Peter Matussek

Goethes Lebens-Erinnerungen

 


Erschienen in: Ingensiep, Hans Werner / Hoppe-Sailer, Richard (Hg.): NaturStücke. Zur Kulturgeschichte der Natur; Ostfildern 1996, S. 135–167.

 

     
 

Wenige Wochen nach seinem sechzigsten Geburtstag entwirft Goethe ein Schema seiner Biographie. Offenbar hält er die Zeit für gekommen, Rückschau zu halten. Das erscheint verfrüht, wenn man bedenkt, daß er seine Hauptwerke, den Diwan, die Wanderjahre, den Faust II noch vor sich hat. Doch das eine hängt mit dem anderen zusammen: Goethe schreibt seine Lebenserinnerungen nicht obwohl, sondern weil er große Projekte vor sich hat. Er vollzieht die Retrospektive nicht im Interesse einer abschließenden Bilanz, sondern des Aufspürens kreativer Impulse. Im folgenden soll gezeigt werden, daß Goethe dieses Aufspüren schöpferischer Quellen durch eine Erinnerungstechnik vollzieht, die den faktischen Gang des äußeren Lebens in bestimmter Weise transzendiert. Erinnerung der eigenen "Vita" heißt bei ihm: Innewerden der lebendigen Naturproduktivität – nicht im abstrakten Zugriff auf das "große Ganze", sondern durch Bewußtmachung der Bedingtheit des kulturellen Gedächtnisses.

Der Ansatzpunkt hierfür ist eine Besinnung auf die Diskrepanz zwischen Lebensplanung und Lebenslauf. Der rechte Zeitpunkt für das Schreiben einer Selbstbiographie, sagt er deshalb, sei derjenige, wo wir "noch nah genug an unsern Irrtümern und Fehlern stehn. Wie man sich aber aus jeder gegründeten oder grundlosen hypochondrischen Ansicht nur durch Tätigkeit retten kann, so muß man den Anteil an der Vergangenheit wieder in sich heraufrufen und sich wieder dahin stellen, wo man noch hofft, ein Mangel lasse sich ausfüllen, Fehler vermeiden, Übereilung sei zu bändigen und Versäumtes nachzuholen" (HA X, 532). Die Bestimmung des Moments freilich, wo wir noch "nah genug an unsern Irrtümern und Fehlern stehn", um in der Rückbesinnung Anlässe für neue Tätigkeit zu finden, ist individuell verschieden. Ludwig Börne war knapp zwanzig, als er seine Biographie plante. Benvenuto Cellini rekapitulierte sein Leben mit vierzig. Goethe hat in seinen Fünfzigern, als er Cellinis Bericht übersetzte, zwar über Autobiographisches nachgedacht, beginnt aber erst als Sechzigjähriger mit der Arbeit an Dichtung und Wahrheit.. Das erscheint ihm allemal früh genug, um "Versäumtes nachzuholen". Und als der über Siebzigjährige an der Campagne in Frankreich schreibt, erklärt er am 14.4.1822 gegenüber Boisseré: "Dergleichen Erinnerungen sollte man nicht auf späte Jahre verschieben" (Hv. P.M.).

 

 

1. Lebenserinnerung als Dichtung

 

Dichtung und Wahrheit. Aus meinem Leben – der Titel des autobiographischen Werks wurde oft fälschlich als Ankündigung einer Enthüllungsgeschichte verstanden. Eifrige Philologen fahndeten darin nach den tatsächlichen Erlebnissen, die "in Wahrheit" hinter Goethes Dichtungen stehen, und eifersüchtige Frauen nach den realen Vorbildern der poetisch Geliebten – um etwa festzustellen, daß Werthers Lotte eindeutig die schwarzen Augen von Maximiliane Brentano habe. Freilich sind das Mißverständnisse – nicht nur über das Wesen dichterischer Wahrheit, sondern auch über die Gattung des Biographischen bei Goethe: Sie gehört selbst zur Dichtung. Das geht aus der erwähnten Absicht hervor, die Vergangenheit nicht faktizistisch zu resümieren, sondern als ungelöste Aufgabe zu betrachten. In der poetischen Verdichtung des Geschehenen zum Desiderat, in seiner projektiven Vergegenwärtigung, liegt die biographische Wahrheit: "… es war mein ernstestes Bestreben", erläutert Goethe, "das eigentliche Grundwahre, das, insofern ich es einsah, in meinem Leben obwaltet hatte, möglichst darzustellen und auszudrücken. Wenn aber ein solches in späteren Jahren nicht möglich ist, ohne die Rückerinnerung und also die Einbildungskraft wirken zu lassen, und man also immer in den Fall kommt gewissermaßen das dichterische Vermögen auszuüben, so ist es klar, daß man mehr die Resultate und, wie wir uns das Vergangene jetzt denken, als die Einzelnheiten, wie sie sich damals ereigneten, aufstellen und hervorheben werde." (An König Ludwig I. von Bayern v. 12.1.1830). Die Einbildungskraft vervollständigt die Erinnerung. So koinzidieren Wahrheit und Dichtung – wie der ursprüngliche Titel lautete, der nur aus euphonischen Gründen später umgestellt wurde – in der Synthesis der Goetheschen Selbstbiographie.

Ihr poetisch-projektiver Charakter kommt schon in den ersten Sätzen zum Ausdruck:

Am 28. August 1749, mittags mit dem Glockenschlage zwölf, kam ich in Frankfurt am Main auf die Welt. Die Konstellation war glücklich; die Sonnne stand im Zeichen der Jungfrau, und kulminierte für den Tag; Jupiter und Venus blickten sie freundlich an, Merkur nicht widerwärtig; Saturn und Mars verhielten sich gleichgültig: nur der Mond, der soeben voll ward, übte die Kraft seines Gegenscheins um so mehr, als zugleich seine Planetenstunde eingetreten war. Er widersetzte sich daher meiner Geburt, die nicht eher erfolgen konnte, als bis diese Stunde vorübergegangen.  (HA IX, 10).

 

Dies ist nicht der Bericht eines faktentreuen Chronisten. Goethe ist weder mit dem zwölften Glockenschlag auf die Welt gekommen, noch war am Tage seiner Geburt Vollmond. Und seine astrologischen Angaben sind – obwohl er durchaus einschlägige Kenntnisse besaß – vollends unstimmig (vgl. Müller 1905, S. 118 u. 128). Stimmig aber ist der ideelle Gehalt ihrer poetischen Komposition. In der symbolisch verdichteten Form der planetarischen Gegenwirkung antizipiert Goethe ein Leben, das in die Polarität von Tag- und Nachtseiten, Überlebenskampf und Hingabebereitschaft, Verselbstung und Entselbstung gestellt ist. Die Konstellation der Gestirne richtet sich nach der Darstellungsabsicht statt umgekehrt. So beruht denn auch Goethes Glaube, "daß Jupiter und Venus die Regenten und Beschützer seiner Geschicke sein würden", nicht auf astrologischen Auskünften, sondern – wie Bettina berichtet – auf der "Einbildungskraft der Mutter" (nach Müller 1905, S. 117). Hier brauchte die biographische Wahrheit nicht erst zur Dichtung zu werden; sie war es schon.

Mit ihrer Verschmelzung von Idealität und Realität unterscheidet sich Goethes Autobiographie grundsätzlich von den Vorläufern des Genres, die ihm gut bekannt waren – einerseits von der weltabgewandten Innerlichkeit der religiösen und psychologischen "Bekenntnisse" (Augustinus, Rousseau, Carl Philipp Moritz), andererseits von der Objektivität historisierender Memoiren (Cellini, Gottfried von Berlichingen, Kardinal de Retz). Goethes Lebenserinnerungen sind weder Andacht noch Gedächtnis; ihre Authentizität beruht nicht auf Frömmigkeit oder Faktentreue, sondern auf sinngebender Gestaltung. "Ein Faktum unseres Lebens", sagt er zu Eckermann am 30.3.1831, "gilt nicht insofern es wahr ist, sondern insofern es etwas zu bedeuten hatte." Das heißt, der Biograph muß nach Goethe sein Material so behandeln wie der Künstler einen Naturgegenstand, „indem er ihm das Bedeutende, Charakteristische, Interessante abgewinnt oder vielmehr erst den höheren Wert hineinlegt“ (HA XII, 46).

Wenn aber die faktische Wahrheit der Empirie derart von der "bedeutenden" Wahrheit der Gestaltung unterschieden wird, dann stellt sich die Frage, worin diese ihr Gültigkeitskriterium hat. Mit Grund verweigert Goethe eine objektivistische Antwort, um stattdessen auf das Sensorium des individuellen Erlebens zu verweisen: "Der Mensch an sich selbst, insofern er sich seiner gesunden Sinne bedient, ist der größte und genaueste physikalische Apparat, den es geben kann, und das ist eben das größte Unheil der neuern Physik, daß man die Experimente gleichsam vom Menschen abgesondert hat und bloß in dem, was künstliche Instrumente zeigen, die Natur erkennen, ja, was sie leisten kann, dadurch beschränken und beweisen will" (HA VIII, 473). Diese Absage an den empiristischen Erfahrungsbegriff stößt gerade heute wieder auf ein verstärktes Interesse. Allerdings stellt sie das Subjekt vor die schwierige Aufgabe, die kulturelle Begriffskonvention immer wieder zugunsten eines authentischen individuellen Erlebens zu transzendieren. Sie stellt sich nicht nur dem Naturforscher, sondern auch dem Autobiographen: "Wenn man sich erinnern will, was uns in der frühsten Zeit der Jugend begegnet ist", schreibt Goethe zu Beginn seiner Lebenserzählung,"so kommt man oft in den Fall, dasjenige, was wir von andern gehört, mit dem zu verwechseln, was wir wirklich aus eigner anschauender Erfahrung besitzen" (HA IX, 10f.). Es folgt darauf allerdings eine Beschreibung des elterlichen Hauses, die er in der Tat nur von anderen gehört haben kann. Bedeutet dies, daß Goethe hier anders verfährt als in der Naturforschung, daß er also seine Biographie auf die "künstlichen Instrumente" der Überlieferung gründet statt auf die eigene Sinneswahrnehmung?

Freilich sind Selbstschilderungen, insbesondere solche aus der frühen Kindheit, ohne Zuhilfenahme äußerer Zeugnisse nicht möglich. So nimmt denn auch der Soziologe Maurice Halbwachs Goethes Beschreibung des Elternhauses als Beleg für seine These, daß biographische Erinnerungen lediglich Rekonstruktionen eines kollektiven Gedächtnisses seien (vgl. Halbwachs 1985, 140 ff.). Wenn aber Halbwachs' Diagnose zutreffen würde, dann hätte Goethe vor seiner eigenen Aufgabenstellung kapituliert; er hätte dann Dichtung und Wahrheit nicht "aus eigner anschauender Erfahrung" geschrieben, sondern lediglich den konventionellen Rahmen ihrer Überlieferung nacherzählt. Doch das ist nicht der Fall. Goethe will nicht das kollektive Gedächtnis reproduzieren, sondern er zieht es heran, um es zugunsten des individuellen Erinnerungsausdrucks zu durchbrechen. Dies macht die folgende Szene, die unmittelbar an die Hausbeschreibung anschließt, auf höchst anschauliche Weise deutlich:

Es war eben Topfmarkt gewesen, und man hatte nicht allein die Küche für die nächste Zeit mit solchen Waren versorgt, sondern auch uns Kindern dergleichen Geschirr im kleinen zu spielender Beschäftigung eingekauft. An einem schönen Nachmittag, da alles ruhig im Hause war, trieb ich im Geräms (einer vergitterten Öffnung zur Straße, P.M.) mit meinen Schüsseln und Töpfen mein Wesen, und da weiter nichts dabei herauskommen wollte, warf ich ein Geschirr auf die Straße und freute mich, daß es so lustig zerbrach. Die von Ochsenstein, welche sahen, wie ich mich daran ergetzte, daß ich so gar fröhlich in die Händchen patschte, riefen: Noch mehr! Ich säumte nicht, sogleich einen Topf, und auf immer fortwährendes Rufen: Noch mehr! nach und nach sämtliche Schüsselchen, Tiegelchen, Kännchen gegen das Pflaster zu schleudern. Meine Nachbarn fuhren fort ihren Beifall zu bezeigen, und ich war höchlich froh ihnen Vergnügen zu machen. Mein Vorrat aber war aufgezehrt und sie riefen immer: Noch mehr! Ich eilte daher stracks in die Küche und holte die irdenen Teller, welche nun freilich im Zerbrechen noch ein lustigeres Schauspiel gaben; und so lief ich hin und wider, brachte einen Teller nach dem andern, wie ich sie auf dem Topfbrett der Reihe nach erreichen konnte, und weil sich jene gar nicht zufrieden gaben, so stürzte ich alles was ich von Geschirr erschleppen konnte, in gleiches Verderben. Nur später erschien Jemand zu hindern und zu wehren. Das Unglück war geschehen, und man hatte für so viel zerbrochne Töpferware wenigstens eine lustige Geschichte, an der sich besonders die schalkischen Urheber bis an ihr Lebensende ergetzten. (HA IX, 11f.)

 

Mit einer soziologischen Rahmenanalyse ist dem asozialen Gehalt dieser Erinnerung nicht beizukommen. Das Inventar des kollektiven Gedächtnisses wird hier nicht affirmiert, sondern buchstäblich zerschlagen – und auch dies nicht durch eine gesellschaftliche Dynamik, sondern durch den mutwilligen Akt eines Individuums. Das Individuum freilich heißt Goethe, der soeben erst mit einem astrologischen Symbol den Leser darauf eingestimmt hat, daß er sein Leben in poetischer Verdichtung darzustellen gedenkt. Vor diesem Hintergrund ist jene Schilderung mehr als bloß eine "humorvoll-realistische Anekdote" (Trunz 1955, 634). Im Kontext des Biographieverständnisses von Dichtung und Wahrheit nimmt sie – zumal sie die einzige Erinnerung aus der frühen Kindheit ist, die Goethe berichtet – den Charakter eines Schlüsselerlebnisses an. Doch wofür steht es?

Diese Frage hat auch Sigmund Freud beschäftigt, der die Gegenposition zu Halbwachs repräsentiert, indem er die Bedeutung einer biographischen Erinnerung nicht im sozialen Rahmen des kollektiven Gedächtnisses aufsucht, sondern in den unbewußten Regungen des individuellen Seelenlebens. Freud wußte aus seiner psychoanalytischen Praxis, "daß gerade diejenige Erinnerung, die der Analysierte voranstellt, die er zuerst erzählt, mit der er seine Lebensbeichte einleitet, sich als die wichtigste erweist, als diejenige, welche die Schlüssel zu den Geheimfächern seines Seelenlebens in sich birgt" (Freud 1969, 259). So mußte es den Goetheliebhaber reizen, eine Deutung für die Kindheitserinnerung zu suchen. Er findet sie in einer typischen Eifersuchtskonstellation: Freud stellt fest, daß Goethes rund drei Jahre jüngerer Bruder Hermann Jakob zu jener Zeit noch gelebt haben muß, und kommt zu der Überzeugung, "das Geschirrhinauswerfen sei eine symbolische, oder sagen wir es richtiger: eine magische Handlung, durch welche das Kind … seinen Wunsch nach Beseitigung des störenden Eindringlings zu kräftigem Ausdruck bringt" (262).

Freuds Deutung des Ereignisses mag tiefenpsychologisch zutreffen – wenn es aber nur eine Deckerinnerung wäre, die einen unbewußten Wunsch vertritt, dann bleibt immer noch die Frage offen, warum Goethe es ganz bewußt an den Anfang eines Werkes stellt, das den Anspruch erhebt, "das eigentliche Grundwahre" des eigenen Lebens "möglichst darzustellen und auszudrücken". Was verleiht ihm den Rang einer Urszene? Es ist jenes Dritte, das Goethes Biographik gegenüber ihren objektivistischen und subjektivistischen Vorläufern auszeichnet, und das weder in soziologischen noch individualpsychologischen Deutungen aufgeht: die produktive Einbildungskraft. Sie hat die Zerstörung des kulturellen Gedächtnisses zu ihrer Voraussetzung. Dabei verfährt sie, wie wir sehen werden, nach dem Vorbild der Natur.

 

 

2. Dichtung als Zerstörung des kulturellen Gedächtnisses

 

 

Im spektakulären Tun des Kindes, das sein Publikum belustigt und durch dessen Applaus zu weiteren Taten angefeuert wird, erkennen wir ein Urbild des Dichters. Der Inhalt seines Schau-Spiels freilich ist brisant: Er besteht in der Zerstörung der vorhandenen Kulturgüter. Dies widerspricht dem Klischee von Goethe als dem „heilenden Dichter“ (Spranger 1967, 255), und er selbst hat es offenbar für nötig gehalten, diesem Klischee gleich zu Beginn seiner Selbstbiographie vorzubeugen. Daß der Ursprung des dichterischen Vermögens in der Zerstörung kultureller Vorgaben liegt, wird in einer weiteren Kindheitserinnerung dann ausdrücklich reflektiert. Goethe berichtet über seine Beschäftigung mit dem von der Großmutter hinterlassenen Puppenspiel:

Wir hatten das ursprüngliche Hauptdrama, worauf die Puppengesellschaft eigentlich eingerichtet war, auswendig gelernt, und führten es anfangs auch ausschließlich auf; allein dies ermüdete uns bald, wir veränderten die Garderobe, die Dekorationen, und wagten uns an verschiedene Stücke, die freilich für einen so kleinen Schauplatz zu weitläuftig waren. Ob wir uns nun gleich durch diese Anmaßung dasjenige was wir wirklich hätten leisten können, verkümmerten und zuletzt gar zerstörten; so hat doch diese kindliche Unterhaltung und Beschäftigung auf sehr mannigfaltige Weise bei mir das Erfindungs‑ und Darstellungsvermögen, die Einbildungskraft und eine gewisse Technik geübt und befördert, wie es vielleicht auf keinem andern Wege, in so kurzer Zeit, in einem so engen Raume, mit so wenigem Aufwand hätte geschehen können. (HA IX, 49)

 

Die kindliche Lektion setzt sich in der Jugendzeit fort. Insbesondere die Straßburger Begegnung mit Herder bringt Goethe zu der Erkenntnis, daß erst die Destruktion kultureller Konventionen die Quellen wahrer Poesie freizulegen vermag:

Er hatte den Vorhang zerrissen, der mir die Armut der deutschen Literatur bedeckte; er hatte mir so manches Vorurteil mit Grausamkeit zerstört; an dem vaterländischen Himmel blieben nur wenige bedeutende Sterne, indem er die übrigen alle nur als vorüberfahrende Schnuppen behandelte. (HA IX, 451)

So demonstriert Goethe an der eigenen Biographie, daß die Zersörung eine Voraussetzung des dichterischen Vermögens ist. Dieses Motiv zieht sich wie ein roter Faden, besser: wie eine Zündschnur durch sein Werk. In der Zeit der Konzeption von Dichtung und Wahrheit  entsteht ein ironisches Sonett, in dem der "Dichter" einem "Mädchen" erklärt, daß seine Arbeit nicht so ungefährlich ist, wie die Kleine sich das vorstellt:

Schau, Liebchen hin: wie geht's dem Feuerwerker?
Drauf ausgelernt, wie man nach Maßen wettert,
Irrgänglich-klug miniert er seine Grüfte;


Allein die Macht des Elements ist stärker,
Und eh' er sich's versieht, geht er zerschmettert
Mit allen seinen Künsten in die Lüfte. (HA I, 302, V. 9–14)

 

Die Ironie des Motivs hat, wie stets bei Goethe, einen durchaus ernsten Hintergrund – einen todernsten, denkt man an die Wirkungen des Werther, der eine Selbstmordwelle auslöste, oder an den Streit um die Prometheus-Ode, über dem nach Goethes Überzeugung Moses Mendelssohn verstarb (HA IX, 49). In Dichtung und Wahrheit werden diese verheerenden Auswirkungen ebenfalls mit dem Bild der explodierenden Mine charakterisiert (HA IX, 589 u. HA X, 49); im Tasso gebraucht es Antonio, um auf die Gefährlichkeit des Poeten hinzuweisen (HA V, 130, V. 2125); und im Faust II beendet eine Explosion die Theateraufführung am Kaiserhof (nach V. 6563).

Dichtung ist ein "Zündkraut" (HA IX, 589 u. HA X, 49) für Goethe, der mit dieser Metapher darauf hinweist, daß die überlieferte Konvention allemal bedroht ist, wenn sie zum Gegenstand der poetischen Einbildungskraft wird. Denn diese erzielt ihre Intensität aus der Destruktion der gewohnten Wahrnehmung. Macht man sich das klar, dann erkennt man auch in jener Schilderung vom Zerschmeißen des Haushaltsgeschirrs mehr als einen bloßen Kinderstreich, nämlich die Rückprojektion des Goetheschen Dichtungsverständnisses in die Ursprünge der eigenen Biographie. Was hier als noch infantil-unbewußter Impuls dargestellt wird: der Ansporn zu weiterer Zerstörung durch die applaudierenden Zuschauer, entspricht der von Goethe immer wieder als prekär reflektierten Konstellation von Künstler und Publikum. So schreibt etwa der Dichter in der Zueignung zum Faust über die "Menge", die den Ernst seines Tuns verkennt: "Ihr Beifall selbst macht meinem Herzen bang" (V. 22).

Auch Faust ist ein Zerstörer, der aus der tradierten Ordnung der Dinge ausbricht. In der Paktszene, in der er das Inventar des paulinischen Wertekanons verwirft (V. 1604 ff.), klingt wiederum das Motiv vom Zerschlagen der Kulturgüter an, als der Geisterchor singt:

Weh! weh!
Du hast sie zerstört,
Die schöne Welt,
Mit mächtiger Faust;
Sie stürzt, sie zerfällt!
Ein Halbgott hat sie zerschlagen!
Wir tragen
Die Trümmern ins Nichts hinüber,
Und klagen
Über die verlorne Schöne. (V. 1607–1616)

 

Doch der Geisterchor weiß um den inneren Zusammenhang von Zerstörung und ästhetischer Produktion, die sich durch das Zertrümmern der alten Welt, der Welt der Konventionen, zu neuer Kreativität befreit, um aus der Intensität der nun unverstellten Imagination eine höhere Wirklichkeit zu errichten:

Mächtiger
Der Erdensöhne,
Prächtiger
Baue sie wieder,
In deinem Busen baue sie auf!
Neuen Lebenslauf
Beginne,
Mit hellem Sinne,
Und neue Lieder
Tönen darauf! (V. 1617–1626)

Zwar ist diesen Geistern gegenüber Skepsis angebracht, da Mephisto sie für sich reklamiert: "Das sind die Kleinen / von den Meinen" (V. 1627 f.). Und Mephisto, dessen "eigentliches Element" bekanntlich die "Zerstörung" (V. 1343 f.) ist, kann schwerlich mit Goethes Position gleichgesetzt werden. Wohl aber mit einem zentralen Aspekt seiner Kosmologie, wie sie im Achten Buch von Dichtung und Wahrheit dargelegt ist. Ihr zufolge ist der Gegenpol zum schöpferischen Prinzip notwendig für den "Puls des Lebens" (HA IX, 351 ff.). Denselben Gedanken formuliert auch Werther: "Da ist kein Augenblick, der nicht dich verzehrte und die Deinigen um dich her, kein Augenblick, da du nicht ein Zerstörer bist, sein mußt" (HA VI, 52 f.). Denn ohne Verfall gibt es kein Wachstum in der Natur. Das Zerstörungswerk des Künstlers ist also kein widernatürlicher, sondern ein mimetischer Akt – was Goethe einmal lakonisch in dem Spruch ausdrückt: "Und ein Gewebe, sollt es ewig sein? / Zerstört's die Magd nicht, reißt die Spinn es selber ein" (WA 5.1, S. 120).

Das Vorbild der Natur lehrt also, daß die Zerstörung eine notwendige Voraussetzung der produktiven Einbildungskraft ist. Da nun, wie wir gesehen haben, zur Autobiographik nach Goethes Auffassung das "dichterische Vermögen" gehört, dürfen wir erwarten, daß unsere leitende Frage nach den Grundzügen seiner Erinnerungstechnik durch einen Zusammenhang mit dem Begriff der Zerstörung näher aufgeklärt werden kann.

In der Tat läßt sich zeigen, daß Goethes Reflexionen auf die Vergangenheit eine Dynamik enthalten, die aus der Destruktion vermeintlicher Konstanz hervorgeht. Paradigmatisch hierfür ist wiederum die Beobachtung der Naturvorgänge. In seinem Versuch Über den Granit beschreibt Goethe, wie er sich zunächst dieses Gesteins als des "ältesten, festesten, tiefsten, unerschütterlichsten Sohnes der Natur" zu vergewissern sucht; er sieht in den Felsen die "ältesten, würdigsten Denkmäler der Zeit" (HA XIII, 255). So erscheinen sie ihm als Repräsentanten des kollektiven Gedächtnisses: "Vorbereitet durch diese Gedanken, dringt die Seele in die vergangene Jahrhunderte hinauf, sie vergegenwärtigt sich alle Erfahrungen sorgfältiger Beobachter, alle Vermutungen feuriger Geister" (256). Doch im Bewußtsein, daß das Wahrgenommene Produkt früherer Meinungen und Ansichten ist, verliert es seine vermeintliche Solidität; ein absoluter Widerspruch zur vorherigen Erfahrungsgewißheit tut sich auf: "und fast möchte ich bei dem ersten Anblicke ausrufen: Hier ist nichts in seiner ersten, alten Lage, hier ist alles Trümmer, Unordnung und Zerstörung" (257). Die Ratlosigkeit wiederum weckt in ihm den Wunsch, daß ihm eine Lösung einfallen möge: "Wie vereinigen wir alle diese Widersprüche und finden einen Leitfaden zu ferneren Beobachtungen?" (257)

Was Goethe hier beschreibt, ist eine Denkbewegung, die auf den Ursprung der abendländischen Erinnerungstechnik verweist: Die sokratische Mäeutik. Denn auch sie setzt bei der scheinbaren Gewißheit der Meinung (Doxa) an, die im kollektiven Gedächtnis (Mneme) abgelegt ist; durch nähere Untersuchung ergeben sich Widersprüche zwischen früheren Vermutungen und neuen Einsichten, die schließlich in völlige Ratlosigkeit (Aporie) führen; gerade dadurch aber wird der Wunsch nach einer Lösung geweckt, der die Seele für eine Wiedererinnerung der Wahrheit (Anamnesis) öffnet. Um unsere Vermutung zu überprüfen, daß wir es hier mit dem maßgeblichen Vorbild der Goetheschen Erinnerungstechnik zu tun haben, müssen wir die Parallelen etwas eingehender betrachten.

Die klassische Demonstration der sokratischen Methode ist das Gespräch mit dem Sklaven Menons. Der Sklave, der zunächst nicht weiß, daß er nichts weiß, glaubt die ihm gestellte Aufgabe bereits gelöst zu haben, als Sokrates durch bohrendes Nachfragen die vermeintlich solide Doxa unterminiert, bis sie schließlich zusammenbricht und der Befragte verzweifelt ausruft: "Aber beim Zeus, Sokrates, ich weiß es nicht" (Menon 84a). Der Hebammenkünstler ist stolz darauf, diese Aporie herbeigeführt zu haben:

Siehst du wohl, Menon, wie weit er schon fortgeht im Erinnern? … Indem wir ihn also in Verlegenheit brachten und zum Erstarren, wie der Zitterrochen, … haben wir vorläufig etwas ausgerichtet, wie es scheint, damit er herausfinden kann, wie sich die Sache verhält. Denn jetzt möchte er es wohl gern suchen, da er es nicht weiß; damals aber glaubte er, ohne Schwierigkeit vor vielen oftmals gut zu reden. (84b)

Der Glaube gut zu reden, ist das Credo der Sophisten. Sokrates bekämpft ihre falsche Doxa, indem er ihre Rhetorik angreift. Die Basis der antiken Rhetorik aber ist das künstliche Gedächtnis. Hippias etwa prahlte damit, daß er fünfzig Namen nach einmaligem Zuruf in der richtigen Reihenfolge aufsagen konnte. Für Sokrates dagegen verhindert die mnemische Auswendigkeit die Anamnesis der Wahrheit. Nicht zufällig ist der bevorzugte Schauplatz seines Zerstörungswerks der Marktplatz von Athen. Denn hier bilden sich die 'idola fori', die das kollektive Gedächtnis repräsentieren. Dieses muß destruiert werden, da es den Blick für die Aletheia verstellt. Und die Technik, die Sokrates hierfür anwendet, ist, wie wir gesehen haben, das Herbeiführen der Aporie. So läßt sich als ein mäeutisches Prinzip identifizieren, was Goethe dann, in einem Paralipomenon zum Faust, als künstlerisches Programm formuliert: die "Widersprüche statt sie zu vereinigen disparater zu machen" (WA I 14, S.287). Es sperrt sich ebenfalls gegen die Bestätigung der marktgängigen Erwartungen, die stattdessen pointenreich zerstört werden – was in symbolischer Form bereits in jene Schilderung vom kindlichen Zerschmeißen der Waren vom "Topfmarkt" eingeflossen sein mag.

Doch wie weit reicht die Parallele? Goethe betreibt seine Unterminierung des kollektiven Gedächtnisses als Schriftsteller. Für Sokrates aber fällt auch die Schrift unter das Verdikt gegen die Auswendigkeit. Er verdeutlicht dies anhand der ägyptischen Sage vom König Thamus, der auf die Werbung des Gottes Theut für die Kulturtechnik des Schreibens, die die Menschen "gedächtnisreicher" machen werde, einwendet:

… diese Erfindung wird den Seelen der Lernenden vielmehr Vergessenheit einflößen aus Vernachlässigung der Erinnerung, weil sie im Vertrauen auf die Schrift sich nur von außen vermittels fremder Zeichen, nicht aber innerlich sich selbst und unmittelbar erinnern werden. (Phaidros 274c–275b)

 

Zur Erinnerung befähigt nach Sokrates allein die "lebende und beseelte Rede des wahrhaft Wissenden, von der man die geschriebene mit Recht wie ein Schattenbild ansehen könne" (276a). Widerspricht also nicht schon die bloße Existenz des in Bibliotheken und Archiven gespeicherten, von Schülern und Literaturliebhabern auswendiggelernten Goetheschen Werkes den Voraussetzungen der Anamnesislehre?

Wenn dem so wäre, dann hätte bereits Platon ihr zuwidergehandelt, indem er uns diese Lehre überlieferte. Ohne Platons Schriften wüßten wir nichts von seiner Schriftkritik. Offenbar hielt er es für möglich, das externe Gedächtnis gegen sich selbst zu wenden, so daß aus seiner Zerstörung die Anamnesis hervorgeht wie der Phönix aus der Asche. Wie ein derart erinnerndes Schreiben funktioniert, das den Tod der lebendigen Rede, den es herbeiführt, zugleich überwindet, davon gibt der folgende Passus aus dem 7. Brief ein Beispiel:

Von mir selbst wenigstens gibt es keine Schrift über diese Gegenstände, noch dürfte eine erscheinen; läßt es sich doch in keiner Weise, wie andere Kenntnisse, in Worte fassen, sondern indem es, vermöge der langen Beschäftigung mit dem Gegenstande und dem Sichhineinleben, wie ein durch einen abspringenden Feuerfunken plötzlich entzündetes Licht in der Seele sich erzeugt und dann durch sich selbst Nahrung erhält. (7.Brief, 341c–d)

 

Der performative Widerspruch dieser Sätze ist eklatant: Platon schreibt über seine Philosophie, daß er nicht über sie schreibt. Und doch macht diese Aussage Sinn. Indem sie das kulturelle Gedächtnis der schriftlichen Überlieferung in die Aporie führt und damit deutlich macht, daß "jedes sprachliche Gebilde von Hause aus nur Moment im Rahmen eines Realkontextes ist, innerhalb dessen nicht der greifbare Wortlaut, sondern die Seelen der Beteiligten die eigentlichen Fixpunkte bilden" (Wieland 1982, 23), veranlaßt sie eine Besinnung auf ihre Erinnerungslücken. Die immanente Kritik der Mneme schafft die Voraussetzungen für die Anamnesis – und das heißt: sie verwandelt Schrift in Literatur. Wir werden sehen, daß es sich bei Goethe ähnlich verhält.

 

 

3. Zerstörung des kulturellen Gedächtnisses als Selbstbesinnung

 

 

Die Ausgangsbedingungen für Goethe sind im Prinzip dieselben wie für Platon. Denn nicht die sokratische Mäeutik setzte sich historisch durch, sondern die rhetorische Mnemotechnik. So hatte auch Goethe seinen Cicero und seinen Quintilian zu pauken, bei denen zu lesen war, was die Voraussetzungen einer guten Rede sind: Nach Stoffsammlung (inventio), Anordnung (dispositio) und stilistischer Gestaltung (elocutio) hat die Einprägung ins Gedächtnis (memoria) dafür zu sorgen, daß der Vortrag (pronuntiatio) flüssig aufgesagt werden kann. Aber wie ging Goethe mit diesem Wissen um?

Symptomatisch hierfür ist eine Rede, die er am 24. Februar 1784 anläßlich der Eröffnung des neuen Bergbaues zu Ilmenau hielt. Der Text der Rede wurde schon während des Vortrags an die Zuhörer verteilt. Goethe, der ein glänzendes Gedächtnis hatte, konnte ihn auswendig und sprach frei. Doch mitten in seinen vorbereiteten Ausführungen, als er gerade in dramatischen Formulierungen an die "Übel" erinnerte, "welche den ehemaligen Bergbau zu Grunde gerichtet" (WA I 36, 368), stockte er plötzlich. Offenbar hatte er einen "Blackout". Bemerkenswert ist allerdings, wie er damit umging: Einem Augenzeugenbericht zufolge ließ Goethe, der "das Manuskript nicht aus der Tasche holen wollte, … die Zuhörer wenigstens zehn Minuten lang in einer peinlichen Stille warten, bis er den verlorenen Faden wiedergefunden hatte" (nach Ueding 1994, 183). Warum ließ Goethe seine Zuhörer so lange warten? Normalerweise würde ein Redner nach spätestens einer halben Minute sein Manuskript hervorholen – was in der gegebenen Situation besonders nahegelegen hätte, da der Text ja bekannt war, folglich sowieso niemand in dem Glauben gehalten werden mußte, daß Goethe extemporiert – was ihm übrigens leichtgefallen wäre. Es muß ein anderes Motiv als die Suche nach dem verlorenen Faden gewesen sein, das Goethe veranlaßte, die Lücke in seiner Rede derart auszudehenen. So erscheint denn auch der Bericht eines anderen Augenzeugen glaubhafter, der weder bei Goethe noch beim Publikum ein peinliches Warten auf die Fortsetzung wahrnahm. Die Situation, heißt es da, "hätte jeden anderen in große Verlegenheit gesetzt; ihn aber keineswegs. Er blickte vielmehr, wenigstens zehn Minuten lang, fest und ruhig in dem Kreise seiner zahlreichen Zuhörer umher, die durch die Macht seiner Persönlichkeit wie gebannt waren, so daß während der sehr langen, ja fast lächerlichen Pause jeder vollkommen ruhig blieb. Endlich schien er wieder Herr seines Gegenstandes geworden zu sein, er fuhr in seiner Rede fort und führte sie sehr geschickt ohne Anstoß bis zu Ende, und zwar so frei und heiter, als ob gar nichts passiert wäre" (nach Ueding 1994, 183).

Wer eine feierliche Rede volle zehn Minuten lang "fest und ruhig" unterbricht, dem geht es nicht um die Erfüllung von Verhaltensregeln. Goethe wollte nicht beweisen, daß er einen vorbereiteten Text auswendig hersagen kann, den ohnehin schon jeder auf seinem Zettel stehen hatte, sondern er wollte die Aufmerksamkeit auf die Situation lenken: Man war zusammengekommen, um in einer offiziellen Gedenkfeier den Ilmenauer Bergbau zu erneuern. Die Chance zu einer wirklichen Besinnung aber, das scheint Goethe im Moment des Innehaltens geahnt zu haben, ergab sich erst mit der Durchkreuzung der Publikumserwartung. Er nahm seine Amnesie zum Anlaß einer Anamnesis, die den konventionellen Rahmen des kollektiven Gedenkens sprengte und die Rückbesinnung zu einem situativen Erlebnis machte. Die Zuhörer, die sich nun nicht mehr nur passiv der Routine des Festakts überlassen konnten, wurden in den Prozeß der Vergegenwärtigung des Vergangenen hineingezogen.

Um einen solchen Bruch mit den Publikumserwartungen durchzuführen, bedarf es freilich eines enormen Selbstbewußtseins, das keine Angst vor Ablehnung kennt. Auch diesbezüglich ist Goethes Kindheitserinnerung symptomatisch. Denn das Zerstörungswerk des Knaben wird nicht etwa bestraft, sondern als eine Darbietung genommen, an der alle sich "ergetzten". So schuf die frühe Bestätigung das nötige Urvertrauen, aus dem Goethe später die Selbstsicherheit für seine kühnen literarischen Formsprengungen seiner Geniezeit beziehen konnte. Daß das "Zündkraut" dieser Werke im Bruch mit der rhetorischen Tradition bestand, ist der Forschung durchaus geläufig (vgl. Schmidt 1985). Daß aber damit insbesondere deren Mnemotechnik angegriffen wurde, die im 18. Jahrhundert noch die Kulturpädagogik beherrschte, ist bislang kaum bemerkt worden. Dies führt zu eklatanten Fehleinschätzungen, wie etwa der Arbeit von Helmut Schanze, die Goethe Dramatik im Untertitel zwar treffend als Theater der Erinnerung bezeichnet, sie aber fälschlich der Gedächtniskunst der Memoria-Literatur zuordnet (vgl. Schanze 1989, 133–141). Das Gegenteil ist richtig: Goethe vollzieht in ähnlicher Weise, wie wir es bei Platon beobachtet haben, eine immanente Kritik der Schrift, um deren Gedächtnisstrukturen zugunsten der Freisetzung von Erinnerungen aufzusprengen. Dies sei kurz an der Eingangsszene des Faust demonstriert.

Faust verzweifelt am bloß externen Gedächtnis der von ihm studierten Schriften. Ein "Bücherhauf" (V. 402) füllt seine Gelehrtenstube, in die er wie in ein "Museum gebannt ist" (V. 530). Aus dieser mnemischen Struktur möchte er ausbrechen. Er macht zwei Befreiungsversuche, die beide scheitern, ehe er zu einer spontanen Erinnerung findet.

Der erste besteht im Übergang von der Schrift zum Piktogramm. Das Makrokosmoszeichen vermittelt ihm eine Vision des Lebenszusammenhangs, den er in den Buchstabenschriften nicht finden konnte:

Ich schau' in diesen reinen Zügen
Die wirkende Natur vor meiner Seele liegen. …
Wie alles sich zum Ganzen webt,
Eins in dem andern wirkt und lebt! (V. 440–448)

 

Die Dynamik dieses visuell repräsentierten Gewebes, das an den ursprünglichen Sinn des "Text"-Begriffes erinnert, geht auf die Idee der "Kette der Wesen" zurück, hermetische Wurzeln mithin, wie sie auch der Memoria-Literatur der Renaissance, der Zeit des historischen Faust, zugrundeliegen. Dieses bilderreiche Schrifttum, aus dem der Topos des 'Teatro della memoria' hervorgeht, nimmt eine ambivalente Zwischenstellung zwischen Gedächtnis und Erinnerung ein: Einerseits sucht es Anschluß an die (neu)platonische Anamnesis, die in der Ideenschau die höhere Welt findet, andererseits beerbt es die "loci" und "imagines" der klassischen Mnemotechnik. Beide Aspekte, das erinnernde Aneignen ebenso wie die externe Speicherung kommen hier zusammen, wie Frances Yates erläutert: "Der Mikrokosmos kann den Makrokosmos ganz verstehen und ganz in Erinnerung behalten, kann ihn in seinem göttlichen mens oder göttlichen Gedächtnis festhalten" (Yates 1994, 137). Diesen Doppelcharakter der Renaissance-Memoria erlebt Faust als inneren Widerspruch: Nachdem er, der Mikrokosmos, den Makrokosmos visionär erinnert hat, wendet er sich plötzlich ab, enttäuscht von der Lebensferne des Gedächtnistheaters: "Welch Schauspiel! Aber ach! ein Schauspiel nur!" (V. 454). Denselben Einwand mag auch Giulio Camillo gefürchtet haben, der sein legendäres, nach Prinzipien des 'Corpus hermeticum' konstruiertes 'Teatro della memoria' nur wenigen Auserwählten zeigte (vgl. Yates 1994, 137). Mit der Faustszene wird der kulturhistorisch bedeutsame Versuch, die Mnemonik neuplatonisch aufzuladen, als illusionär abgetan.

Authentische Erinnerung verspricht sich Faust nunmehr einzig von der unmittelbaren Teilhabe an der Naturproduktivität. Er beschwört den Erdgeist in einem Akt der alchemistischen Selbsttransformation. Und tatsächlich scheint ihm damit ein leibhaftiges Innewerden der Naturkraft zu gelingen:

Wie anders wirkt dies Zeichen auf mich ein!
Du, Geist der Erde, bist mir näher;
Schon fühl' ich meine Kräfte höher … (V. 460 ff.)

Der Geist erscheint, und Faust, der bei der Makrokosmosvision Zuschauer bleiben mußte, kann die Er-Innerung der Naturkraft am eigenen Leibe verifizieren: "Ich bin's, bin Faust, bin deinesgleichen" (V. 500). Sobald er jedoch versucht, diese Erfahrung zu objektivieren, gerät er in eine Aporie: Indem er den Erdgeist dazu bringt, sein "glühend Leben" auszusprechen und es somit begreiflich zu machen, reduziert er ihn auf einen Text, das heißt auf die bloß mnemische Struktur, über die er hinausgehen wollte. Faust vernimmt von der Naturkraft nur die mechanistisch erklärbare Außenseite:

So schaff' ich am sausenden Webstuhl der Zeit
Und wirke der Gottheit lebendiges Kleid. (V. 507 ff.)

 

Als 'natura textor' expliziert, gleicht der Erdgeist einer Textilmaschine. Sein eigentliches Wesen aber bleibt hinter dieser instrumentellen Metapher verborgen. Deshalb weist er Faust, der nur den Text, nicht aber die intertextuelle Dynamik wahrzunehmen vermag, zurück:

Du gleichst dem Geist, den du begreifst,
Nicht mir! (V. 512 f.)

 

Im Unterschied zur Makrokosmosvision wird aber diese Aporie mäeutisch produktiv, als Faust in seiner Ausweglosigkeit schon die Giftphiole zum Mund führt. Im Moment der Selbstaufgabe nach der vergeblichen Anspannung vermögen "Glockenklang und Chorgesang" (nach V. 736) einen anamnetischen Prozeß hervorzurufen:

Erinnrung hält mich nun mit kindlichem Gefühle,
Vom letzten ernsten Schritt zurück.
O tönet fort ihr süßen Himmelslieder!
Die Träne quillt, die Erde hat mich wieder! (V. 781–784)

 

Die emotionale Erinnerung stellt sich spontan ein. Sie kam weder durch das faszinierte Betrachten des Makrokosmoszeichens noch durch das willkürliche Herbeirufen des Affekts zustande, sondern nur im Moment des Loslassens – vermittelt über die unerwartete Klangwahrnehmung (vgl. Michel 1983). Goethe wußte, daß "Musik und Gesang" die "besondere Kraft" haben, "Erinnerungen zu wecken" (zu E. Förster, 9.11.1825). Denn Klänge überwinden die Verstandeskontrolle eher als Bilder.

Aber nicht die Art des Sinnesmediums ist entscheidend für eine gelingende Erinnerung, sondern die Fähigkeit des Wahrnehmenden, den Sinneseindruck in sich aufzunehmen, ohne ihn durch Identifikation abzufangen und ins Gedächtnis einzuschließen. So gibt es durchaus, wie Gottfried Boehm gezeigt hat, ein erinnerndes Sehen, zu dessen Kriterium es gehört, "daß das Wandern des Blickes in der Zeit von einem inneren Zeitsinn begleitet wird … Dem äußeren Sehen in der Zeit geht ein inneres Sehen 'außerhalb' des Zeitablaufs parallel, genauer gesagt: ein erinnerndes Sehen in uns" (Boehm 1985, 40). Boehm fährt fort – mit einer Bemerkung, die sich zwar auf Claude Monets Seerosenbilder bezieht, die aber derart gut auf den Faustmonolog paßt, daß zu fragen ist, ob es sich hier nicht um eine historische Konstante des erinnernden Sehens handelt, statt nur um ein Spezifikum moderner Bildwahrnehmung: "Zwischen einer Innen- und einer Außenwirklichkeit bauen sich vielfältige Passagen auf, entlang derer sich auch äußeres und inneres Sehen wechselseitig zu beeinflussen vermögen. Für die Auslegung dieser Bilder wird damit entscheidend, daß die innere Natur des Menschen von der Ansichtigkeit der äußeren Natur nicht länger abgehoben werden kann, daß sich im Strom der inneren Wahrnehmung eine Wirklichkeit aufbaut, die jenseits der alten Unterscheidung einer Landschaft – außen vor uns –, und einer unsichtbaren Sphäre – innen in uns – gesehen wird" (48). Eben diese Fähigkeit wird Faust schließlich doch noch eine Anamnesis des Erdgeistes ermöglichen: Er vermag in 'Wald und Höhle' nicht nur den "Kalt staunenden Besuch" des äußeren Sehens zu erfahren, sondern in die "tiefe Brust" der Natur "Wie in den Busen eines Freunds, zu schauen" (V. 3224). Mit der sukzessiven Wahrnehmung der "Reihe der Lebendigen" (V. 3225) einher geht das Simultanerlebnis der Verwandtschaft aller Wesen, seiner "Brüder" (V. 3226), so daß Faust in seiner "eignen Brust / Geheime tiefe Wunder"sich "öffnen" (V. 3234) sieht. Dieser Vorgang, der in der Selbstbesinnung den inneren Zeitsinn erfahrbar macht, verwandelt wiederum die Sicht auf die äußeren Erscheinungen:

Und steigt vor meinem Blick der reine Mond
Besänftigend herüber, schweben mir
Von Felsenwänden, aus dem feuchten Busch
Der Vorwelt silberne Gestalten auf
Und lindern der Betrachtung strenge Lust. (V. 3235–3239)

 

Die Verschmelzung des inneren und äußeren Zeitsinns im simultan-sukzessiven Blick gestattet es Faust, in der Präsenz der Naturerscheinungen zugleich die Gestalten der Vergangenheit zu sehen. Sie lindern die strenge Lust der identifizierenden Betrachtung zugunsten der aufsteigenden Erinnerung.

Der Monolog in Wald und Höhle ist somit ein Modell gelingender Anamnesis. In der Selbstbesinnung eröffnet sich eine neue Seinsdimension und Faust erlebt eine "Wonne", die ihn "den Göttern nah und näher bringt" (V. 3242). Dieses Phänomen der Ekstase bei aufsteigenden Erinnerung weist auf Proust voraus, der es als einen Prozeß der Entfaltung beschreibt, vergleichbar "den Spielen, bei denen die Japaner in eine mit Wasser gefüllte Porzellanschale kleine, zunächst ganz unscheinbare Papierstückchen werfen, die, sobald sie sich vollgesogen haben, auseinandergehen, sich winden, Farbe annehmen und deutliche Einzelheiten aufweisen, zu Blumen, Häusern, zusammenhängenden und erkennbaren Figuren werden" (Proust 1979, Bd. 1, 66). Auch bei Proust ist die Erinnerung keine bloße Reproduktion des Vergangenen, sondern ein produktives Vermögen, das in der Selbstbesinnung die "verborgene Wesenssubstanz aller Dinge" freisetzt, "und unser wahres Ich, das manchmal seit langem tot schien, aber es doch nicht völlig war, erwacht und gewinnt neues Leben aus der göttlichen Speise, die ihm zugeführt wird" (Bd. 10, 276 f.).

Doch anders als der Platoniker Proust nimmt Goethe den ästhetischen Schein solcher Visionen nicht schon als Realität. Faust schöpft seine "neue Lebenskraft" (V. 3279) nicht unmittelbar aus dem Genuß jener "göttlichen Speise", sondern gleichsam nur aus deren Vorgeschmack, der ihn "den Göttern nah und immer näher" bringt, ohne ein substantielles Ziel zu erreichen. In der Anamnesis seiner naturgeschichtlichen Verwandtschaft mit Steinen, Pflanzen und Tieren schweben ihm zwar "der Vorwelt silberne Gestalten auf", doch die erinnerten Geschöpfe zerfallen – so will es Goethes Dramaturgie – unter der Trockenheit der mephistophelischen Realitätsprüfung "zu Nichts" (V. 3245). Während Proust – der die Blumen so liebte, aber aufgrund seines Asthmas nicht riechen durfte – die aufsteigenden Erinnerungsbilder im Gleichnis von den "Papierblumen" zur höheren Realität verklärt, setzt Goethe sie als "Kribskrabs der Imagination" (V. 3268) einer erbrarmunglsoen Kritik aus.

Goethes Abgrenzung von der platonischen Anamnesis betrifft einzig diesen ontologischen Aspekt. Strukturell hingegen übernimmt er das platonische Modell, wie es etwa im Gespräch mit Falk anläßlich von Wielands Tod deutlich wird:

Die Intention einer Weltmonade kann und wird manches aus dem dunkeln Schoße ihrer Erinnerung hervorbringen, das wie Weissagung aussieht und doch im Grunde nur dunkle Erinnerung eines abgelaufenen Zustandes, folglich Gedächtnis ist; völlig wie das menschliche Genie die Gesetztafeln über die Entstehung des Weltalls entdeckte, nicht durch trockne Anstrengung, sondern durch einen ins Dunkel fallenden Blitz der Erinnerung, weil es bei deren Abfassung selbst zugegen war (Falk 1832/1977, 60).

 

Die Differenz liegt im Medium der Wiedererinnerung: Für Platon steht fest, daß nur dann von Anamnesis gesprochen werden kann, "wenn, was der Seele mit dem Leibe zugleich begegnet ist, sie dieses ohne den Leib für sich allein möglichst zurückholt" (Philebos 33b). Genau diese Trennung ist es, die Goethe in seiner durch Leibniz vermittelten Platonrezeption rückgängig macht. In dem Gespräch mit Falk formuliert er eine entsprechende Interpretation der Monadologie:

Die letzten (Monaden) pflegen … alles, was sich ihnen naht, in ihren Kreis zu reißen und in ein ihnen Angehöriges, d.h. in einen Leib, in eine Pflanze, in ein Thier, oder noch höher herauf, in einen Stern zu verwandeln. Sie setzen dies so lange fort, bis die kleine oder große Welt, deren Intention geistig in ihnen liegt, auch nach außen leiblich zum Vorschein kommt. Nur die letzten möchte ich eigentlich Seelen nennen (54).

 

Erinnerung muß für Goethe stets an eine leibliche Trägersubstanz gebunden sein. Im Unterschied zu Herder, Hölderlin und anderen nimmt Goethe denn auch an der mit Leibniz' Rezeption der Anamnesis-Lehre einsetzenden Diskussion über den Begriff der Erinnerung als erkenntnis- und dichtungstheoretischen Kategorie im platonischen Sinne keinen Anteil (vgl. GWb III, 3, 323). Dieser antiplatonische Aspekt dokumentiert sich geradezu lehrstückhaft in der Mütterszene des Faust II, wo das Urbild der Schönheit in einer Explosion verpufft. Wie Thomas Zabka gegenüber einer ganzen Phalanx von Faustforschern herausgearbeitet hat, entspricht der Gang zu den Müttern nicht Goethes Suche nach den Urphänomenen, sondern vielmehr seiner Kritik an der Ablösung der Erfahrung von der Idee (vgl. Zabka 1993, 142 f.). Welche Gefahren diese Tendenz der "Idealisten alter und neuer Zeit" (HA XII, 491) in sich birgt, führen Faust und Mephisto exemplarisch vor, indem sie am Kaiserhof ein Theaterstück inszenieren. Das "Fratzengeisterspiel", das Raub der Helena (V. 6546 ff.) genannt wird, beginnt damit, daß Faust Mephistos Warnung vor der gestaltlosen "Leere" (V. 6251) des Mütterreichs in den Wind schlägt: "In deinem Nichts hoff' ich das All zu finden" (V. 6256). Tatsächlich findet er das Urbild der Schönheit. Doch als er versucht, die Phantasmagorie der Helena festzuhalten, scheitert er kläglich: "Explosion, Faust liegt am Boden. Die Geister gehen in Dunst auf" (nach V. 6563).

Die Versuchung, den ästhetischen Schein als Realität zu nehmen, bleibt bei Goethe nicht ungestraft. Was folgt nun daraus für seinen Erinnerungsbegriff? Ist sein Gehalt ein bloßes Phantasma, dem man sich besser nicht hingibt?

 

 

4. Selbstbesinnung als Erinnerung des Lebensganzen

 

 

Wie die Erinnerung gleichwohl lebendige Gestalt annehmen kann, zeigt die Klassische Walpurgisnacht, die unmittelbar auf die Katastrophe der Mütterszene folgt. Fausts Sehnsucht nach Helena bekommt hier eine zweite Chance, und er kann sie realisieren. Diesmal begibt er sich nicht in die Leere des platonischen Ideenreichs, sondern in den mythischen Hades: Wie Odysseus, dem dort die Erinnerungsbilder seiner Mutter und der trojanischen Helden erscheinen (11. Gesang), steigt Faust, geleitet von Manto, in den Hades herab und kann schließlich, "sehnsüchtigster Gewalt, / Ins Leben ziehn die einzigste Gestalt" (V. 7438f.). Die Erinnerung Helenas ist ein Innewerden der schöpferischen Energie, die ihr Bild hervorbringt. Durch diese Verifikation am eigenen Leibe wird sie unverlierbar. Faust betrachtet die Antike nicht als philologischen Gedächtnisinhalt, sondern er geht auf eine Entdeckungsreise, die die Vergangenheit in ihm und durch ihn lebendig werden läßt. Zunächst hört er sich zwar noch an wie ein Bildungstourist:

Vom frischen Geiste fühl' ich mich durchdrungen;
Gestalten groß, groß die Erinnerungen. (V. 7190)

 

Doch es bleibt nicht beim bloßen Anstaunen der mythischen Figuren; sein Schauen ist selbst ein mythogener Akt:

Ich wache ja! O laßt sie walten,
Die unvergleichlichen Gestalten,
Wie sie dorthin mein Auge schickt. (V. 7271 ff.)

 

Die kreative Sicht auf die Antike läßt diese von einer historiographischen in eine autobiographische Erfahrung übergehen:

So wunderbar bin ich durchdrungen!
Sind's Träume? Sind's Erinnerungen?
Schon einmal warst du so beglückt. (V. 7274 ff.)

 

Schließlich vertraut er sich Manto an, die ihm rät, es beim Gang in die Unterwelt "besser" (V. 7494) zu machen als Orpheus, der auf das Erinnerungsbild Eurydikes zurückgriff und dadurch den Kontakt zu dem verlor, was es hervorbrachte: seine eigene Kreativität. Für Faust hingegen ist der Hades kein Ort der Rückwendung; "frisch" und "beherzt" (V. 7494) betritt er ihn als eine Welt eigener Hervorbringung. "Indem Faust", schreibt Hölscher-Lohmeyer, "mit Mantos Hilfe in diesen Hades hinabsteigt, geht er in dieselbe Erde ein, die die heroischen Bilder einst erzeugte und nun bewahrt; er wird selber teilhaftig dieses Elements und der ihm eigenen schöpferischen Kräfte; er wird zum neuen Schöpfer der Helena. … Sein Eingehen ins Element ist wie das des Homunculus ein Sterben zu neuer Verwandlung" (Hölscher-Lohmeyer 1991, 122). Im Gegenzug zur mißglückten Anamnesis der Mütterszene wird Erinnerung in der Klassischen Walpurgisnacht als Innewerden natürlicher Wachstums- und Gestaltungsvorgänge dargestellt. So enden auch die beiden Lehrgedichte zur Metamorphose mit dem Motiv des autobiographischen Eingedenkens der in der Natur geschauten Prozesse. Da der Mensch in sie eingebunden ist, kann die Betrachtung durch Besinnung auf die gemeinsamen Bildungsgesetze vom konkreten Einzelgeschöpf nach und nach auf die höheren Gattungen und Arten bis zur Selbsterkenntnis, zum Erinnern der eigenen Bestimmung, übergehen:

Jede Pflanze verkündet dir nun die ew'gen Gesetze,
Jede Blume, sie spricht lauter und lauter mit dir.
Aber entzifferst du hier der Göttin heilige Lettern,
Überall siehst du sie dann, auch in verändertem Zug.
Kriechend zaudre die Raupe, der Schmetterling eile geschäftig,
Bildsam ändre der Mensch selbst die bestimmte Gestalt.
O, gedenke denn auch, wie aus dem Keim der Bekanntschaft
Nach und nach in uns holde Gewohnheit entsproß,
Freundschaft sich mit Macht aus unserm Innern enthüllte,
Und wie Amor zuletzt Blüten und Früchte gezeugt.   (HA I, 200 f., V. 65–74)

 

Der Mensch – hier ebenso wie die Pflanze als "Paar" gesehen – steht auf der höchsten Stufe; er findet "die höhere Welt" (V. 80) aber nur dadurch, daß er imstande ist, rückblickend den Prozeß der Metamorphose in sich nachzuvollziehen:

Freue dich, höchstes Geschöpf, der Natur! Du fühlest dich fähig,
Ihr den höchsten Gedanken, zu dem sie schaffend sich aufschwang,
Nachzudenken. Hier stehe nun still und wende die Blicke
Rückwärts, prüfe, vergleiche und nimm vom Munde der Muse,
Daß du schauest, nicht schwärmst, die liebliche volle Gewißheit.
(HA I, 203, V. 57–61)

 

Ein besonders schönes Beispiel für die Verschmelzung von Individual- und Naturgeschichte im Vollzug des Erinnerns ist die Elegie Euphrosyne, die zum Gedenken der schon im Alter von zwanzig Jahren verstorbenen Schauspielerin Christiane Becker geschrieben wurde. Eine der Rollen, mit denen sie sich in die Herzen des Weimarer Publikums gespielt hatte, war die der Euphrosyne aus Weigls Zauberoper. Goethe, der in ihr einen anmutigen Beleg für seinen Schauspielunterricht sehen durfte, hörte vom frühen Tod seiner geliebten Schülerin auf einer Reise in die Schweiz. So verwebt sein lyrischer Nachruf die Landschaftseindrücke der Bergwelt mit den aufsteigenden Erinnerungsbildern, beginnend mit der geheimnisvollen Erleuchtung einer symbolischen Abenddämmerung:

Aber was leuchtet mir dort vom Felsen glänzend herüber,
Und erhellet den Dust schäumender Ströme so hold?
Strahlt die Sonne vielleicht durch heimliche Spalten und Klüfte?
Denn kein irdischer Glanz ist es, der wandelnde, dort.
Näher wälzt sich die Wolke, sie glüht. Ich staune dem Wunder!
Wird der rosige Strahl nicht ein bewegtes Gebild?
Welche Göttin naht sich mir? und welche der Musen
Suchet den treuen Freund, selbst in dem grausen Geklüft? (V.9–16)

 

Nicht er sucht die Erinnerung, sondern sie sucht ihn: Die Eigendynamik der unwillkürlich aufsteigenden Erinnerung erscheint, anders als in den erwähnten Beispielen aus dem Faust I, als ein personalisiertes Geschehen, das allmählich Gestalt annimmt, bis es sich im Gefühl der Trauer zu erkennen gibt:

Ja, schon sagt mir gerührt dein Blick, mir sagt es die Thräne:
Euphrosyne, sie ist noch von dem Freunde gekannt. (V. 29f.)

 

Das Wiedererkennen ist hier zunächst ein rezeptiver Vorgang. Goethe, schreibt Max Kommerell über die Nachricht vom Tod der Freundin, "erfuhr nicht von ihm, er erfuhr ihn" (1943, 173). Diese passive Ergriffenheit findet sich etwa auch in Werthers Reaktion auf den Bericht vom Tod einer Jugendfreundin: "Die Erinnerung einer solchen Szene … fiel mit ganzer Gewalt bei diesen Worten über mich" (HA VI, 35), sowie in Erwin und Elmire: "Auf einmal faßt mich die Erinnrung an" (WA I 11, 314, V. 586). Die Elegie fängt dieses Moment der Ergriffenheit dadurch ein, daß sie die Erinnerte selbst zum Agens des Erinnerns macht:

Laß mich der Tage gedenken, da mich, das Kind, du dem Spiele
Jener täuschenden Kunst reizender Musen geweiht. (V.35f.)

 

Die folgende Schilderung der Vergangenheit bleibt von vornherein der Tatsache eingedenk, daß sie "Unwiederbringliches" anruft (V. 38). Doch gerade aus dem Wechselspiel des Auftauchens und Verflüchtigens von Erinnerungsbildern erwächst ein Bewußtsein des Lebensstroms. Auch hier wird also die Auflösung von Gedächtnisinhalten zum Anlaß einer sich vertiefenden Erinnerung. Euphrosyne bezeichnet die "irdischen Tage", derer sie gedenkt, als "vereilenden Wert" (V. 39 f.), der aber eben dadurch, daß er Verlustgefühle evoziert, seine Bedeutung steigert:

Klein erscheinet es nun, doch ach! nicht kleinlich dem Herzen;
Macht die Liebe, die Kunst jegliches Kleine doch groß. (V. 41f.)

 

Der Weg zur emotionalen Verwirklichung des Scheins ist die Kunst, die ihrerseits Stufe für Stufe zur Belebung ihrer Gestalten aufzusteigen vermag:

Denkst du der Stunde noch wohl, wie auf dem Brettergerüste
Du mich der höheren Kunst ernstere Stufen geführt?
Knabe schien ich, ein rührendes Kind, du nanntest mich Arthur,
Und belebtest in mir britisches Dichtergebild. (V.43–46)

 

In der Schauspielkunst spiegelt sich das Vermögen, Erinnerungsbilder lebendig werden zu lassen. Das Bild bleibt eine Täuschung, aber als Täuschung vermag es doch wirkliche Reaktionen zu veranlassen – selbst beim Schauspiellehrer:

Drohtest mit grimmiger Glut den armen Augen und wandtest
Selbst den tränenden Blick, innig getäuschet, hinweg. (V. 47f.)

 

Euphrosyne erinnert daran, wie sie eine Sterbeszene spielte und damit eben jene Stimmung vorwegnahm, die nun, da sie tatsächlich gestorben ist, wiederkehrt. Auch insofern war die Täuschung echt:

Und ich heuchelte lang', dir an dem Busen, den Tod.
Endlich schlug die Augen ich auf, und sah dich, in ernste
Stille Betrachtung versenkt, über den Liebling geneigt. (V. 52–54)

 

Die einst antizipierte Erinnerung an ihren Tod wird nun, im Rückblick, wiedererlebt. Zugleich damit aber kommt die Erinnerung an die Aufhebung der Täuschung. Er, "den selber der Schein früherer Leiche geschreckt" (V. 68) hatte und der dadurch in "tiefe Betrachtung" (V. 87) über die schicksalhafte Möglichkeit des vorzeitigen Ablebens verfiel, – er konnte damals erleichtert den Theatertod als Illusion beiseite schieben:

Aber freudig seh' ich dich mir in dem Glanze der Jugend,
Vielgeliebtes Geschöpf, wieder am Herzen belebt. (V. 89f.)

 

Nun aber hat sich die scheinhafte Vorwegnahme ihres Todes als wahr erwiesen und die Aufhebung der Täuschung als ephemer. Diese doppelte Fallhöhe läßt die Trauer in der Erinnerung um so schwerer wiegen. Zugleich aber bleibt auch der Moment der Wiederbelebung in der Erinnerung erhalten – als Modell einer möglichen Wiederauferstehung:

Aber du,vergesse mich nicht! Wenn eine dir jemals
Sich im verworrnen Geschäft heiter entgegen bewegt,

Selbst bis zur Pforte des Grabs, freudiges Opfer sie bringt –
Guter! dann gedenkest du mein, und rufest auch spät noch:
Euphrosyne, sie ist wieder erstanden vor mir! (V. 109–116)

 

Freilich bleibt diese Wiederauferstehung an das Gedenken des unvermeidlichen Abschieds gebunden. Nur im Nachruf überlebt die auf immer Verlorene:

Vieles sagt' ich noch gern; doch ach! die Scheidende weilt nicht,
Wie sie wollte: mich führt streng ein gebietender Gott.
Lebe wohl! schon zieht mich's dahin in schwankendem Eilen.
Einen Wunsch nur vernimm, freundlich gewähre mir ihn:
Laß nicht ungerühmt mich zu den Schatten hinabgehn!
Nur die Muse gewährt einiges Leben dem Tod.
Denn gestaltlos schweben umher in Persephoneias
Reiche, massenweis, Schatten vom Namen getrennt;
Wen der Dichter aber gerühmt, der wandelt, gestaltet,
Einzeln, gesellet dem Chor aller Heroen sich zu. (V. 117–126)

 

Durch die poetische Gestaltung wird der Name der Verstorbenen als Euphrosyne unsterblich. Das schöpferische Produkt, die neue Metamorphose, die durch die szenische Erinnerung zustande kam (vgl. Peters 1990, 63), ist mehr als ein Gedächtnisbild; es geht über die Faktizität des Vergangenen hinaus:

Bildete doch ein Dichter auch mich! und seine Gesänge,
Ja, sie vollenden an mir, was mir das Leben versagt. (V. 139f.)

 

Hier begegenen wir wieder der supplementären Dichtung der biographischen Wahrheit, dem Prinzip der Goetheschen Lebenserinnerungen. Die Elegie macht deutlich, daß es selbst dem unaufhörlichen Wandel der Naturerscheinungen unterliegt. So wie das Erinnerungsbild sich aus der Wolkenformation heraus entwickelte, so geht es darin auch wieder ein:

Also sprach sie, und noch bewegte der liebliche Mund sich,
Weiter zu reden; allein schwirrend versagte der Ton.
Denn aus dem Purpurgewölk, dem schwebenden, immer bewegten,
Trat der herrliche Gott Hermes gelassen hervor.
Mild erhob er den Stab und deutete; wallend verschlangen
Wachsende Wolken, im Zug, beide Gestalten vor mir. (V. 141–146)

 

Mit der Auflösung des Erinnerungsbildes, das die Nacht erleuchtet hatte, verdüstert sich die Landschaft im Abschiedsschmerz um so mehr:

Tiefer liegt die Nacht um mich her, die sürzenden Wasser
Brausen gewaltiger nun neben dem schlüpfrigen Pfad.
Unbezwingliche Trauer befällt mich, entkräftender Jammer,
Und ein moosiger Fels stützet den Sinkenden nur. (V. 147–150)

 

Doch mit der Intensität der Emotion öffnet sich erneut der Blick für das Licht künftiger Auferstehung:

Wehmut reißt durch die Saiten der Brust; die nächtlichen Tränen
Fließen, und über dem Wald kündet der Morgen sich an. (V. 151f.)

Die Elegie kann als paradigmatisch für die Verlaufsform der Goetheschen Trauerarbeit gesehen werden, deren Stationen durch die Lichtwechsel der Landschaft symbolisiert werden: Die abendliche Verfinsterung drückt die Stimmung im Augenblick der Todesnachricht aus; mit überirdischem Leuchten wird dann die Nacht durch das Erinnerungsbild erhellt; sein notwendiges Schwinden vertieft schließlich die Schwärze der Nacht, die aber sogleich abgelöst wird durch die Morgendämmerung eines neuen Tages. Daß es sie gibt, diese Morgendämmerung, verkörpert die Tatsache, daß Goethes Erinnerungen zukunftsoffen sind, auch in der Trauer. Dies wird häufig übersehen. So beruft sich etwa Victor Hehn auf Goethes Fernbleiben von Bestattungen und seine gesteigerte Betriebsamkeit bei Trauerfällen, um die antike Einkleidung des lyrischen Nachrufs auf Christiane Becker als arbeitstherapeutische Abwehrmaßnahme zu deuten: "Bekannt ist, wie Goethe sich gegen den Tod verhielt… Vivere memento war sein Spruch, nicht memento mori. Komme der Tod einst, wenn es sein muß, ruft er; daran vorzudenken ist schrecklich… Hatte der Tod irgend einen Freund oder eine geliebte Person von seiner Seite gerissen, so heilte er sich durch verdoppelte Tätigkeit, durch festen Anschluß an das Wirkliche und Lebende… Bei dieser Gelegenheit mußte er mit den Griechen zusammentreffen" (Hehn 1911, 291).

Es genügt ein Blick auf den Grabstein seiner Frau, um zu ermessen, wie sehr diese Deutung fehlgeht. Goethe ließ dort die Verse eingravieren:

Du versuchst, o Sonne, vergebens,
Durch die düstren Wolken zu scheinen!
Der ganze Gewinn meines Lebens
Ist, ihren Verlust zu beweinen. (HA I, 345)

 

Inniger kann der Verlust einer geliebten Person nicht beklagt werden. Das Gedicht spricht aus, worin der produktive Antrieb Goethes bei Todesfällen besteht: Nicht aus der Verdrängung, sondern aus dem Impuls zur Bewältigung tief empfundener Trauer bezieht er den Gewinn seines Lebens. So ist auch die Abschiedslyrik der Euphrosyne keineswegs das Produkt einer antikisierenden Verharmlosung des Todes. Die klassische Form unterbindet nicht den modernen seelischen Gehalt, sondern bringt ihn kontrastiv gesteigert zum Ausdruck. Das poetische Gebilde ist nicht Ersatz für den empfundenen Mangel; es ist seine Erinnerung, die gerade aus der Erfahrung des Mangels schöpferische Energie gewinnt.

Wohin es dagegen führt, wenn das Erinnerungsbild für die Realität genommen und willkürlich festgehalten wird, demonstriert Goethe in seinem Festspiel Pandora. Er verfolgt hier nicht nur, wie Gerhart von Graevenitz gezeigt hat, das "duale Konzept von Erinnerung als phantasie-geleitete Erinnerung des Epimetheus und als die vom 'ingenium' bestimmte Erinnerung des Prometheus" (1993, 80 f.). Sondern Goethe treibt dieses aristotelische Konzept zugleich über seine Beschränkungen hinaus: Epimetheus, der "Nach-Sinnende", genießt seine Fähigkeit, ganz in der Vergangenheit zu leben:

O göttliches Vermögen mir, Erinnerung!
Du bringst das hehre frische Bild ganz wieder her. (V. 597)

Gerade diese ästhetizistische Selbstgenügsamkeit aber ist es, die seine Träumerei in blinden Aktionismus umschlagen läßt (vgl. Meyer-Abich / Matussek 1993, 201 f.). Kreative Potentiale hingegen vermag nur das Eingedenken und Nachfühlen der Unwiederbringlichkeit des Vergangenen freizusetzen. Auch die Phantasmagorie Helenas muß schließlich, zusammen mit dem künstlichen Arkadien, in dem sie mit Faust lebendig war, dahinschwinden und zum "Idol" werden (V. 8879 ff.), zum poetischen Monument. Gerade dadurch kann es der Erstarrung zum Klischee entgehen, denn es veranlaßt die Künstler dazu, daß sie durch ihre "innere productive Kraft jene Nachbilder, die im Organ, in der Erinnerung, in der Einbildungskraft zurückgebliebenen Idole ohne Vorsatz und Wollen lebendig hervortun" (WA II 11, 283). Mit seiner Ausschließung von "Vorsatz und Wollen" bleibt Goethes Erinnerungsbegriff der Proustschen mémoire involontaire verwandt; doch es zeichnet ihn diesem gegenüber aus, daß er gerade darin eine "Kraft" sieht, die sich "lebendig hervortut". Beides zusammen erst charakterisiert Goethes "Vivere memento".

So läßt sich zusammenfassend von einer unwillkürlich-produktiven Erinnerung bei Goethe sprechen, die auf dem Impuls zur "Erneuerung u[nd] Fortführung des Erlebten und Erfahrenen" basiert und sich insbesondere durch die "Wiederbelebung persönl[icher]" und "geistiger Beziehungen" verwirklicht (GWb III, 3, 321). Im einem Gespräch mit Kanzler von Müller reagiert Goethe deshalb ungehalten auf dessen nostalgischen Erinnerungsbegriff: "Ich statuiere keine Erinnerung in eurem Sinne … Was uns irgend Großes, Schönes, Bedeutendes begegnet, muß nicht erst von außen her wieder erinnert, gleichsam erjagt werden, es muß sich vielmehr gleich vom Anfang her in unser Inneres verweben, mit ihm eins werden … Es gibt kein Vergangenes, das man zurücksehnen dürfte, es gibt nur ein ewig neues, das sich aus den erweiterten Elementen des Vergangenen gestaltet und die echte Sehnsucht muß stets produktiv sein, ein neues Beßres erschaffen" (4.11.1823). Aus dieser produktiven Wendung der platonischen Anamnesis wird der alte Goethe schließlich seine Vorstellung von der Weiterexistenz nach dem Tode entwickeln. "Wirken wir fort", schreibt er am 19.3.1827 an Zelter,

bis wir … vom Weltgeist berufen in den Äther zurückkehren! Möge dann der ewig Lebendige uns neue Tätigkeiten, denen analog in welchen wir uns schon erprobt, nicht versagen! Fügt er sodann Erinnerung und Nachgefühl des Rechten und Guten was wir hier schon gewollt und geleistet, väterlich hinzu; so würden wir gewiß nur desto rascher in die Kämme des Weltgetriebes eingreifen.

Nun können wir auch die Erinnerungsarbeit, die Goethe in Dichtung und Wahrheit vollzieht, näher bestimmen. Sie ist keine Memoirenschreiberei, die sich bilanzierend zurücklehnt, sondern ein Prozeß der Selbstbesinnung, bei dem ihn die Produktion mehr interessierte als das Produkt. "An dem 2. Bande meines biographischen Versuchs", schreibt er am 8.4.1812 an Zelter, "habe ich mehr durch Denken und Erinnern gearbeitet, als daß ich viel zu Papier gebracht hätte." Was ihn vornehmlich beschäftigte, war die Frage, wie aus den enttäuschten Vorstellungen und uneingelösten Versprechen der Vergangenheit immer wieder der Impuls zur Neuorientierung des aktuellen Handelns hervorzugehen vermag. Seine Lebenserinnerungen sind Erinnerungen des Lebensprozesses in seiner naturgemäßen Unvorhersehbarkeit, dessen Widerständigkeit gegen das menschliche Planen und Herstellen erst den Blick für die tieferen Quellen des Daseins öffnet. Er läßt sie mit einem Glockenschlag beginnen, dem Erinnerungszeichen par excellence, Ruf ins tätige Leben und Mahnung ans Schicksal zugleich bedeutend. Das anschließende Horoskop steht – mit dem Symbol der planetarischen Gegenwirkung, die sich seiner Geburt zunächst "widersetzte" – in derselben Spannung von Impuls und Hemmung wie alle folgenden Episoden: beginnend mit den zerstörten Töpferwaren, über die Inbrandsetzung des Naturaltars, die Verstrickung in jugendliche Kriminalität, den 'Schiffbruch' des Leipziger Studiums, die lebensbedrohliche Krankheit, die erfolglosen alchemistischen Experimente, den abrupten Abbruch der Beziehung zu Friederike, die literarischen "Explosionen" der Genieproduktionen, die gescheiterte Verlobung mit Lili, bis zum Ausbleiben des herzoglichen Wagens – der ihn dann schließlich doch nach Weimar bringen wird. Alle diese Ereignisse sind überraschende Einbrüche in den geplanten Lebensgang, aus denen jeweils neue Wachstumstendenzen hervorgehen. Sie zu erinnern heißt, den natürlichen Rhythmus des Lebens in seiner zukunftsoffenen Prozeßhaftigkeit zu erfahren. Und so schließt Dichtung und Wahrheit nicht mit einem tröstlichen Merkspruch für das Poesiealbum des kulturellen Gedächtnisses, sondern mit einem prekären Bild, das die notwendige Ungewißheit einer naturgemäßen Erinnerungskultur zum Ausdruck bringt:

Wie von unsichtbaren Geistern gepeitscht, gehen die Sonnenpferde der Zeit mit unsers Schicksals leichtem Wagen durch, und uns bleibt nichts als, mutig gefaßt, die Zügel festzuhalten und bald rechts, bald links, vom Steine hier, vom Sturze da, die Räder abzulenken. Wohin es geht, wer weiß es? Erinnert er sich doch kaum, woher er kam. (HA X, 187)

 

 

 

Literatur

 

Boehm, Gottfried: Mnemosyne. Zur Kategorie des erinnernden Sehens. In: ders./Stierle, K.-H./Winter, G. (Hg.): Modernität und Tradition. Festschrift für Max Imdahl zum 60. Geburtstag; München 1985, S. 37–59.

Falk, Johannes: Goethe aus näherm persönlichen Umgange dargestellt. Reprograph. Dr. d. Ausg. Leipzig 1832; Hildesheim 1977.

Freud, Sigmund: Eine Kindheitserinnerung aus 'Dichtung und Wahrheit'. In: ders.: Studienausgabe Bd. X; 9. Aufl. Frankfurt am Main 1969, S. 255–267.

Graevenitz, Gerhart von: Erinnerungsbild und Geschichte. Geschichtsphilosophie in Vicos "Neuer Wissenschaft" und in Goethes "Pandora". In: Goethe-Jahrbuch 110 (1993), S. 77–89.

Halbwachs, Maurice: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen; Frankfurt am Main 1985.

Hehn, Victor: Über Goethes Gedichte. Aus dem Nachlaß hg. v. Ed. v. d. Hellen; Stuttgart und Berlin 1911.

Hölscher-Lohmeyer, Dorothea: Natur und Gedächtnis. Reflexionen über die klassische Walpurgisnacht. In: Keller, Werner (Hg.): Aufsätze zu Goethes 'Faust II'; Darmstadt 1991, S. 93–122.

Kommerell, Max: Gedanken über Gedichte. Frankfurt am Main 1943.

Meyer-Abich, Klaus Michael / Matussek, Peter: Skepsis und Utopie. Goethe und das Fortschrittsdenken. In: Goethe-Jahrbuch 110 (1993), S. 185–207.

Michel, Christoph: Fausts Tränen. In: Das weinende Säkulum; Heidelberg 1983, S. 115–122.

Müller, Carl Heinrich: Goethes Horoskop. In: Jahrbuch des Freien deutschen Hochstifts 1905, S. 117–143.

Peters, Günter: Das Schauspiel der Natur. Goethes Elegien 'Die Metamorphose der Pflanzen' und 'Euphrosyne' im Kontext einer Naturästhetik der szenischen Anschauung. In: Poetica 22 (1990), H. 1–2, S. 46–83.

Proust, Marcel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit; 10 Bde. Frankfurt am Main 1979.

Schanze, Helmut: Goethes Dramatik. Theater der Erinnerung; Tübingen 1989.

Schmidt, Jochen: Die Geschichte des Geniegedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750–1945; 2 Bände Darmstadt 1985.

Spranger, Eduard: Goethe und die metaphysischen Offenbarungen. In: ders.: Goethe. Seine geistige Welt; Tübingen 1967, S. 233–267.

Trunz, Erich: Anmerkungen des Herausgebers zu Goethes 'Faust' (1955). In: HA III, S. 461–647.

Ueding, Gert (Hg.): Goethes Reden; Frankfurt am Main 1994.

Wieland, Wolfgang: Platon und die Formen des Wissens; Göttingen 1982.

Yates, Frances A: Gedächtnis und Erinnern. Mnemonik von Aristoteles bis Shakespeare; 3. Aufl. Berlin 1994.

Zabka, Thomas: Faust II – Das Klassische und das Romantische. Goethes 'Eingriff in die neueste Literatur'; Tübingen 1993.