Peter Matussek

Durch die Maschen.

Die Vernetzung des kulturellen Gedächtnisses
und ihre Erinnerungslücken[1]

 


Erschienen in: Dencker, Klaus Peter (Hg.): Interface 3. Labile Ordnungen; Hamburg 1997, S. 54–71.

 

     
 

Um das Phänomen der computertechnischen Vernetzung des kulturellen Gedächtnisses zu verstehen, müssen wir uns zunächst klarmachen, daß es sich dabei um eine Fortsetzung älterer Vernetzungstechniken mit anderen Mitteln handelt. Denn das kulturelle Gedächtnis konstituiert sich seit je als Netz; es hat eine "konnektive Struktur", wie die Kulturhistoriker sagen.[2] Und eines seiner ältesten Medien ist der "Text" – das heißt wörtlich: Gewebe, Geflecht, Zusammenhang.[3]

In diesem Sinne beruht auch der Vortrag, den ich Ihnen jetzt halte, auf einer Vernetzungstechnik. Er navigiert auf den "Infobahnen" der Textur, in die unser kollektives Gedächtnis eingeschrieben ist. Dabei erzeugt er selbst ein Gewebe aus Hauptlinien, Parallelsträngen und Querverbindungen, die Ihnen manchmal zu verwickelt, manchmal zu lose geknüpft erscheinen werden, doch wenn ich mich nicht ganz verstricke, besteht für Sie die Chance, eine "Online"-Verbindung zu mir aufrechtzuerhalten. Eine Minimalvoraussetzung hierfür ist, daß wir dieselben Kodierungen benutzen, dieselben "Netzprotokolle" sozusagen – oder doch zumindest solche, die miteinander kompatibel sind, wie momentan das englische und deutsche.

Worauf ich Sie mit diesen Analogiebildungen aufmerksam machen möchte, ist die Tatsache, daß sowohl innerhalb wie außerhalb des Cyberspace eine Kommunikation nur möglich ist, wenn sie sich auf ein bereits vorhandenes Netzwerk stützen kann – unser kulturelles Gedächtnis.

 

Homepage

 

Um Ihnen einen Überblick über die Topographie des Subnetzes zu geben, durch das ich Sie mit dem bescheidenen "Browser" meines Sprachorgans zu führen beabsichtige: Ich werde zunächst das Netzwerk des kulturellen Gedächtnisses als lückenhaft beschreiben und die Notwendigkeit der Ausgestaltung dieser Lücken in einer entsprechenden Erinnerungskultur postulieren. Dieses Postulat bildet die durchgängige Leitschnur meiner Ausführungen. Ich werde es an drei historischen Knotenpunkten – Platon, Goethe, Bergson – festmachen und dabei jeweils Querverbindungen zur heutigen Situation ziehen. Schließlich bündle ich die einzelnen Beobachtungsstränge in einer allgemeinen Richtlinie für das Interface-Design.

 

Platon.html

 

Das Netzwerk des kulturellen Gedächtnisses ist, wie auch an diesem Überblick deutlich wird, nur eine Minimalvoraussetzung für das Verstehen. Es verhilft Ihnen lediglich dazu, der Textur, der Linienführung meines Vortrags zu folgen. Wichtiger ist, was wir aus dem machen, das sich zwischen den Zeilen abspielt: der "Intertextualität"[4]. Unser Bild vom Gedächtnisnetz ist nämlich unvollständig, solange wir nicht auch die von ihm umspannten Zwischenräume in den Blick bekommen, seine Leerstellen[5], die ich "Erinnerungslücken" nenne, weil es der individuellen Einbildungskraft obliegt, sie mit Bedeutung zu füllen. Die eklatante Differenz von Gedächtnis und Erinnerung wird im folgenden klarer werden. Als vorläufige Abgrenzung mag genügen, daß das Gedächtnis als subjektunabhängiger – interner oder externer –  Speicher fungiert, Erinnerungen dagegen ihrem Wesen nach Hervorbringungen von Subjekten sind. Denn der Sinn des deutschen Wortes "Erinnerung" ist ein "Sich-innerlich-machen"[6] und das heißt auch: ein inneres Machen von Gehalten, die nicht schon in einem Speicher vorliegen. So genügt es zum Beispiel für das Verständnis meines Vortrags nicht, wenn Sie seine Worte aus Ihrem Gedächtnis abrufen. Sie müssen sich unter Begriffen wie "Netz", "Masche", "Zwischenraum" usw. etwas vorstellen – und das sind Ihre eigenen Erinnerungsbilder, die dort den größten Entfaltungsspielraum haben, wo meine Rede am wenigsten explizit ist.[7]

Implizit ist damit der Rahmen für die Beantwortung der Frage aufgespannt, welche Auswirkungen es hat, wenn die Vernetzung des kulturellen Gedächtnisses mit computertechnischen Mitteln fortgeführt wird: Ob der Cyberspace den Wissenserwerb zur Informationsbeschaffung und die Kommunikation zum Datentausch verkommen läßt oder ob er diesen Kulturtechniken gar neue kreative Potentiale erschließen kann, das hängt nicht von der Technik allein ab, sondern ebensosehr von den Umständen ihrer Nutzung. Was für alle historischen Techniken gilt, müssen wir uns immer wieder erneut klarmachen. Das Credo der vorletzten Theoriemode, daß allein das Medium die Message sei, hat sich erst in dem Moment überlebt, als die schier unbegrenzte Simulationsfähigkeit elektronischer Datenverarbeitung offenbar wurde. Die sogenannte "virtuelle Realität" ist genauso unbestimmt wie das sogenannte "reale Leben", und ihren Gegensatz hierzu als Bestimmungsmerkmal heranzuziehen ist eine technologiefixierte Verzerrung. Denn selbstverständlich gehört auch die Datenreise zum "real Life" – wie umgekehrt das "reale" Leben bereits virtuell ist, insofern es sich uns nur über die synthetisierenden Leistungen unseres Wahrnehmungsapparates erschließt.[8] Daß wir dennoch beide Realitätsbereiche unterschiedlich erleben, ist mit dem Zwei-Welten-Modell von Mensch und Maschine nicht hinreichend zu erklären. Das phänomenologisch entscheidende Kriterium verläuft quer dazu – und das ist die jeweilige Situation, in der beide interagieren.

Zwei idealtypische Extreme des Spektrums möglicher Situationen, die es – mit oder ohne Computer – in Bezug auf das Netzwerk des kulturellen Gedächtnisses geben kann, möchte ich Ihnen vorstellen: den Minister und den Hacker. Der idealtypische Minister ministriert, der idealtypische Hacker hackt; der eine bedient das Netz, der andere bearbeitet es. Was heißt das konkret?

Die Beschreibung der Minister-Situation entnehme ich einer Zeitungsmeldung:

Als erster Außenminister der Welt hält Klaus Kinkel eine Online-Konferenz in einem internationalen Computernetz ab. Im 'virtuellen Konferenzzentrum' stellt er sich Fragen zur Außenpolitik. Er sitzt allerdings in seinem Arbeitszimmer. Die Konferenz beginnt. 2,5 Millionen Benutzer warten. Nie gab es eine offenere Tür.

Der Minister tippt seine Begrüßungsworte in den Computer. Ein Untergebener sitzt an einem anderen Computer und paßt auf: 'Jetzt können Sie Enter drücken.' Der Minister drückt Enter. 'Jetzt geht Ihre Botschaft in die ganze Welt hinaus.' Leider geht die Botschaft nicht hinaus. 'Sie müssen Enter drücken.' Der Minister hat Enter gedrückt. 'Machen Sie sich nicht lustig über mich'. Unruhe unter den Untergebenen. Einer sagt zu einem anderen: 'Stellen Sie sich direkt neben den Minister, damit Sie es kontrollieren können.' Es stellt sich heraus, daß man zu früh begonnen hat. "Es ist kein deutsches System, Herr Minister.'

Der Fehler wird behoben. 'Minister wieder online!' 'Sind Sie wieder online, Herr Minister?' 'Jetzt bin ich wieder online.' Der Minister ist nicht mehr lange online. 'Das genügt dann wohl.' Spricht's und marschiert hinaus.[9]

 

Ein Minister kann es sich nicht erlauben, nächtelang durch den Cyberspace zu surfen. Er bedient das Netz als einen vorgegebenen Kommunikationsrahmen. Dessen Struktur ist für ihn bereits präpariert; ein Druck auf die Entertaste genügt, und die Welt bekommt ihre Botschaft. Es handelt sich hier um einen Situationstyp, den ich in Anlehnung an die Neue Phänomenologie als "inkludierend" bezeichne.[10] Inkludierend heißt sie, weil sie das Kommunikationsverhalten in ein Gefüge von festgelegten Routinen und Kompetenzen einschließt.

Dagegen bezieht der Hacker seine Online-Faszination aus dem Widerstand gegen inkludierende Ordnungsprinzipien. Er verläßt die vorgegebenen Bahnen, um Freiräume aufzutun, die er bearbeiten, modifizieren, besiedeln kann. Daraus entsteht ein völlig anderer Situationstyp, den die Neue Phänomenologie als "implantierend" bezeichnet, da er Kultivierungsfelder eröffnet, aus denen Neues hervor- und in die Neues hineinwachsen kann.[11]

So gesehen, ist die implantierende Situation des Hackers entscheidend dafür, daß das tote Inventar des kulturellen Gedächtnisses in eine schöpferische Erinnerungskultur überführt wird.

Die Magna Carta for the Knowledge Age[12], das pathetische Cyberspace-Manifest, das derzeit durch unsere Gazetten geistert, steht denn auch anscheinend ganz auf der Seite des Hackers, "who ignored every social pressure and violated every rule to develop a set of (computing) skills." Allein, der Kontext verrät, daß das postulierte Laissez-faire-Prinzip gegenüber dem geschicklichkeitsfördernden Ungehorsam des Hackers ihrerseits zweckgebunden ist: "Those skills eventually made him or her highly marketable… . The hacker became … a creator of new wealth in the form of the baby businesses that have given America the lead in cyberspatial exploration and settlement." Die Einbindung des Hackers in die Opposition gegen inkludierende Regularien offenbart sich als kommerzielle Masche: Der Minister soll ihn hacken lassen – zum Wohle der Monopole. Die Proklamation von "'electronic neighborhoods' bound together not by geography but by shared interests" dient ausschließlich nationalen Wirtschaftsinteressen; und das Lob für den Ungehorsam des Hackers ist nichts weiter als eine implizite Kampfansage an das Kartellamt, die im Erfolgsfalle den explizit gerühmten "baby businesses" den Garaus machen wird.[13]

Was die Magna Carta mit ihren sozialutopischen Verheißungen als Hoffnungsschimmer am Ende des Tunnels erscheinen läßt, ist in Wirklichkeit der Scheinwerfer eines entgegenkommenden Zuges. Die Deregulierungsoffensive, initiiert von den Spitzen der amerikanischen Telekommunikationsindustrie im Bund mit Newt Gingrich, dem Wortführer der kulturfeindlichen republikanischen Radikalen, umwirbt den Hacker nur insofern, als er mit den Netzen sie, die Vernetzer, bereichert.[14] Seine Lust an der Grenzüberschreitung verwandelt sich in einen autodestruktiven Impuls, wenn er deren Verstrickung in den Ausbau der Inklusionsmacht der Netze verkennt. Mit libidinöser Energie bereitet er den fruchtbaren Boden, für dessen Nutzung man ihn anschließend zur Kasse bittet. Wildwüchsiges Hackertum ist nur scheinbar frei; es gehorcht der Ideologie eines wildwüchsigen Wirtschaftsliberalismus, der es letztlich abschaffen wird.

So paradox es auf den ersten Blick erscheint: Die implantierende Situation vernichtet sich selbst, wenn die inkludierende Situation, an der sie sich abarbeitet, ausgeschaltet ist. Selbst eine Florence Nightingale des Internet wie Howard Rheingold ist nicht dagegen gefeit, durch seinen Einsatz für eine implantierende Netzkultur die Gewalt inkludierender Strukturen zu verstärken. Sein unermüdlicher Hinweis auf den Segensreichtum der Netzkommunikation für die Vereinsamten dieser Welt[15] unterschlägt, daß deren Isolation nicht zuletzt durch das Medium verursacht ist, das sie von der Isolation erretten soll. Ungewollt beteiligt er sich an der Tendenz, zwischenmenschliche Begegnungen datenträgerkonform zu machen, wie sie heute von kommerziellen Netzanbietern mit der zynischen Empfehlung betrieben wird, lieber gar nicht mehr auszugehen, da das Treffen mit anderen Leuten vom heimischen PC aus "bequemer" sei.[16]

Die von den Bedingungen solcher Online-Kontakte hervorgerufene Logorrhoe ist weniger harmlos als es scheint, da sie ein Symptom der ohnmächten Auslieferung an die Netze ist. Bezahlt wird dafür immer – sowohl in barer Telefonmünze als auch per Entleibung; denn die Reduktion aller möglichen und noch der flüchtigsten Lebens­äußerungen aufs Dokument ist an sich schon Ausdruck einer Ty­rannei des Speichermediums über den ephemeren Charakter persönlicher Situationen.[17]

Umgekehrt rufen inkludierende Situationen von sich aus implantierende auf den Plan. So mußten im Falle des China-Internet selbst die betonköpfigsten Minister zu Hackern an ihrer Großen elektronischen Mauer werden, als sie erkannten, daß sie mit der strengen Inklusion den eigenen Wirtschaftsmacht-Interessen schadeten.[18]

Das Problem der Kolonialisierung des Erinnerns durch die Gedächtnismedien ist also nicht durch die Verabsolutierung implantierender Situationen zu lösen, sondern nur dadurch, daß sie zu inkludierenden in ein Verhältnis der produktiven Konfrontation gebracht werden.

Dies zu verdeutlichen dient mein erster kulturhistorischer Netzknoten: Platon hatte zeitlebens Ministerambitionen und verlegte sich doch zugleich auf ein Tun, das man neudeutsch als "Herausgabe von Hackerfibeln" bezeichnen könnte. Den Widerspruch zwischen beiden Tendenzen machte er produktiv in seinem Kampf gegen die Rhetorik, die gerade im Begriff stand, ihre mnemotechnischen Gebäude zu errichten – Gebäude, die dann doch ein mehr als zweitausendjähriges Reich überdauern sollten. Simonides, der angebliche Erfinder der Gedächtniskunst, war noch nicht von der rhetorischen Legitimationslegende vereinnahmt[19], aber Hippias, der Sophist, prahlte schon mit seiner Fähigkeit, fünfzig Namen nach einmaligem Zuruf auswendig herunterleiern zu können. Und das war ein bedenkliches Zeichen für Platon. In seinen Dialogen inszenierte er Sokrates als Gegenspieler der Sophistik, der die vom Gedächtnis errichteten Zugangssperren zur wahren Erinnerung durchstößt. Das sokratische Paßwort zur gesuchten Domäne der Anamnesis heißt Aporie, Ratlosigkeit. Denn er macht die Erfahrung, daß es in der Regel genügt, die falschen, auswendiggelernten Ansichten eines Gesprächspartners solange zu hinterfragen, bis dieser verzweifelt ausruft:

'Aber beim Zeus, Sokrates, ich weiß es nicht!' 'Siehst du wohl', sagt der dann stolz zu einem Dritten, 'wie weit er schon fortgeht im Erinnern? … Indem wir ihn also in Verlegenheit brachten und zum Erstarren, wie der Zitterrochen, … haben wir vorläufig etwas ausgerichtet … Denn jetzt möchte er es wohl gern suchen, da er es nicht weiß; damals aber glaubte er, ohne Schwierigkeit vor vielen … gut zu reden.' (Men. 84a–b)

 

Sokrates nennt sein Tun eine "Hebammenkunst", da sie die Erinnerung nicht von außen induziert, sondern aus einer inneren Eigenbewegung hervorgehen läßt. Jede Form der Informationsfixierung ist dabei hinderlich. Berühmt ist die Kritik der Schrift, die im Dialog Phaidros anhand einer mythischen Erzählung vorgetragen wird: Der altägyptische König Thamus weist die Kulturtechnik zurück, die ihm als Gottegabe Theuts präsentiert wird, zurück, da die Menschen, wie er sagt, "im Vertrauen auf die Schrift sich nur von außen vermittels fremder Zeichen, nicht aber innerlich sich selbst und unmittelbar erinnern werden" (274c–275b).

Platons Kritik der äußerlichen Gedächtnisstützen, der sogenannten Hypomnemata, deren Deutung in der Forschung sehr umstritten ist,[20] gewinnt vor dem Hintergrund der neuen Informationstechniken erneut an Aktualität. Das aufdämmernde Bewußtsein für die Tatsache, daß das Anwachsen der elektronischen Gedächtnisse vergessen läßt, woran wir uns mit ihrer Hilfe eigentlich erinnern wollen, hat die Phaidros-Passage heute zu einem der meistdokumentierten Argumente gegen das Dokumentieren avancieren lassen. So fristet sie ihr Dasein mittlerweile auch im World Wide Web.[21] Ich habe mit dem dafür Verantwortlichen über diese Merkwürdigkeit der Hypomnese einer Kritik an der Hypomnese diskutiert – wobei wir uns übrigens im elektronischen Schriftverkehr heftig gestritten, im mündlichen Gespräch dagegen bestens verstanden haben.

Unser Disput über die speichertechnische "Verwebbung" mündlicher Rede steht freilich in einer langen Tradition. Denn der Anstifter des paradoxen Tuns ist der Schriftsteller Platon selbst – allerdings hat der auch eine gute Erklärung dafür anzubieten. Diese besteht, kurz gesagt, darin, das Gefangensein im Gedächtnisnetz dadurch aufzulösen, daß seine inkludierende Situation als solche transparent gemacht wird. Wenn Platon etwa den Sokrates sagen läßt, zur Erinnerung befähige allein die "lebende und beseelte Rede des wahrhaft Wissenden, von der man die geschriebene mit Recht wie ein Schattenbild ansehen könne" (276a), dann spekuliert er darauf, daß die geschriebene Fassung dieser mündlichen Rede eine Selbsttranzendenz des Mediums bewirkt.[22] Der Effekt dieser Selbsttranszendierung der Schrift beruht nicht einfach auf einer Wiederherstellung der gesprochenen Rede, sondern auf dem dialektischen Wechselspiel beider Kommunikationsmedien. Dabei können höchst komplexe Strukturen entstehen.

 

Wenn sich zum Beispiel in diesem Moment jemand Notizen zu meinem Vortrag macht, dann ist seine spätere Wiedererinnerung keineswegs allein auf die Buchstäblichkeit des Geschriebenen angewiesen. Kraft seiner Imagination wird er sich, von seinen Notizen nur veranlaßt, an meine Rede erinnern, die ihrerseits eine mündliche Wiedergabe von Geschriebenem ist, meines Typoscripts, das ein Gespräch über Geschriebenes erwähnt, nämlich meine Online-Diskussion mit dem Freund, der die berühmte 'Phaidros'-Stelle im Netz abspeicherte. Das Platon-Zitat wiederum geht aus der Aufzeichnung eines Gesprächs hervor, das Sokrates geführt hatte; der bezieht sich darin auf die schriftliche Überlieferung eines Gesprächs zwischen Thamus und Theut, in dem von der Schrift die Rede war…

Wissen Sie noch, wieviele Vermittlungsebenen das Wechselspiel von Schrift und Rede in meinem Beispiel durchlaufen hat?

 

Hoffentlich nicht, denn diese Gedächtnisleistung hätte Sie davon abgelenkt, woran ich Sie erinnern möchte: Daß die Schrift ihren Schriftcharakter – und damit die Erstarrung zum bloßen Speicherinhalt – zu überwinden vermag, indem sie mit ihren eigenen Mitteln an die Situation ihrer Entstehung erinnert. Auf diesen Umschlag des inkludierenden Charakter der Schrift in eine implantierende Rezeptionshaltung setzt der Schriftsteller Platon, wenn er etwa den Sokrates – ganz im Sinne der Metapher von der Implantierung – sagen läßt: "…wenn jemand nach den Vorschriften der dialektischen Kunst … säet und pflanzt", werde es ihn "so glückselig machen, als einem Menschen nur möglich ist" (276e–277a).

Können wir die dialektische Glückseligkeitslehre auf den Cyberspace übertragen?

 

Goethe.html

 

Kein Problem, meint ein bekannter Hypertext-Theoretiker, wir können das sogar noch besser, da wir nicht auf monologische Mittel beschränkt sind, um Dialoge zu simulieren, sondern sogar Polyloge realisieren können – die platonischen Dialoge seien demgegenüber geradezu verlogen: "The form", schreibt er, "invites the reader to participate in a conversation and then denies him or her full participation."[23] Nun, wie sähe demgegenüber die "full participation" eines Hypertext-Dialoges aus?

Als Beispiel wähle ich die vom Web-Magazin 'FEED' moderierten Dialoge über den elektronischen Text.[24] Im Gegensatz zur seriellen Struktur der platonischen Dialoge konnten die Gesprächsteilnehmer sich im parallelen Web-Chat nach Belieben ins geschriebene Wort fallen. Ein unerfahrener Teilnehmer indessen zeigte sich bald irritiert über die Streu-Effekte des Mediums:

… if I comment on Sven's point, we will then be three times removed from Carolyn's original passage. How will you represent such a complex nested quadralog when the comments appear not in serial form as in an ordinary conversation, but as an interlaced spiral. I feel trapped, because I can't say something to all of you at one time.[25]

 

Doch Carolyn, eine im kommunikativen Multitasking geübte Netzpartnerin, die die monierte Dreifachverstrickung noch "pretty tame by comparison" fand, wußte Trost: "it becomes 'natural' after a while"[26]. Daran ist nicht zu zweifeln. Fragt sich nur, ob dieser Gewöhnungsprozeß einer Erinnerungskultur förderlich ist, ob also die Herrschaft inkludierender Situationen durch die Dezentrierung der auktorialen Dialogform tatsächlich aufgebrochen wird. Der 'FEED'-Dialog offenbarte diesbezüglich ein Dilemma, das mir symptomatisch zu sein scheint: Je vernetzter die Kommunikation, um so stärker ihre Dissoziation. Die virtuelle Gesprächsgemeinschaft zerfiel mit zunehmender Komplexität der Querverweise zu "interest affiliations" – wie es ein Teilnehmer formulierte.[27] Denn der Diskurs wurde nicht mehr durch seinen Verlauf bestimmt, sondern durch die von der Mehrzahl bevorzugten Verzweigungen. Was ins jeweilige Interessengeflecht nicht hineinpaßte, fiel durch die Maschen. So lesen wir in der Fortsetzung des 'FEED'-Dialogs über virtuelle Gemeinschaften:

I'm happy to have Mark and others like him continuing on thinking whatever they like. What do I care? There's always William and others like him to talk to.[28]

 

Man stelle sich vor, wir würden in einem der platonischen Dialoge etwa den Sokrates reden hören:

I'm happy to have Hippias and others like him continuing on thinking whatever they like. What do I care? There's always Platon and others like him to talk to.

 

Mein polemischer Vergleich soll die interessanten Inhalte des 'FEED'-Dialogs nicht mindern. Es geht mir lediglich um die formale Feststellung, daß eine Erinnerungskultur sich in den Hypermedien nicht schon aufgrund ihrer multiplen, unkoordinierten Struktur entwickelt. Aus der Selbstorganisationstheorie wissen wir, daß Teilchen eines ungeordneten Systems allein infolge einer lokalen Interaktion ein "kollektives Gedächtnis" ausbilden können, dem sie sich fügen, ohne hierzu durch ein äußeres Programm veranlaßt zu werden.[29] Die Forscher nennen es das "Versklavungsprinzip"[30].

Kritik an den Versklavungstendenzen des Netzes freilich kann sich gleichwohl im Netz artikulieren. Zum Bei­spiel so: "kathleen@ hat mich auf­gefordert, sie weiterhin auf meiner maillist zu behalten: Sie wolle zwar nicht auf mich eingehen, aber doch weiter von mir hören" klagt "kaspaH", das im Cyberspace lebende Alter Ego eines Mitglieds der Hamburger Telematik Workgroup, in einem poetisch abgefaßten Dialog.[31] Dessen sensible Widerständigkeit gegen die informationstechnische Verwertung lebt just von der Tatsache, daß er sich nicht im "web of trails" verfranst. Wer dagegen den elektronischen Story Space für eine Erfüllung postmoderner Theo­rien der Dezentralisierung und der Intertextualität hält, wie es Hypertext-Enthusiasten tun, der verkürzt das Phänomen der Schrift, aus dessen Analyse diese Theorien hervorgingen, um genau diejenige Dimension, die ihren Reiz ausmachen: die des Nichtfixierbaren. Wenn uns etwa in einem elektronischen Buch über Platons Dialoge mitgeteilt wird, daß "philosophisches Denken nicht notwendig linear"[32] sei, so haben wir es mit der Merkwürdigkeit zu tun, daß ein Medium, das diese Nichtlinearität erstmals angemessen zu repräsentieren vorgibt, noch unterhalb des Einsichtsniveaus bleibt, das lange vor der Erfindung jenes Mediums bereits erreicht war. Die immanente Bewegung der platonischen Dialoge wird durch die technische Positivierung ihrer litera­rischen Strukturen zunichte gemacht. Denn jede intertextuelle Dynamik bedarf einer invarianten Textur, zu der sie sich in ein Span­nungsverhältnis setzen läßt. Der Web-Reader aber dekom­po­niert mit seinen zwangs­läufig blinden Mausklicks – die ansonsten ebenso linear aufeinander folgen wie die um­geblätterten Seiten in einem Buch – diesen illuminie­renden Kontrast­effekt.[33] Der beliebige Eingriff in den Text eines anderen, vulgo: das Dazwischenreden, ist ein wirksames Mittel, um Assoziationsreichtum in eine Dissoziationswüste zu verwandeln. Die Annotation tritt an die Stelle der Konnotation, der multiple Text an die Stelle des vielschichtigen. Polyperspektivik, die keineswegs eine neue Erfindung, sondern – wie wir gesehen haben – in den platonischen Dialogen bereits voll ausgebildet ist, wird durch ihre kybernetische Manifestation nicht erweitert, sondern ungewollt parodiert: Der Web-Chatter hat die Fäden in seiner Hand, fehlt leider nur das geistige Band. Zu den authentischsten Exponaten genuiner Hypertext-Literatur gehören denn auch solche, bei denen das Autor-Subjekt – nach dem Motto:"Ich bin viele" – als Träger des Multiple Personality Syndroms  in Erschei­nung tritt.[34] Offen bleibt freilich auch hier die Frage, ob damit eine neue literarische Qualität gewonnen oder eine in der Moderne längst ausgeprägte bloß kolportiert wird.

Daß die "memex"-Technik, wie sie von ihrem Erfinder genannt wurde,[35] große mnemotechnische Vorteile birgt, steht dabei außer Zweifel. "Volle Partizipation" aber wird nicht durch Gedächtnisstützen erreicht, sondern  oftmals gerade durch deren Unterminierung. Das will ich an meinem zweiten historischen Beispiel demonstrieren.

Goethe war ein Minister, der sich selbst zugleich als eine Art Proto-Hacker im Netzwerk des kulturellen Gedächtnisses begriff – auch wenn er es nicht "Hacken", sondern "Minenlegen" und "Sprengen" nannte.[36] Anläßlich der Eröffnung des neuen Bergbaues zu Ilmenau hatte er eine Rede zu halten – eine protokollarisch festgelegte Gedenkveranstaltung, bei der Improvisation nicht vorgesehen war, und so wurde der Text schon vorher an die Zuhörer verteilt. Goethe hatte seinen Vortrag auswendig gelernt, wie es die seinerzeit immer noch ungebrochene, von Platon erfolglos bekämpfte, Konvention der Rhetorik vorschrieb.[37]

Doch mitten in seiner memorierten Festrede hatte der Minister einen "Blackout". Dergleichen kommt vor – bemerkenswert ist allerdings, wie Goethe damit umging: Er holte, nachdem er seine Erinnerungslücke bemerkte, nicht etwa den Zettel aus der Tasche; er versuchte auch nicht, zu extemporieren, was er spielend gekonnt hätte, sondern – er schwieg. Er schwieg nicht wie einer, der den verlorenen Faden sucht, sondern er "blickte", wie wir aus Augenzeugenberichten wissen, "fest und ruhig in dem Kreise seiner zahlreichen Zuhörer umher" – und das tat er nicht nur einige Sekunden lang, was in einer Vortragssituation gerade noch erträglich ist, sondern er ließ, den Berichten zufolge, seine Zuhörer "wenigstens zehn Minuten lang in einer peinlichen Stille warten".[38]

 

(15 Sek. Schweigen)

 

Als ich einem der Organisatoren der INTERFACE erzählte, daß ich diese Episode erwähnen wollte, sagte er: "Nun kenne ich immerhin schon zehn Minuten deines Vortrags." – Ich will Ihnen die Peinlichkeit ersparen, eine derart große Erinnerungslücke in die Textur meiner Ausführungen zu schneiden [– zumal ich nicht sicher bin, ob mein Schweigen für honorarwürdig befunden werden würde]. Sie können sich aber vielleicht auch so vorstellen, was es heißt, mit den Gepflogenheiten einer inkludierenden Situation in der Weise zu brechen, wie es Goethe tat. Die durchschnittene Textur der Gedenkrede – das scheint er im Moment des Innehaltens geahnt zu haben – ließ die Zuhörer aus ihrer Rezeptionsroutine herausfallen und machte sie zu Beteiligten im Prozeß der Vergegenwärtigung des Vergangenen. Goethes Schweigen war beredt in dem Sinne, daß es zum aktualen Vollzug eines erinnernden Sehens einlud. Seine Amnesie wurde zum Anlaß einer Anamnesis, die offenbarte, was der Text einer Rede nur hätte umschreiben können: die Verwandlung einer inkludierenden Situation in eine implantierende. – Nach zehn Minuten sprach Goethe weiter, als wäre nichts geschehen, und doch konnte er sich einer "full participation" sicher sein.

Will man das Verhalten des Weimarer Ministers auf die Gegebenheiten des Cyberspace übertragen, so müßte man es vielleicht dem eines Hackers mit krimineller Energie vergleichen, der einen Systemausfall herbeiführt. Auch solche Zwangsunterbrechungen unserer Informationsbeschaffungsroutine können schließlich heilsame Besinnungsmomente auslösen. Doch das ostentative Aufbrechen von Textsequenzen ist nicht schiere Sabotage bei Goethe, sondern Bestandteil einer dekonstruktiven Programmatik, die sein gesamtes Werk durchzieht: Die Selbstüberwindung der Schrift zugunsten der aktiven Anschauung. Die Farbenlehre muß man tun, sagt er, und legt seinen Beiträgen zur Optik allerlei Täfelchen und Bastelanleitungen bei, damit die Leser ihre eigenen Erfahrungen mit dem Prisma machen können.

"… ich wünsche", schreibt er, "daß man diese Erscheinungen so lange betrachte, bis man selbst ein Verlangen empfindet, das Gesetz derselben näher einzusehen und sich aus diesem glänzenden Labyrinthe herauszufinden. Alsdann erst wünsche ich, daß man zu den nachstehenden Versuchen überginge" (§ 37).

 

Auch hier fühlen sich Hypermedia-Enthusiasten versucht, mit ähnlichen Argumenten wie dem der angeblichen Überbietung des platonischen durch den Online-Dialog darauf zu verweisen, daß ein Text als Web-Page tatsächlich zum Objekt einer aktiven Anschauung wird: – immer wieder sich selbst durch Steuerungselemente unterbrechend, fordert er den Übergang vom Lesen zum Sehen und vom Sehen zum Tun. Ja – so ließe sich ironisch hinzufügen – selbst Goethes Wunsch, man möge sich mit dem Übergang von einer Erscheinung zur nächsten Zeit lassen, wird durch die bestehenden Netze perfekt bedient: "Click and Wait" heißt die durch Leitungsengpässe bedingte Devise des Internet-Interaktivisten. Von "Transitorischen Turbulenzen"[39], wie sie uns die Medien-Auguren voraussagen, kann bei dieser zyklisch auftretenden Katatonie scheinbar noch nicht die Rede sein.

Doch der Schein trügt. Denn vor jeder nicht prompt erfüllten Feedback-Leistung der Terminals staut sich voller Ungeduld der Wille zum Übergang. Diese Kalamität wird sich, entgegen anderslautenden Beteuerungen der Datenautobahnbauer, verschlimmern. Dafür sorgen mehrere Faktoren: das im Verhältnis zu den Hardware-Kapazitäten stets disproportionale Anwachsen der Datenmengen, die gebührentreibende Verkürzung des Zeittakts für Ortsgespräche, insbesondere aber die schon von Beobachtungen über das Channel-Switching her bekannte Erhöhung der emotionalen Erregung, die das Abwartenkönnen, den Sinn für die Gegenwart, schwächt. Und eben in dieser sich überschlagenden Ungeduld beim Warten auf das kommende Bild besteht der prinzipielle Unterschied zur Goetheschen Insistenz vor dem unaufgelösten Phänomen: Während hier das Innehalten die produktive Einbildungskraft aktivierte, absorbiert es sie dort, da sich alle inneren Energien auf die Überbrückung des Zeitintervalls zusammenziehen.[40] Die den Betrachter bewegende Frage lautet nicht mehr: "Was ist auf diesem Bild zu sehen?", sondern: "Was ist auf dem nächsten Bild zu sehen?"[41] Ganz gleich, wie rasch der Wechsel der Screens im Cyberspace vonstatten geht: die Situation am Datenterminal bleibt inkludierend, solange sie die Aktivitäten des Users der Taktrate der maschinellen Feedbacks unterwirft. Das tut sie weit mehr, als uns bewußt wird. Denn die vermeintliche Interaktivität heutiger Systeme ist meist nur eine verkappte Reaktivität, gehobenes Channelswitching, das den Impulsen gehorcht, die von den Terminals angeboten werden, "so daß der Anblick der wechselnden Screens genügt, um sie auszulösen".[42] Eine implantierende Situation im Cyberspace beruht demgegenüber nicht auf einer größeren Mobilität, sondern auf einem Innehalten der Wahrnehmung.[43]

 

 

Bergson.html

 

Um diese Behauptung plausibler zu machen und Konsequenzen für ein entsprechendes Interface-Design aus ihr zu ziehen, dient mein dritter kulturhistorischer Knotenpunkt:

Henri Bergson bewies als erfolgreicher Diplomat Minister-Eigenschaften und als Dissident der Schulphilosophie Hackerqualitäten. Er differenzierte in einer frühen Auseinandesetzung mit dem Kinematographen, also des technisch realisierten Bewegungsbildes, zwischen einem automatischen Wiedererkennen, das lediglich ein eingeübtes sensomotorisches Verhalten reproduziert, und einem attentiven Wiedererkennen, das diesen Automatismus durchbricht zugunsten eines unwillkürlichen Innewerdens der Zeit – nicht der mathematischen, durch Raumkoordinaten charakterisierten Zeit, sondern der Zeit als "durée", wie sie im Erlebnis der Selbstverwandlung aufsteigt.[44] Um ein Beispiel Bergsons aufzugreifen:[45]

 

Wenn ich meine Hand von hier nach dort bewege, wie es während meines Vortrags des öfteren – rein mechanisch – geschah, dann beruht die Fähigkeit zur Wiederholung der Bewegung auf einem automatischen Wiedererkennen. Der Versuch, sie gedanklich nachzuvollziehen führt leicht zu der falschen Vorstellung, es handle sich um eine unendliche Folge von Ruhepunkten im Raum.

 

(Staccatoartige Handbewegung von links nach rechts.)

 

Bergson nennt dies die "kinematographische Illusion"[46], weil es so scheint, als würden die einzelnen Bewegungsmomente wie die Phasenbilder eines Films vor unserem Auge ablaufen.

Wenn ich dagegen meine Hand – so wie jetzt – mitten in der Bewegung bewußt anhalte, dann mache ich just im Moment des Anhaltens die leibliche Erfahrung der zuvor nur mechanisch ablaufenden Bewegung: Die willkürliche Unterbrechung weckt die Aufmerksamkeit für das Nachempfinden der soeben noch äußerlich vollzogenen Aktivität. Dieses attentive Wiedererkennen durch die Vorstellung einer Reihe von Phasenbildern erklären zu wollen, wäre ein absurder Gedanke, denn eine solche äußere Bewegung findet ja gar nicht statt. Es handelt sich vielmehr um ein psychophysisches Geschehen, das von der Mechanik des sensomotorischen Reiz-Reaktions-Schemas suspendiert ist.

 

Das Wiedererkennen mit Aufmerksamkeit beschreibt Bergson denn auch als ein Erlebnis der Befreiung, und in der Romanwelt Prousts haben dessen glückshafte Momente ihr Medium gefunden.

Warum soll das in der Netzwelt nicht seine gesteigerte Fortsetzung finden? Es gibt Cybermystiker, die fest daran glauben[47] – allerdings haben sie uns noch nichts genaueres über den rechten Weg zum Ziel verraten können. Auf jeden Fall dürfte Bergsons Unterscheidung der beiden Typen des Wiedererkennens ein besserer Leitfaden fürs Noviziat sein als ein – William Gibsons Sarkasmus verkennendes – Halleluja auf die "Simstim"-Technologie. Solange nämlich das Prinzip der Interaktivität nur unseren sensomotorischen Apparat bedient, bleibt es im Inklusionsrahmen des Gedächtnisses.[48] Das Kino hat sich daraus befreit, indem es die Schemata der automatischen Wiedererkennung selbstreferentiell zur Darstellung brachte; das Klischee des Bewegungsbildes konnte durch Erstarrung seine Klischeehaftigkeit offenbaren und so zum Zeitbild werden, das die Bildbewegung an die Imagination delegiert, statt sie mechanisch zu reproduzieren.[49]

Allein – auch dieses historische Exempel einer selbstbezüglichen Medienkritik können wir nicht umstandslos auf die Netzwelten übertragen. Eine Ästhetik der Hypermedien bedarf ihrer eigenen Verfahren der Selbsstranszendierung. Gültig indessen bleibt das Postulat eines Zeitbildes, das durchs Anhalten zum erinnernden Sehen[50] einlädt – analog zum aporetischen Erstarrenlassen des Sokrates, zum insistierenden Anschauen Goethes und zum attentiven Wiedererkennen Bergsons. Könnte es realisiert werden, ließen sich die von mir anhand historischer Vergleiche kritisierten Schwächen einzelner Interface-Technologien in Stärken verwandeln.

Wenn ich abschließend versuche, meine Überlegungen in einer entsprechenden Richtlinie zu bündeln, so geschieht dies in dem Bewußtsein, der bereits vorhandenen Fülle positiver Ansätze nicht gerecht werden zu können. Ich muß mich auf wenige Bemerkungen prinzipieller Natur beschränken.

Die kanonischen Interface-Guidelines bleiben davon übrigens unberührt: Topographische Konsistenz und Komplexitätsreduktion, Anregung und Feedback, Fehlertoleranz und andere Entspannungsfaktoren sind nach den Erkenntnissen moderner Lernforschung gute Mnemotechniken.[51] Wenn sie aber ihrem Anspruch genügen wollen, die sogenannten "Human Factors" zu unterstützen, dann müssen sie zugleich die beiden folgenden Maximen erfüllen:

 

1) Erinnerungslücken erfahrbar zu machen und

 

2) ihre individuelle Ausgestaltung zu veranlassen.

 

Zur ersten Maxime:

Daß der Cyberspace Erinnerungslücken hat, kommt in seiner zunehmend engermaschigen Verknüpfung auch durch Meldungen wie "Error 404 – File not found" nicht zu Bewußtsein. Netzanbieter und Interface-Designer tun alles, um nur ja keine Leere aufkommen zu lassen. Doch allein der horror vacui, dem sie zu entrinnen suchen,[52] ist es, der uns veranlassen kann, die Oberfläche der konditionierten Alltagswahrnehmung zu durchdringen. Wer als permanent Fündiger von einem Host zum nächsten, von Raster zu Cluster springt, der verhält sich wie einer, der permanent neue Quellen anbohrt: er kann sie nicht ausschöpfen, da sie ihn überschütten.[53]

Wie aber können Erinnerungslücken zu Bewußtsein gebracht werden?

Zunächst einmal gilt es, die Unterstellung der Auffindbarkeit und totalen Sichtbarkeit zu relativieren. Die Aufgabe einer anamnetischen Interface-Gestaltung wäre es, hintergründig daran zu erinnern, daß die mnemonischen Konstrukte eine vordergründige Illusion sind. Sie hat die Tatsache vor die Sinne zu führen, daß alles, was sich im Cyberspace repräsentieren läßt, seiner Struktur nach auf Zwecke zugeschnitten ist – seien es die Zwecke der Information oder der Kommunkation, der Edukation oder des Entertainment. Oft wird uns aber ein "Rührei"[54] wie "Edu-Infotainment"[55] angeboten, das die funktionalen Grenzen unkenntlich macht statt sie durch Transparenz einer Transzendenz zuzuführen.[56] Der Effekt ist eine zunehmende, weil undurchschaute Auslieferung an die Inklusionsmacht des Mediums. Die Erfahrung einer freien Selbstentfaltung hingegen, die sich zweifellos im Netz einstellen kann, lebt aus der Reflexion auf die Reduktionen seiner inkludierenden Struktur.

Und das Kenntlichmachen von Reduktionen ist eine ästhetische Angelegenheit. Jedes gelungene Kunstwerk ist ein Beleg für die Devise, daß Verknappung dem Stil zugute kommt. Dem Cyberspaß aber läuft sie diametral zuwider. Der virtuelle Biedersinn wünscht sich üppige Bilderkost als Entschädigung für den grauen Alltag. Daß er sich dadurch nur um so mehr seiner leeren Mechanik ausliefert, wird ihm kaum bewußt. Gerade deshalb sind Arrangements vonnöten, die den naiven Glauben zunichte machen, der Zuwachs an Sichtbarkeit sei gleichbedeutend mit einer Horizonterweiterung. Nur dort wo Lücke ist und Leerstelle, Torso und Fragment, kann eine supplementäre Ergänzung durch die Imagination des Betrachters stattfinden – ein Erinnerungsakt katexochen, der eine Selbsttransformation bewirkt.[57] Freilich dürfte der Mehraufwand, der für die Präsentation des Wenigerseins nötig ist, zu den schwierigsten Design-Aufgaben gehören.

Über Klänge sage ich hier keinen Ton, denn akustische Probleme scheint es in den Netzen derzeit schon aus Kapazitätsgründen nicht zu geben. Nur soviel sei angemerkt: Stille, die Grundlage aller klassischen Kontemplationstechniken, ist nicht mit bloßer Geräuschvermeidung zu verwechseln – oft bedarf es auditiver Kontrastmittel, um ihre Wahrnehmung zu ermöglichen. Wer aber meint, die mit 'Real Time Audio' befahrbaren, Datenautobahnen der Zukunft durch Signallaute navigationssicherer zu machen, dürfte sich täuschen. Verkehrspsychologen wissen: Übermäßiges Gehupe erzieht zur Achtlosigkeit.

Entsprechendes gilt für die optische Orientierung. Ein Zuviel an Raummetaphorik macht orientierungslos, da sie den falschen Eindruck der visuellen Repräsentierbarkeit erweckt. Der Cyberspace ist zwar, technisch betrachtet, ein streng logischer Raum mit notwendig eindeutigen Adressen. Phänomenologisch aber ist er ebensosehr "Unort"[58] wie "Metaversum". Authentisch erinnert wird er deshalb nur als "The place between".[59] Nur ein immer wieder aufgebrochener und derart dynamisierter Raumeindruck vermag das Wahrnehmungsdiktat der Zentralperspektive – das im Cyberspace mit einer penetranten Selbstverständlichkeit wiederkehrt, nachdem sich die Kunst in einem jahrhundertelangen Emanzipationsprozeß von ihr befreit hatte – zu durchbrechen und ein Gefühl der Anwesenheit zu vermitteln, das erst durch die Transformation von räumlichem in zeitliches Erleben zustande kommt. Zu favorisieren sind daher Interfaces, die einem Hypermedia-Spaziergänger vor Augen führen, daß er seinen Weg durch seinen Raum geht, und das heißt: daß es seine Zeit ist, die verstreicht. Erst durch die visuelle Konfrontation mit seinem eigenen Tun öffnet er sich für die Bewegung des Erinnerns.

 

Damit komme ich zu meiner zweiten Maxime: der Veranlassung zur individuellen Ausgestaltung.

Interaktive Medien bieten gegenüber herkömmlichen Techniken der Kinematographie die Chance, in den Bewegungsfluß der Bilder einzugreifen und so den äußeren Rhythmus der medialen Präsentation mit dem individuellen Zeitmaß innerer Aktivitäten in Übereinstimmung zu bringen. Aber diese Chance wird erst dann genutzt, wenn die – auch etwa bei Kino und Fernsehen stets vorhande – Eigenaktivität auch bewußt als solche erfahren wird. Und das wird sie erst im Prozeß der eigenen Formgebung. Alles kreative Gestalten ist genuines Erinnern. Denn Mnemosyne ist die Mutter der Musen. So können auch die an sich leblosen Gedächtnisobjekte elektronischer Informationssysteme durch die formende Hereinnahme in die persönliche Situation energetisch aufgeladen und in Erinnerungsmedien verwandelt werden.[60]

Bei Wohnungen ist es selbstverständlich, daß wir sie durch individuelle Einrichtung zu Komponenten unserer Lebensgeschichte machen. Bei Medien freilich, die von Mehreren benutzt werden, führt das zu Konflikten. Deshalb sehen die meisten Informationssysteme so anonym aus wie die Zimmer großer Hotelketten: Man fühlt sich nicht zuhause darin, aber gerade ob des Mangels an situativer Individualität findet man sich allerorten sofort zurecht: Man ist wenigstens überall auf eine vertraute Art nicht zu Hause. Dieser Kompromiß ist im Bereich der Hypermedien entbehrlich geworden: Der Stand der Interface-Technologie gestattet es, in diesem Sinne über Bookmarks und Wegmarkierungen auf Hypertextseiten oder Rollenspielplätze und "private Rooms" in MUDs und MOOs noch hinauszugehen und – bei gleichbleibender Grundstruktur der zentral angebotenen Daten – individuelle Gestaltungsräume zu bieten – ohne Zumutung für andere und ohne Scheu vor der Zudringlichkeit der anderen. Das Erinnern benötigt eine Sphäre des Geheimnisses, der "Intimation"[61]. Erst wer sich ermutigt fühlt, seine persönlichen Layouts und Working-Spaces zu kreieren, verwandelt Daten, also Gebenes, in Fakten, also gemachtes Wissen. Er bildet sich aus den anonymen Gedächtnisarchitekturen seine eigene Topographie, und dadurch wird sie erinnerbar als Teil seiner Biographie. Selbstverständlich ist dies nur eine der Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, um das Netz durch die eigene Lebensgeschichte zu intimisieren. Sie verfehlt ihren Zweck, wenn sie sich in einer Homepage-Häuslebauer-Mentalität erschöpft. Als privatistischer Human Touch würde die Einrichtung der eigenen Web-Site den Archivcharakter des Cyberspace nur kosmetisch überdecken und mumifizieren, wie es heute vielfach geschieht,[62] statt ihn der kulturhistorischen Reflexion zu erschließen. Gerade der Selbstbezug der individuellen Interface-Gestaltung aber kann einen Bezug zur Netzwelt und ihrer Geschichte stiften.[63] Angemessene Authoring-Tools wären solche, die den Benutzer nicht in die falsche Heimat eines "Metaversums" umziehen lassen, sondern sein Bewußtsein für das Vorhandensein einer Schnitt-Stelle wecken, das ihn zu der produktiven Eigeninitiative veranlaßt, die nötig ist, um den Übergang von der inkludierenden zur implantierenden Situation zu vollziehen.

Soviel – oder so wenig – in der gebotenen Kürze zu meinen beiden Maximen.

 

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Lassen Sie mich kurz zusammenfassen: Ob der Netzverkehr auf einen restlos inkludierenden "Master-Slave"-Betrieb hinauslaufen muß oder ob er dagegen immer wieder implantierende "Host-Client"-Beziehungen zuläßt, entzieht sich weitgehend unserer Kontrolle.[64] Aber nicht ganz. Gegen die These von der situationsdeterminierenden Macht technischer Medien ist die nicht minder kulturhistorisch belegbare Erfahrung zu setzen, daß jedes Medium fähig ist zur Selbsttranzendenz seiner Inklusionen. Das wird nicht immer gleich zu mystischen Ekstasen führen. Ein Schritt in die richtige Richtung aber wäre es, durch ein entsprechendes Interface-Design die Erinnerungslücken der Netze transparent zu machen anstatt sie durch Eye-Catcher zu tarnen und damit den freien Flug der Phantasie zu hemmen – vergleichbar den Spinnennetzen, die ultraviolettes Licht reflektieren, um ihre Beute anzulocken.

Was dazu gehört, das eine zu tun und das andere zu vermeiden, habe ich mit meinen Ausführungen nur lückenhaft andeuten können. All die positiven Beispiele, die wir Gelegenheit haben, uns in diesen Tagen anzusehen, mußte ich hier unerwähnt lassen. So kann ich – nun selbst vom Netz meiner Vortragstextur gehend – nur hoffen, daß Sie die Leerstellen in meinen Ausführungen auch als Erinnerungslücken erfahren haben, die Ihrer Phantasie reichlich zu wünschen übrig lassen.



[1]Ungekürzte Fassung des auf der Interface III in Hamburg am 1.11.1995 vorgetragenen Textes. Da ich das Phänomen des Erinnerns hier performativ demonstriere, habe ich den Vortragsstil – abgesehen von der Hinzufügung der Fußnoten – auch für den Druck beibehalten. LeserInnen dieses Textes sind also darauf angewiesen, eine real nicht vorhandene Situation zu imaginieren. Daß dies ohne weiteres möglich ist, gehört zu den Grundvoraussetzungen, auf die ich meine These stütze.

[2]So Jan Assmann (Das kulturelle Gedächtnis; München 1992, S. 18) in bewußter Anspielung auf die konnektionistischen Gedächtnismodelle der aktuellen Neuro-, Kognitions- und Computerwissenschaften (S. 22) – die ihrerseits offenbar nicht ohne soziale Metaphern für die von ihnen untersuchten Vernetzungsstrukturen auskommen (z.B. Minsky, Marvin: The Society of Mind; New York 1985 oder Gazzaniga, M.S.: The Social Brain; New York 1985).

[3]So kann gerade das neue Phänomen der computertechnischen Vernetzung zum Anlaß werden, diese urspüngliche Bedeutung zu erinnern – wie z.B. in der Hypertext-Installation von Gérard Mermoz (http://www.hfbk.uni-hamburg.de/interface3/participants/mermoz/barthes/ht.html), die den Satz "The metaphor of the text is that of the network" technisch realisiert. Das Originalzitat ist aus Barthes, Roland: De l'oeuvre au texte. In: Revue d'Esthétioque Nr. 3 (1971), S. 225–233, hier S. 230.

[4]Vgl. die Differenzierung in "latente und intendierte Intertextualität" bei Renate Lachmann: Gedächtnis und Literatur; Frankfurt am Main 1990, S. 57.

[5]Vgl. Iser, Wolfgang: Die Appellstruktur der Texte; Der Lesevorgang; Die Wirklichkeit der Fiktion. Elemente eines funktionsgeschichtlichen Textmodells; Konstanz 1971, S. 33 f.

[6]So Hegel (Werke; Frankfurt am Main 1979, Bd. 19, S. 44) in Abgrenzung zum "Beinhaus" des Gedächtnisses (Bd. 1, S. 346).

[7]Daß z.B. beim fließenden Lesen die nicht erfaßten Zwischenräume durch Erinnerungsbilder gefüllt werden, ist seit langem experimentell nachgewiesen. Vgl. Cattell, James McKeen: Über die Zeit der Erkennung von Schriftzeichen. In: Wundt, Wilhelm (Hg.): Philosophische Studien. Zweiter Band; Leipzig 1885, S. 635–650.

[8]Die Beschreibung "virtueller Realitäten", das wird in ihrer aktuellen Diskussion leicht übersehen, ist also für die Philosophiegeschichte nichts neues, wie etwa Platons Höhlengleichnis, Leibniz' Theodizee (insbes. §§ 414–416) oder Cassirers Philosophie der symbolischen Formen beweisen. Vgl. Welsch, Wolfgang: Künstliche Paradiese? Betrachtungen zur Welt der elektronischen Medien – und zu anderen Welten. In: Paragrana 4 (1995), S. 255–277.

[9]Patrick Bahners, FAZ 16.1.95, S. 27.

[10]Diesen Terminus und sein im folgenden erläutertes Pendant verdanke ich einer brieflichen Mitteilung von Hermann Schmitz, der dazu in absehbarer Zeit eine Arbeit veröffentlichen wird.

[11]S. vorige Anmerkung.

[12]http://www.townhall.com/pff/position.html.

[13]Kritiker sehen denn auch in der Magna Carta eine "offene Handelskriegserklärung" (Friedrich Kittler, FAZ, 9.9.95, S. 29) oder gar die Gründungsakte eines Regimes von Räuberbaronen (Moore, Richard K.: Cyberspce Inc and the Robber Baron Age. An Analysis of PFF's "Magna Carta". In: Information Society, Vol 12.2, 1995). Eine Konsequenz zieht Horst Bredekamp, der die Kritik an der Magna Carta und dem "Mehlstaub ihrer Theologismen" zum Anlaß nimmt, eine "neue Bildpädagogik" zu postulieren: ein "Training des Auges, alles Bildliche als Metapher zu begreifen" (FAZ, 3.2.1996, Beilage). Meine Ausführungen tendieren in dieselbe Richtung.

[14]Über die Hintergründe der Magna Carta und die verschleierte Autorschaft der PFF, die sich hinter den angeblichen vier "co-authors" verbirgt, habe ich berichtet in Frankfurter Rundschau, 30.11.1995, S. 10.

[15]Vgl. Rheingold, Howard: Virtuelle Gemeinschaft; Bonn, Paris, Reading (Mass.) u.a. 1994.

[16]So das Editorial 10/95 des Telekom-Magazins mit dem – zur gebührenträchtigen Netzkommunikation einladenden – Titel com!

[17]Auch dies ist eine Spielart des Phänomens, das beschrieben wird in Sennett, Richard: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität; Frankfurt am Main 1991.

[18]Diese Öffnung zum weltweiten Internet wurde denn auch prompt von Systemgegenern genutzt. Vgl. Higgins, Andrew: China tries to shut out Internet Anarchy. In: The Guardian, 4.9.1995, p. 7.

[19]Vgl. Goldmann, Stefan: Statt Totenklage Gedächtnis. Zur Erfindung der Mnemotechnik durch Simonides von Keos. In: Poetica 21 (1989), S. 43–66.

[20]Einen Überblick  über den aktuellen Stand der Diskussion gibt Thiel, Detlef: Platons hypomnemata. Die Genese des Platonismus aus dem Gedächtnis der Schrift; Freiburg/München 1993.

[21]http://www.hfbk.uni-hamburg.de/interface3/paticipants/telematicWorkgroup/mesh/950807m1.html. Die Quellenangabe ist allerdings falsch. Statt "249E–250D" muß es heißen: 274c–275b.

[22]Bisweilen treibt Platon die – übrigens durchaus rhetorische – Figur der Paradoxie ins Extrem: "Von mir selbst wenigstens", heißt es im 7. Brief, "gibt es keine Schrift über diese Gegenstände, noch dürfte eine erscheinen; läßt es sich doch in keiner Weise, wie andere Kenntnisse, in Worte fassen". Es gibt sie, diese Schrift von ihm, sie ist in Worte gefaßt – und doch vermag sie ihr textuelles Gewebe so zu präsentieren, daß es seine Erinnerungslücken offenbart. Platon setzt also mit seiner Erinnerungstechnik auf das – wie er sagt – "Sichhineinleben", durch das ein "plötzlich entzündetes Licht in der Seele sich erzeugt und dann durch sich selbst Nahrung erhält" (341c–d).

[23]Bolter, J. David: Writing Space; Hillsdale (NJ) 1991, S. 111.

[24] http://www.emedia.net/feed/95.05dialog1.html und folgende.

[25]Robert Stein, a.a.O.

[26]Caroly Guyer, a.a.O.

[27]Sven Birkerts, a.a.O.

[28]Stacy Horn, a.a.O.

[29]Vgl. Schweitzer, Frank: Selbstorganisation und Information. In: Krapp, H. / Wägenbaur, Th.  (Hg.): Komplexität und Selbstorganisation – Chaos in Natur- und Kulturwissenschaften; Tübingen 1995.

[30]Haken, Hermann: Synergetics. An Introduction; 2. Aufl. Berlin 1978.

[31]Catherine de Courten: http://www.hfbk.uni-hamburg.de/TelematikWWW/twg/KasaH/KaspaHome.html.

[32]Kolb, David: Socrates in the Labyrinth; Cambridge 1995.

[33]Differenziertere Hypertexttheoretiker stützen ihre Begründung für die Innovationskraft des Mediums denn auch weniger auf das Phänomen der Vielschichtigkeit literarischer Strukturen, die durch den elektronischen Writing Space eher nivelliert wird, sondern auf das Prinzip der Simultanproduktion. Aber auch die "Interactive Fiction" ist nichts wirklich Neues – erinnert sei etwa an den Scriblerus Club, dem Jonathan Swift und Alexander Pope angehörten.

[34]Ein symptomatisches Beispiel hierfür ist der Hypertext von Shelly Jackson: Patchwork Girl; Watertown (MA) 1995, der in vielen Zügen dem klinischen Erscheinungsbild des MPS entspricht: Vgl. Casey, Joan Frances: Ich bin viele; Reinbek bei Hamburg 1992 oder Huber, Michaela: Multiple Persönlichkeiten; Frankfurt am Main 1995, die als eines der wichtigsten Kriterien für diese dramatische Form der Abspaltung und Verdrängung nennt, was auch den routinierten Web-Chatter auszeichnet: "Gut dissoziieren können" (S. 41).

[35]Bush, Vannevar: As We May Think. In: Atlantic Monthly Nr. 176, July 1945, S.101–108.

[36]Vgl. zum Motiv der Dichtung als Sprengstoff für das kulturelle Gedächtnis bei Goethe meinen Aufsatz: Goethes Lebens-Erinnerungen. In: Naturstücke. Zur Kulturgeschichte der Natur; Stuttgart 1996.

[37] Kritik an diesem mechanischen Gebrauch des künstlichen Gedächtnisses kam nur gelegentlich auf, etwa bei Augustinus oder bei Leibniz, der feststellte: "Die Menschen handeln wie die unvernünftigen Tiere, insoweit die Verkettungen ihrer Perzeptionen lediglich nach dem Prinzip des Gedächtnisses erfolgen" (Monadologie § 28). Goethe war nach dem ihm durch Leibniz vermittelten Platon einer der ersten gewesen, der diese starren Verkettungen aufbrach. Vgl. Assmann, Aleida / Assmann, Jan: Schrift [Wörterbuchartikel]. In: Ritter, Joachim / Gründer, Karlfried (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8 R–Sc; Basel Stuttgart 1992, Sp. 1417–1431.

[38]Zit. nach: Goethes Reden. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Gert Ueding; Frankfurt am Main 1994, S. 183.

[39]Reck, Hans-Ulrich: Transitorische Turbulenzen. Konstruktionen des Erinnerns. In: Kunstforum 127 (1994), S. 82–119.

[40]Während sich Goethe mit Sinnesprothesen konfrontiert sah, von deren kritischer Reflexion er als Gegenbewegung eine Aktivierung der Phantasie erhoffte, arbeiten die kinematographischen Medien – nach einem Wort Kafkas – mit "Phantasieprothesen" (nach Janouch, Gustav: Gespräche mit Kafka. Aufzeichnungen und Erinnerungen; Frankfurt am Main 1968, S.214), die eine solche Gegenbewegungen von vornherein absorbieren. Die imaginative Bewegung der Erinnerungsbilder ist in das Gedächtnis äußerlicher Bildfolgen übergegangen. Diese alte Beobachtung wird auch durch neuere Untersuchungen bestätigt (vgl. Derrick de Kerckhove: Schriftgeburten. Vom Alphabet zum Computer; München 1995).

[41] Deleuze, Gilles: Das Zeit-Bild. Kino 2; Frankfurt am Main 1991, S. 348. (Deleuze bezieht sich hier auf die Wahrnehmungsweise des konventionellen Films).

[42]Ebda., S. 64.

[43] Auch wenn wir dermaleinst – wie es die Cyberdesigns der gegenwärtigen Science-Fiction-Literatur vorstellig machen – in simulierter "Echtzeit" das "Metaversum" (vgl. Stephenson, Neil: Snow Crash, S. 33) durchfahren oder per "Simstim" im "Sense/Net" (vgl. Gibson, William: Neuromancer, S. 80) navigieren, werden wir dem Phänomen der erinnernd erlebten Zeit keinen Deut näher kommen. M.E. steht daher Gibsons "Simstim" zu Unrecht an der Spitze der Koordinate "Lebendigkeit" in der "Interaktivitäts-Matrix" von Wulf Halbach (Interfaces. Medien- und kommunikationstheoretische Elemente einer Interface-Theorie; München 1994, S. 173).

[44]Vgl. Bergson, a.a.O., S. 78.

[45]Vgl. ebda., S. 184f.

[46]Bergson beschreibt sie folgendermaßen: "Von der vorübergleitenden Realität nehmen wir sozusagen Momentbilder auf, und weil diese die Realität charakteristisch zum Ausdruck bringen, genügt es uns, sie längs eines abstrakten … auf dem Grunde des Erkenntnisapparates liegenden Werdens aufzureihen … Ob es sich nun darum handle, das Werden zu denken oder auszudrücken, ja, es wahrzunehmen – wir tun nichts weiter, als einen inneren Kinematographen in Tätigkeit zu setzen" (Schöpferische Entwicklung; Jena 1912. S. 305).

[47]Wie Timothy Leary und andere sieht etwa auch Stanislav Grof in den "virtuellen Realitäten" die revolutionäre Möglichkeit, mit technischen Mitteln den "anderen Bewußtseinszustand" zu erlangen, so daß dank der neuen Medien nun auch der abendländische Mensch zum Mystiker werden könne (vgl. Consciousness, Research and Electronic Media. In: Expedition 92; Wien 1993). Vgl. kritisch hierzu Peter Lamborn Wilson in diesem Band.

[48]Der zunehmende "Realismus" der Animationstechniken erhöht nicht, sondern mindert die psychische Intensität der Wahrnehmung. Vgl. Keil-Slawik, Reinhard: Das Gedächtnis lernt laufen – Vom Kerbholz zur virtuellen Realität. In: Faßler, Manfred / Halbach, Wulf R. (Hg.): Cyberspace. Gemeinschaften - Virtuelle Kolonien - Öffentlichkeiten; München 1994, S. 207–227, hier S. 208. Daß die Konzentration auf Weniges und Wesentliches die Wahrnehmung steigert, wußten freilich schon die Theoretiker des Florentinischen disegno. Der Charme, den das World Wide Web derzeit noch besitzt, beruht nicht zuletzt auf dem speicherökonomischen Zwang zu einer entsprechenden Beschränkung des Reizpektrums, das die Eigenbewegung der Sinne herausfordert. Mit der Beseitung der Datenengpässe wird auch dieser Vorzug verschwinden.

[49]Vgl. Deleuze, a.a.O. Die Einsicht, daß Bilder, insbesondere bewegte Bilder, die Imagination töten, ist also noch kein Argument gegen die Kinematographie. Auf ihr beruhen so unterschiedliche Filme zum Erinnern wie Claude Lanzmanns Shoah oder – mit einer inflationistischen Variante des Bilderverbots – Chris. Markers Sans Soleil. Deleuze nennt zahlreiche weitere Beispiele.

[50]Vgl. Boehm, Gottfried: Mnemosyne. Zur Kategorie des erinnernden Sehens. In: ders./Stierle, K.-H./Winter, G. (Hg.): Modernität und Tradition. Festschrift für Max Imdahl zum 60. Geburtstag; München 1985, S. 37–59.

[51]Vgl. Lewell, John: A–Z guide to computer graphics; New York u.a. 1985, Stichwort "Human factors". Vgl. Foley, James D. et al.: Computer Graphics: Principles and Practice; 2. Aufl. Reading (Mass.) 1990, insbes. Kap. 9. Die Kritik an diesen Richtlinien im Namen eines Paradigmenwechsels von der "direkten Manipulation" zum "indirekten Management" (Alan Kay) erfüllt nur scheinbar die von mir erhobene Forderung einer Transzendierung der Gedächtnis- zugunsten einer Erinnerungstechnik. "Intelligente Agenten" etwa sind nichts anderes als Speichertechniken, die aber als solche weniger klar in Erscheinung treten. Die Trennschärfe geht verloren – und damit der von mir postulierte Kontrasteffekt einer produktiven Entgegensetzung.

[52]Explizit etwa in der CD-ROM von Donald A. Norman zum Interface-Design: first person; New York 1994.

[53]Die vielgerühmte "Verflüssigung" der Daten durch elektronische Medien macht sie also nicht unbedingt bekömmlicher. Clifford Stoll vergleicht die Informationssuche im Internet mit dem Trinken aus einem Feuerwehrschlauch: "Man macht sich sehr naß, bleibt aber durstig" (Spiegel-TV Reportage v. 21.11.1995).

[54]So Friedrich Schlegels Verdikt über Novalis' Enzyklopädistik im Brief an Friedrich Schleiermacher v. Ende Juli 1798, zit. nach Körner, Josef (Hg.): Krisenjahre der Frühromantik. Briefe aus dem Schlegelkreis; 2. Aufl. Bern und München 1969, Bd. 1, S. 7.

[55]So der Titel einer Rubrik im Computermagazin MacUp.

[56]Dies scheint mir das Hauptproblem von wildwuchernden Enzyklopädie-Projekten wie etwa Ludibrium, das auf dem sogenannten Polimnia-Konzept (http://www.is.in-berlin.de/~Meus/polim) beruht, zu sein. Zur Begründung vgl. meinen Aufsatz: Aufhebung der Enzyklopädie im Expertensystem? In: Enzyklopädie und Emanzipation. Das Ganze wissen; Köln 1988 [=DIALEKTIK 16 (1988)], S. 56–76.

[57]Auf diese kulturgeschichtliche Tradition rekurriert die Schlußzeile in Rilkes Gedicht Archaischer Torso des Apoll: "Du mußt dein Leben ändern."

[58]So, in Anspielung auf den Begriff der Utopie, Gundolf Freyermuth in seinem neuen Buch Cyberland; Reinbek bei Hamburg (im Druck).

[59]Bruce Sterling: The Hacker Crackdown; gopher://oak.zilker.net:70/11bruces/hackcrack.

[60]Auf diesen Transformationsprozeß setzt etwa das Projekt von Gregory Ulmer "Show Your Fetish" (http://www.hfbk.uni-hamburg.de/interface3/participants/ulmer/fetish.html).

[61].So der Versuch Jacques Derridas, Hegels Begriff der Erinnerung ins Französische zu übersetzen, changierend zwischen den Bedeutungen des Gebots und der Hereinnahme ins eigene Innere (Mémoires. Für Paul de Man; Böhlau 1988, S. 60).

[62]Ein Beispiel hierfür ist das Web-Projekt "Memopolis" (http://rsls8.sprachlit.uni-regensburg.de/~c3055/MEMOPOLIS/polis.html), das unter dem Motto steht: "verewigen Sie sich!"

[63]Vgl. den Beitrag von Wolfgang Schirmacher in diesem Band, der den Zusammenhang von Selbstbezug und Weltbezug an der Leibnizschen Monadologie verdeutlicht und für den Cyberspace reaktualisiert.

[64]So hat Friedrich Kittler in einer Kritik der Magna Carta eindringlich die Parallelen zwischen ökonomischer Monopolisierungstendenz und der Entwicklung der Prozessorarchitekturen dargelegt. Vgl. FAZ, 9.9.1995, S. 29.