythen, wie etwa den von den Zikaden. Sokrates rügt seinen Zuhörer, daß ihm diese Geschichte unbekannt ist: "Nicht fein steht es für einen Musenfreund, dergleichen nicht gehört zu haben" (259b). Der Getadelte hatte freilich keine Chance, sich als Kenner zu erweisen, denn das vermeintliche Bildungsgut wurde soeben erfunden. Bei der Erzählung des Mythos von Theut schöpft Phaidros immerhin einen entsprechenden Verdacht. Sokrates gesteht daraufhin freimütig, daß er seinen Bericht fingiert hat, und rechtfertigt sich mit der dubiosen Begründung, daß er um der Wahrheit willen log (275b).

Platons Selbstrelativierung spart auch die eigenen Grundprinzipien nicht aus. So liest sich Sokrates' erste Rede zunächst wie eine lehrbuchmäßige Demonstration des Weges durch die Aporie zur Wiedererinnerung: "Unvorbereitet" (236d), am Rande der "Verwirrung" (237a), beginnt er zu sprechen, um plötzlich zu konstatieren, daß "etwas Göttliches" ihn "angewandelt" habe (238c). Das Aha-Erlebnis des gebildeten Rezipienten entpuppt sich aber sogleich als Irrtum. Der ergreifend dargestellte Erinnerungsvorgang war eine parodistische Simulation.

In derartigen Distanznahmen vom Medium der schriftlichen Darstellung, wie sie auch in der Verwendung von Wortspielen zum Ausdruck kommt, sehe ich das spezifische Merkmal der Platonschen Intertextualität. Im Gegensatz zum Rigorismus des 7. Briefs hat Platon hier zu einer Form des Schreibens über das gefunden, worüber sich nicht schreiben läßt. Mit ihr variiert er sein zentrales Theorem, daß die Mneme und damit die zur Anamnesis benötigte Eigenbewegung der Seele durch den Gebrauch von 'Hypomnemata' erlahmen kann: Sie erlahmt nicht notwendig, sondern nur unter der Voraussetzung, daß Gedächtnisstützen zu Gedächtnisprothesen verabsolutiert werden.

Die Pointe des Dialogs, der diese Verabsolutierungen immer wieder aufbricht, besteht darin, daß gerade der Meister der mündlichen Rede, Lysias, seinen Schüler zur sklavischen Reproduktion seiner Worte veranlaßt, während die Lebendigkeit der sokratischen Gegenrede darauf beruht, daß sie nach schriftlichen Kompositionsregeln verfaßt ist.[21] Die entscheidende Differenz besteht jeweils nicht in der Wahl des Mediums, sondern in der Transparenz der intermedialen Stützfunktionen: Phaidros trägt seine Aufzeichnung der Lysias-Rede "unter dem Mantel" (228d), während Platon den Vortrag des Sokrates offen als literarisches Erzeugnis zu erkennen gibt.

Platons Phaidros steht also nicht im Widerspruch zur schriftlichen Erinnerungsarbeit eines Sassezki, sondern läßt im Gegenteil deren Bemühen um die Wiedergewinnung des Raums zwischen den dekontextualisierten Worten als sinnvoll erscheinen. Und daß Schereschewskis Versuch des Vergessens durch Aufschreiben scheitert, ist mit Platon ebenfalls zu erklären: Die Notizen des Mnemopathen sind Anti-Hypomnemata, so wie der Phaidros-Dialog. Sie bringen sich zu Schereschewskis Leidwesen in Erinnerung durch die Energie ihres Willens, den Automatismus der Gedächtnistechniken zu unterlaufen.[22]

Was der Phaidros in Erinnerung bringt, ist die Externalisierungstendenz der Schrift. Durch ihre Subversion hält der Dialog jene andere Option offen, die sich am Ende in Sokrates' Schlußgebet artikuliert: Daß das Äußere dem Inneren befreundet sein möge (279b–c).

Wenn Platon, wie Detlev Thiel im Anschluß an Josef Derbolav formuliert, eine "'heimliche' Medientheorie" hinterlassen hat,[23] so beruht sie auf dieser Idee der Vermittlung von Äußerem und Innerem. Ein entsprechender, die Personalität des Rezipienten einbeziehender Medienbegriff müßte nicht erst konstruiert werden. Er wäre lediglich als vergessenes Erbe des derzeit technizistisch verkürzten Sprachgebrauchs wieder freizulegen. Hervorzukehren wäre dabei sein interimistischer Charakter, der zwischen aktiver und passiver, subjektiver und objektiver Bedeutung unentschieden bleibt, wie er etwa in der von den antiken Grammatikern als 'Medium' bezeichneten Verbform zum Ausdruck kommt oder in der Verwendung desselben Wortes für die Vermittlungsinstanzen in rituellen Praktiken.[24] Auf dieser Zwischenstellung beruhte auch Benjamins Idee der Sprachmagie, die in einer nach ihm nicht mehr erreichten theoretischen Komplexität unter 'Medium' den Doppelaspekt von schöpferischem Ausdrucksakt und urvernehmlichem Ausgedrücktwerden verstand.[25] Die Nähe dieses "Urvernehmens" zur platonischen Anamnesis wurde von Benjamin explizit betont. Der entscheidende Unterschied freilich ist, daß bei Platon das Wort keine "benennenden Rechte" im Sinne des adamitischen Namengebens besitzt.[26] Was aber vergleichbar bleibt, ist die doppelte Inanspruchnahme des sich erinnernden – das heißt zugleich imaginativ schöpferischen und rezeptiv vernehmenden – Subjekts durch die Schrift. Diese fungiert im Phaidros als Erinnerungsmedium insofern, als sie ihre eigene Unzulänglichkeit explizit macht, die Aufmerksamkeit des Lesers also auf die virtuellen Räume zwischen den Texten lenkt und ihn zu imaginativen Gegenbewegungen veranlaßt.

Wie verhält es sich im Vergleich hierzu mit der technisch objektivierten Form solcher Virtualität, dem Hypertext? Was charakterisiert ihn als Erinnerungsmedium?

 

 

II.

 

Unter den Theoretikern des hypermedialen Schrifttums erfreut sich der Phaidros  großer Beliebtheit. Sie loben Platons Dialogregie als gesprächsorientierte Überwindung der linearen Textualität, die freilich erst durch den Hypertext ihre adäquate Verwirklichung finde. So klagt etwa David Bolter: "The form invites the reader to participate in a conversation and then denies him or her full participation."[27]

Ähnlich argumentiert David Kolb in seinem Hypertext-Essay Socrates in the Labyrinth,[28] der sich als ein "attempt to find a new form of philosophical writing" versteht. Sein Leitbegriff ist die "intermediate structure", die auch er in Ansätzen bereits bei Platon aufspürt. Ein mediengeschichtlicher Dreischritt führt von dort geradewegs zur krönenden Synthese des Hypertextes:[29] Am Anfang steht der mündliche Dialog, in dem Sokrates seine Gesprächspartner vor Alternativen stellt, über die sie eigenverantwortlich zu entscheiden haben. Die traditionelle Schrift unterbindet zwar diese Art der Partizipation, erhöht damit aber zugleich die Variabilität der Rezeptionsperspektiven. Der Hypertext schließlich steigert die Vorteile beider Vorgängermedien unter Ausschaltung ihrer Nachteile: Durch die Vernetzung der in einzelne Passagen zerlegten Texte wird die Perspektivenvielfalt exponential multipliziert; zugleich darf der Leser sich wieder für die Richtung des Gedankengangs verantwortlich fühlen wie in einem mündlichen Gespräch. Die sokratische Ethik, die auf dieser Sprachverantwortlichkeit gründe, könne damit von der neuen Technik aufgenommen und auf höherem Niveau weitergeführt werden: "This larger work of self (and communal) discovery (and creation) is an activity to which we might imagine philosophical hypertext making a new contribution."[30]

Soweit die Theorie. Wie aber sieht die Praxis aus, die Situation der Lektüre? Unerfahrene Leser und Leserinnen, die sich durch Kolbs Hypertext klicken, sehen sich zunächst einer Freiheit konfrontiert, mit der sie wenig anfangen können. Während ihnen ein traditionelles Buch die Gedankenfolge gemäß einer vorgegebenen, vom Autor als sinnvoll erachteten – sei es linearen oder nichtlinearen – Dramaturgie präsentiert, müssen sie hier die Übergänge von einem Textpartikel zum nächsten selbst auswählen, ohne recht zu wissen, wofür sie sich eigentlich entscheiden. Widerstehen sie dennoch dem antiquarischen Drang, in die Gutenberg-Galaxis zurückzukehren, in der ihnen die Autoren sagen, wie es weitergeht (und vorsorglich hat Kolb seinen Essay auch in Buchform veröffentlicht) – bleiben die Rezipienten also im Hyperspace, erleben sie tatsächlich eine Neuauflage der Situation, in der sich die Dialogpartner des Sokrates befanden. Freilich begegnet ihnen die Grundstruktur der platonischen Anamnesis-Lehre – wie es bei historischen Wiederholungen nach Marx unvermeidlich ist – nun als Farce: Sobald sie an einen Netzknoten kommen, geraten sie in den aporetischen Zustand der eigenen Ratlosigkeit darüber, wie fortzufahren sei; sie suchen die richtige Verzweigung, und dies beschert ihnen mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Wiedererinnerung, nämlich das Déjà-vu-Erlebnis einer Textstelle, die sie früher schon einmal vor sich hatten.

Was ich hier in der gebotenen Kürze zugespitzt darstellen muß, ist die Problematik der Gleichsetzung von hypertextueller Interaktivität und literarischer Intertextualität. Die Allmacht des Autors, die der moderne und postmoderne Text mit spezifischen Stilmitteln untergrub, wird durch die handgreiflichen Interventionen des Lesers nicht weiter abgebaut, sondern im Gegenteil restituiert. Sie ist lediglich unidentifizierbar geworden, da sie sich an den Algorithmus des Textgewebes entäußert hat; damit aber begrenzt sie um so unerbittlicher den Freiraum der imaginativen Erinnerungsprozesse. Das Virtuelle, durch einen irreführenden Sprachgebrauch dem neuen, objektivistischen Medium zugeschrieben, wird an Faktisches geknüpft, sobald es sich regt: Hyperlinks reduzieren just die Stellen auf vorgegebene Textvarianten, an denen intertextuelle Strukturen ihre Dynamik entfalten könnten. Die Annotationen des Autors überschreiben die Konnotationen des Lesers. Jeder Mausklick trägt dazu bei, einen eventuell vorhandenen Assoziationsreichtum in eine Dissoziationswüste zu verwandeln. Polyperspektivik verkommt so zum Patchwork.[31] Hypertexte unterstützen denn auch weniger ein Denken der Vernetzung, wie oft behauptet wird, sondern eines der Verfransung. Dekomposition und Dezentrierung, die postmodernen Strategien zur Erfindung neuer Kombinatoriken, sind hier das Resultat, nicht die Veranlassung des Lesevorgangs.

Die Situation des durch Hypertexte eingeübten "modular reading"[32] läßt sich damit in ihren Wirkungen auf das Gedächtnis näher bestimmen: Sie ähnelt derjenigen Sassezkis, dessen fragmentiertes Sprachverständnis auf dem Verlust der Fähigkeit beruhte, "komplexe Verbindungen und Beziehungen" wahrzunehmen. Wie zur Zeit vor seiner Verletzung konnte er "einzelne Teile gut sehen, sie jedoch nicht zu ganzen Bildern zusammenfügen." Zeigte man ihm eine Brille, so sah er "einen Kreis, noch einen, dann einen Querbalken, einen Stock und noch einen Stock."[33] In vergleichbarer Weise präsentieren sich die hypertextuell dissoziierten Schriftpassagen. Sie atomisieren, was nur durch die Kontextsensitivität einer sequentiellen Lektüre zu einem synthetisierenden Verstehensakt führen könnte.

Hypertextdokumente sind in der Regel so aufgebaut, daß einzelne Ausdrücke annotiert werden. Dies wird dann zum Problem, wenn es verhindert, daß sich aus der Kombination der annotierten Ausdrücke implizit neue Bedeutungen ergeben. Auch das läßt sich durch ein Symptom Sassezkis verdeutlichen: sein Unvermögen, Wendungen wie "meines Vaters Bruder" zu verstehen. Er sprang von einem Wort zum anderen, wobei ihm beide Wörter völlig klar erschienen. Daß der attributive Genitiv eine neue Bedeutung generierte, vermochte er jedoch nicht zu erkennen.[34] Hypertextleser werden auf analoge Weise in die Irre geführt. Indem sie per Mausklick erfragen mögen, was ein Vater oder ein Bruder ist, fällt ihnen der Onkel durch die Maschen des distributiven Lektürenetzes.

Inversionen, um ein letztes Beispiel zu nennen, sind für die elektrifizierten Rezipienten ebenso schwer zu erfassen wie für Sassezki. Ein Satz wie "Ich frühstückte, nachdem ich die Zeitung gelesen hatte" erfordert, daß sein erster Teil noch präsent ist, wenn der zweite gelesen wird. Sassezki hatte dabei stets das Gefühl, in eine Falle gelaufen zu sein[35] – die Falle der Linearität, mit der auch der Hyperspace hinter seinem nichtlinearen Erscheinungsbild, aufwartet. Indem er die räumliche Invarianz der Gutenberg-Galaxis in Sequenzen zerlegt, entzieht er dem verständnissichernden Zurückspringen den Halt.

Während das normale Sprachverständnis von der Fähigkeit getragen wird, "die Synthese und die Organisation komplexer Assoziationen in einem Beziehungsgeflecht zu steuern",[36] haben Hypertextleser wie Hirngeschädigte von der Art Sassezkis diese Fähigkeit gleichermaßen durch die Auswirkung von Kriegstechniken verloren. Das genuin militärische Konzept des Internet, die Verfügungsgewalt über das Gesamtsystem vom einzelnen Client abzukoppeln, hat in der 'memex'-Technik, dem Vorläufer des Hypertextes, sein kongeniales Navigationsinstrument gefunden.[37] Dessen Wirkung verbindet ihn mit dem Schicksal von Lurijas tragischem Klienten, seiner geistige Aphasie.

Sassezkis Pendant hingegen kann damit geholfen werden. Die Neutralisierung der relevanzstiftenden Emphase, die zu Schereschewskis Leidwesen das Gedächtnis der Schrift bewahrte, macht den Hypertext zu einem idealen Instrument des Vergessens – freilich nicht des Vergessens im Sinne einer 'ars oblivionalis', die mit einem anamnestischen Erinnern durchaus kompatibel ist, weil ihre Subversion von auswendiggelernten Bedeutungen neue Assoziationsmöglichkeiten freisetzt,[38] sondern des Vergessens im Sinne der schieren Auslöschung von Bedeutung durch Dissoziation ihrer Komponenten.

Ich fasse zusammen: Während das unerbittliche Gedächtnis des Textes bei Platon durch Selbsttranszendierung für den anamnetischen Prozeß geöffnet wird, macht es der Hypertext durch das falsche Versprechen der Eigeninitiative unentrinnbar. Er realisiert nicht, sondern parodiert das Prinzip der Intertextualität, indem er es zum pseudodynamischen Datenbankangebot verdinglicht.

Ein ausschließlich technisch definierter Medienbegriff ist nicht imstande, diese Verdinglichungstendenz transparent zu machen. Durch die Ausblendung der situativen Erfahrungsraums vereindeutigt er dasjenige, was sich virtuell zwischen den Texten tut, zu faktischen Zwischentexten. Das auf der Grundlage solcher freiwilligen Blickbeschränkungen betriebene Forschen kann die von ihm intendierte Analyse der Mediatisierung nicht leisten, da es seinerseits von einer restlos mediatisierten Phänomenwahrnehmung ausgeht. Es beglaubigt die diagnostizierten Verluste historischer Erfahrung durch die eigene Begriffsverwendung. Dieses tautologische Programm hat sein Vorbild in dem elegant schlichten Beweisgang Alan Turings über die Frage, ob Maschinen einmal ebenso denken können werden wie Menschen. Unser Begriff des Denkens, schrieb Turing, werde sich bis zur Jahrtausendwende so weit geändert haben, daß er auf beide gleichermaßen angewendet werden kann, ohne daß mit Widerspruch zu rechnen wäre.[39]

Analog könnte der Medienbegriff der Definitionsmacht des Industriestandards überlassen werden. Er könnte aber auch als Anlaß dienen, auf die historischen Bedingungen seiner Deprivation zu reflektieren, in unerbittlichem Andenken der Vorgeschichte, das immer auch ein Gegenan-Denken ist.

 



[1]Renate Lachmann, "Gedächtnis und Weltverlust – Borges' 'memorioso' – mit Anspielungen auf Lurijas 'Mnemonisten'", in: Poetik und Hermeneutik XV (1993), 492–519, hier: 519.

[2]Lachmann (Anm. 1).

[3]Renate Lachmann, Gedächtnis und Literatur, Frankfurt a.M. 1990, 35.

[4]Daß Jan Assmann anhand dieser Metaphorik den Begriff der Erinnerungskultur erläutert [Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992, 22], halte ich für eine unnötige, von seinen eigenen Befunden übertroffene Konzession an das kybernetische Gedächtnismodell – das seinerseits vom Speicherparadigma längst abgerückt ist, und zwar bemerkenswerterweise zugunsten sozialer Metaphern [vgl. etwa Marvin Minsky, The Society of Mind, New York 1985 oder M.S. Gazzaniga, The Social Brain, New York 1985].

[5]Anstelle von Selbstreferenzen zur Ausführung dieser These verweise ich auf meine Web-Site (www.culture.hu-berlin.de/Pages/PM/), wo sie unter "Publikationen/Medien_u._Erinnerung" einsehbar sind und wo ich zugleich Anschauungsmaterial biete.

[6]Hiermit ziehe ich aus Jan Assmanns These, daß sowohl die geistesgeschichtliche wie die medientechnologische Deutung der Transformationen des kulturellen Gedächtnisses darunter leiden, "die vom jeweils anderen Ansatz hervorgehobenen Zusammenhänge nicht gebührend zu berücksichtigen" [Assmann (Anm. 4), 25; vgl. 261], programmatische Konsequenzen.

[7]Seinen exemplarischen Ausdruck findet dieses technizistische Credo, das in unbeirrtem Konservatismus aus McLuhans alter These von der Erweiterung unseres Zentralnervensystems durch die elektronischen Medien den Schluß zieht, jede anthropologisch formulierte Abweichung vom "Klartext der Programme" sei als humanistische Häresie zu verfolgen, bei Norbert Bolz. Vgl. das in diesem Sinne programmatische Vorwort zu: ders., Friedrich Kittler, Christoph Tholen (Hrsg.), Computer als Medium, München 1994, 9–16 (Zitat: 9).

[8]Zur empirischen Erforschung dieses Zusammenhangs, der schon in Goethes Spätwerk eine zentrale kulturkritische Bedeutung erhält, sei hier nur exemplarisch verwiesen auf: Hertha Sturm u.a., Fernsehdiktate: die Veränderung von Gedanken und Gefühlen. Ergebnisse und Folgerungen für eine rezipientenorientierte Mediendramaturgie, Gütersloh 1991.

[9]Vgl. etwa George P. Landow, "What's a Critic to Do? Critical Theory in the Age of  Hypertext", in: ders. (Hrsg.): Hyper/Text/Theory, Baltimore, London 1994, 1–48, hier: 1. Das Glossar in Martin Klepper, Ruth Mayer, Ernst-Peter Schneck (Hrsg.), Hyperkultur. Zur Fiktion des Computerzeitalters, Berlin, New York 1996 erläutert "Intertextualität" als "Verweisstruktur von Texten auf andere Texte" und meint: "Hypertexte besitzen eine Art direkte, offene Intertextualität, da sie per definitionem aus vielen verschiedenen Texten und Textversatzstücken nebeneinander und übereinander bestehen, die per Maus-Klick aktualisiert werden können" (278).

[10]Für in diesem Punkt modifikationsbedürftig halte ich die einschlägigen Darstellungen von Aleida und Jan Assmann, "Schrift", in: Joachim Ritter, Karlfried Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8 R–Sc, Basel, Stuttgart 1992, 1417–1431, hier: 1424f. Vgl. Aleida Assmann, "Schrift und Gedächtnis – Rivalität oder Allianz?" in: Manfred Faßler, Wulf Halbach (Hrsg.), Inszenierungen von Information. Motive elektronischer Ordnung, Gießen 1992, 93–103, hier 95f. Jan Assmann gebraucht zwar in Bezug auf die griechische Schriftkultur den Begriff der Intertextualität, engt ihn aber auf ein "Hypolepse" genanntes Verfahren der "kontrollierten Variation" von Vorläufertexten ein [Jan Assmann (Anm. 4) 281, vgl. 102 u. 300f.], so daß die im engeren Sinne intertextualistische Schreibweise Platons, die ich im folgenden herausstellen möchte, dort noch nicht in Betracht kommt.

[11]Vgl. als eine der wenigen Ausnahmen die Arbeit am Wiener 'Institut für Gestaltung und Wirkungsforschung': www.igw.tuwien.ac.at/igw/.

[12]Vgl. Alexander R. Lurija, Der Mann, dessen Welt in Scherben ging. Zwei neurologische Geschichten, Reinbek bei Hamburg 1992. Zur Vergleichbarkeit bzw. Unvergleichbarkeit zwischen Schereschewski und Borges' memorioso siehe RenateLachmann, "Die Unlöschbarkeit der Zeichen: Das semiotische Unglück des Mnemonisten", in: Anselm Haverkamp, dies. (Hrsg.), Gedächtniskunst. Raum – Bild – Schrift. Studien zur Mnemotechnik, Frankfurt a.M. 1991, 111–145.

[13]Nach Lurija (Anm. 12), 193f.

[14]Daß dies gar nicht so ohne weiteres der Fall ist, belegt die Untersuchung von Frank H. Piekara, Kurt-Georg Ciesinger, Klaus-Peter Muthig, "Notizenanfertigen und Behalten", Zeitschrift für pädagogische Psychologie 1/4 (1987), 267–280.

[15]Vgl. auch sein Bekenntnis in 229e.

[16]Aleida Assmann (Anm. 10), 96. Demgegenüber betont Detlev Thiel, daß die "Anamnesis von außen angeregt werden muß" [Platons Hypomnemata. Die Genese des Platonismus aus dem Gedächtnis der Schrift, Freiburg, München 1993, 67], von der Hypomnesis also abhängt. Indem er dieses Abhängigkeitsverhältnis aber als bloße Stufenfolge begreift (vgl. 104), unterschlägt er die von Assmann herausgearbeitete radikale Differenz zwischen beiden Momenten des Platonschen Philosophierens.

[17]Lachmann (Anm. 3) 38ff.

[18]Eine Auflistung der vielen Autoritäten, auf die Sokrates sich beruft, sowie der rund 50 Zitate, die er in seine Rede einbindet, gibt der Kommentar von Ernst Heitsch [Werke Bd. III/4, Göttingen 1993, 248–252]. Heitsch belegt auch klar die durchgängige implizite Anwesenheit des Isokrates im Phaidros  als dem bis zuletzt (278e) ungenannten eigentlichen Adressaten der Argumentation Platons [257–262] – ein frühes Beispiel einer "latenten" Intertextualität, die nach der Definition Renate Lachmanns "die Oberfläche des Intratextes nicht stört und dennoch die Sinnkonstitution bestimmt" [Lachmann (Anm. 3), 57].

[19]Heitsch (Anm. 18), 77.

[20]Heitsch (Anm. 18), 77.

[21]Vgl. ähnlich Michel Narcy, "Platon, l'écriture et les transformations de la rhétorique", in: Livio Rossetti (Hrsg.), Understanding the Phaedrus: Proceedings of the II. Symposium Platonicum, Sankt Augustin 1992, 275–279, hier: 279.

[22]Die in Anm. 14 genannte Studie differenziert denn auch zwischen einem obsoleten, weil externalisierenden Schreiben und einem relevanzorientierten, das die Erinnerungsaktivität durchaus steigern kann.

[23]Thiel (Anm. 16), 245. Vgl. Josef Derbolav, Platons Sprachphilosophie im Kratylos und in den späteren Schriften, Darmstadt 1972, 20f.

[24]Vgl. Werner Faulstich, Die Geschichte der Medien. Bd.1: Das Medium als Kult. Von den Anfängen bis zur Spätantike, Göttingen 1997. Vgl. auch Jan Assmann, "Der zweidimensionale Mensch. Das Fest als Medium des kulturellen Gedächtnisses", in: ders. (Hrsg.), Das Fest und das Heilige. Religiöse Kontrapunkte des Alltags. Studien zum Verstehen fremder Religionen 1, Gütersloh 1991.

[25]Vgl. Walter Benjamin, "Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen", in: Gesammelte Schriften, Bd.II.1, Frankfurt a.M. 1980, 140-157, hier: 142, 148 f. u. 157.

[26]Vgl. Walter Benjamin, "Ursprung des deutschen Trauerspiels", in: Gesammelte Schriften, I.1, Frankfurt a.M. 1980, 203–409, hier: 217.

[27]J. David Bolter, Writing Space, Hillsdale (NJ) 1991, 111.

[28]Diskettenversion: Eastgate Systems, Watertown 1995. Eine gekürzte Fassung des Textes ist erschienen in Landow (Anm. 9), 323–344.

[29]Kolb (Anm. 28), 326.

[30]Kolb (Anm. 28), 324.

[31]Zu den authentischeren Exponaten genuiner Hypertext-Literatur gehören denn auch solche, bei denen das Autor-Subjekt – nach dem Motto "Ich bin viele" – als Träger des 'Multiple Personality Syndroms' in Erschei­nung tritt, wie etwa in Shelly Jacksons Patchwork Girl, Eastgate Systems, Watertown (MA) 1995.

[32]Wolfgang Ernst, Geschichte im Rhythmus digitaler Medien, Ts. Köln 1996, 2.

[33]Luria (Anm. 12), 48 u. 47.

[34]Vgl. Luria (Anm. 12), 122.

[35]Lurija (Anm. 12), 121.

[36]Lurija (Anm. 12), 113.

[37]Bekanntlich ist der Vorläufer des Internet, das Arpanet, aus der Überlegung hervorgegangen, ein Computernetzwerk durch Dezentralisierung unverwundbar zu machen. Und auch die Erfindung der "memex"-Technik, auf der die Hypertextsysteme beruhen, steht explizit im Dienst der Überlegung, wie das während des Zweiten Weltkriegs zu militärischen Zwecken erworbene Know How im zivilen Bereich weiterentwickelt werden kann. Vgl. Vannevar Bush, "As We May Think", Atlantic Monthly  176 (July 1945), 101–108, hier: 101.

[38]Vgl. Harald Weinrich, "Lethe". Kunst und Kritik des Vergessens, München 1997. Trotz des Titels von den darin vertretenen Thesen nicht grundsätzlich abweichend ist: Umberto Eco, "An Ars Oblivionalis? Forget it!" PMLA 103 (1988), 254–61.

[39]Alan M. Turing, "Kann eine Maschine denken?"Kursbuch 8 (1967), 106–138, hier: 117.