Peter Matussek

Camille Claudel

 


Erschienen in: Analytische Psychosentherapie. Band 1: Grundlagen; Berlin, Heidelberg, New York 1992, S. 170–174 [Nachdrucke 1997 u. 2001].

 

     
 

Die Biographie der Bildhauerin Camille Claudel – wir stützen uns insbesondere auf Paris (1989), partiell auf Delbée (1985) und Guillemin (1968) – ist von einer Grundkonstellation geprägt, die fast zwangsläufig in die Schizophrenie führte. Durch ihre familiäre und soziale Situation wurde die Sonderbegabte in eine Überakzentuierung des öffentlichen Selbst hineingetrieben, an der sie letztlich zerbrach – ja zerbrechen mußte, denn um die für den Ausgleich eines defizitären privaten Selbst notwendige öffentliche Anerkennung zu finden, fehlten die lebens­geschichtlichen Voraussetzungen. Camilles Karriereambitionen kolli­dierten mit der gesellschaftlichen Rolle der Frau um die Jahrhundertwende und sie kol­lidierten insbesondere mit der Liebe Auguste Rodins, der sie förderte, damit aber ungewollt den Konflikt heraufbeschwor, den wir oben als charakte­ristisch für den Umweltbezug Schizophrener beschrieben haben: Die defensive Selbstüber­höhung, also die ständige Außenorientierung bei gleichzeitiger Abgrenzung zu den anderen. Die ehrgeizige Schülerin brauchte den berühmten Meister um sei­ner, d. h. ihrer Berühmtheit willen; daß sie ihm nahe kam, war Bedingung hier­für und bedeutete doch zugleich eine unerträgliche Bedrohung ihrer Selbstkonstruktion, die alles Private ausklammerte. Die Entstehungs­geschichte dieses Grundkonflikts soll im folgenden skizziert werden.

Das Familienklima war geprägt von Streit und Spannungen. Einen gewissen Zusammenhalt verlieh allerdings das gemeinsame Gefühl des Auserwähltseins gegenüber anderen. Abgrenzung und eine vornehme Herablassung bestimmten den Umgang mit den Bewohnern des Ortes, in dem die Claudels wie Landadlige residierten, obwohl weder Herkunft noch Vermögen dazu Anlaß gaben. „Man war“, schreibt Guillemin (1968), „nun einmal die Familie Claudel, im ganz selbstverständlichen und unbestreitbaren Bewußtsein einer Art mystischer, un­nahbarer Überlegenheit, zusammengeschweißt in der Gewißheit der Andersar­tigkeit.“ Camille, älteste von drei Geschwistern, lebt dieses Bewußtsein in einer Konsequenz, die selbst den Eltern nicht geheuer ist. Die Mutter, die keinerlei Verständnis für sie hat, bevorzugt eindeutig ihre jüngere Tochter. Diese Bevorzugung hat durchaus auch demonstrativen Charakter, so daß hier von einer negativen Hervorhebung Camilles gesprochen werden muß, einer Verurteilung zur Sonderrolle. Auch Paul, der einzige, der sie wirklich liebt und als „herrliches junges Mädchen im sieghaf­ten Glanz der Schönheit und des Genies“ verehrt, ist von ihrem heftigen Temperament und ihrem hochmütigen Stolz bisweilen irritiert. Er attestiert ihr eine „oft grausame Überlegenheit“.

Bereits früh, ohne erkennbaren äußeren Einfluß, bricht Camilles Sonderbega­bung durch. Sie modelliert mit einem unablässigen, unbeirrbaren Schaffens­drang. Die Eltern und Geschwister müssen ihr Modell sitzen, ob sie wollen oder nicht. Mit jeder Dokumentation ihres Genies aber manövriert sie sich tiefer in ihren Grundkonflikt hinein, die Anerkennung zu verfehlen, die sie so eifrig sucht. Denn es ist gerade ihre frappierende Begabung, die die Mutter auf Distanz zu ihr gehen läßt. Durch die Bevorzugung der jüngeren Schwester ist ihr ein Maß­stab der Akzeptanz vorgegeben, den sie umso mehr verfehlen muß, je mehr sie sich bemüht, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

Es sei dahingestellt, ob ihre Eigensinnigkeit bereits eine Gegenreaktion auf die fehlende Akzeptanz war oder von dieser erst hervorgerufen wurde. Jeden­falls vertieft jeder Beweis ihres einzigartigen Talents, das sie einsetzt, um von den anderen beachtet zu werden, ihre Isolation, die zu überwinden sie wiederum neue Anstrengungen unternimmt, die sie noch weiter von ihren Gefühlen und vom emotionalen Kontakt mit den anderen entfernen. Es ist der Teufelskreis jeder Fixie­rung auf das öffentliche Selbst. Die Rimbaudsche Formel „Ich ist ein anderer“ durchzieht von Anfang an Camilles Leben wie ein roter Faden und verstrickt sie zu­nehmend in jene „Quadratur der Ich-Bestätigungen“, die Lacan in seinem Spiegel-Aufsatz beschrieb. Eine ausweglose Situation, denn auch, als sie dann tatsächlich Anerken­nung findet, kann sie diese nicht mehr auf sich, d. h. auf ihr privates Selbst be­ziehen. Sie muß ihre Bewunderer verdächtigen, sie nach eben dem Wirkungs­kalkül einzuschätzen, das sie selbst zu ihrer Lebensmaxime gemacht hat.

Diese Ambivalenz gilt es mit zu bedenken, wenn man die ansonsten durchaus richtige Feststellung trifft, daß Camille stets Förderung erfahren hat. So ver­dankt sie zwar dem Vater eine großzügige finanzielle Unterstüzung ihrer Ausbil­dung, was aber nichts an der Tatsache ändert, daß er ein autoritärer Choleriker war, der sie am liebsten als Hausfrau unter die Haube gebracht hätte. Daß sie zum Modell und dann zur Geliebten Rodins wurde, war nicht im Sinne des Elternhauses, vor dem Camille denn auch ihr Privatleben strikt geheim hielt. Der Meister beteiligte sich an dieser Geheimhaltungsstrategie; auch seine damalige Geliebte und spätere Frau erfuhr von der Affäre mit seiner Schülerin zunächst kein Wort. Ohnehin verbot der sozialhistorische Kontext die öffentliche Thema­tisierung der Sexualität, erst recht der außerehelichen.

Hinzu kommt die Tatsache, daß sie als Frau in eine Männerdomäne eindringt, was zu jener Zeit eben die „falsche“ Identität war. Daß sie „wie ein Mann“ modelliere, registrierte das Publikum mit unverhohlenem Befremden. Dieser gesell­schaftliche Zwang zur Ichverleugnung hat Camilles Tendenz, sich abzukapseln und ihre Gefühle abzuspalten, zweifellos weiter verstärkt. Um zu überleben, mußte sie sich auf eine Mimikry einlassen, die zunächst darin bestand, sich mit dem Vorbild vollkommen zu identifizieren. „Aber das ist ja Rodin!“ rief ein Atelierbesucher beim Anblick einer ihrer ersten Skulpturen. Die Mimikry blieb indessen nicht auf ihre Kunst beschränkt, sondern umfaßte ihre sämtlichen Lebensäußerungen. Wenn sie Rodin in die Salons begleitete, war sie, die 24 Jahre Jüngere, ständig von dem Stigma bedroht, als Mätresse eines arrivierten Künstlers ange­sehen zu werden. Daher entfaltete ihr ansonsten starrsinniges Wesen, wenn es um öffentliche Auftritte ging, geradezu „chamäleonhafte“ Fähigkeiten (Paris 1989).

Die Liaison mit Rodin war denn auch ihrerseits weniger von privaten Empfindungen geprägt als von einem zähen, schließlich verzehrenden Kampf um öffentliche Anerkennung. Konträr zum biographischen Klischee, daß sie die aufopferungsvoll Liebende und er der Ausbeutende gewesen sei, deuten die Fakten eher auf das Gegenteil hin. Schon die Ansprache in den Briefen ist hierfür signifikant: Während sie ihn als „Monsieur Rodin“ adressiert, mit jener distanzierten Formel, die in Frankreich gegenüber Dienstboten üblich ist, nennt er sie ehrfurchtsvoll „Mademoiselle Camille“ oder – intimer und mit einer bemerkenswerten ironi­schen Wendung: – „Unser lieber Dickkopf, der uns regiert“. Auch der Inhalt ihrer Briefe zeugt weniger von inniger Hingabe als von der Koket­terie junger Mädchen, die sich darin gefallen, ihren Anbeter zu reizen. Hier ein Auszug aus dem einzigen Schreiben, das überhaupt das Etikett „Liebesbrief“ verdient hätte: „Da ich nichts zu tun habe, schreibe ich Ihnen schon wieder … Würden Sie wohl die Freundlichkeit haben, mir … im Bon Marché (Kammgarn!) oder in Tours ein niedliches dunkelblaues, weiß eingefaßtes, zweiteiliges, aus Mieder und Beinkleid (mittlerer Größe) bestehendes Badeko­stüm zu kaufen? Ich schlafe splitternackt; dann träume ich, Sie seien hier; doch wenn ich aufwache ist alles ganz anders.“ Es gibt nicht ein Dokument, das bele­gen würde, daß sie Rodin wirklich geliebt hat. Auch die Zeichnungen, die sie von ihm anfertigt – und zwar vor der Trennung! – sind alles andere als schmei­chelhaft, ja „gnadenlos“ (Paris 1989).

Auch die Affäre mit Debussy berührte sie nicht innerlich, verlief ohne Betei­ligung des privaten Selbst. „Ach!“, schreibt der Komponist rückblickend, „Ich hatte sie wirklich gern und liebte sie mit um so traurigerer Glut, als ich durch eindeutige Anzeichen verspürte, daß sie gewisse Schritte, für die man seine ganze Seele einsetzen muß, niemals tun würde, und daß sie für Nachforschun­gen über die Standhaftigkeit ihres Herzens unzugänglich war!“ Im Zusammen­hang dieser Affäre trat übrigens ein bemerkenswertes Detail zutage, das als Symbol für Camilles Überakzentuierung des öffentlichen auf Kosten des priva­ten Selbst gewertet werden kann: Nach dem Bericht eines Zeitzeugen besaß sie zwar einen übermäßig ausgeprägten optischen, aber keinen musikalischen Sinn. Die äußere Wahrnehmung dominierte also die innere – und darüber soll sie glücklich gewesen sein!

Entsprechend suchte sie in ihren Affären nicht ein Bedürfnis nach Intimität, sondern ihren Ehrgeiz zu befriedigen. Ihre Gekränktheit darüber, daß Rodin sie nicht zur Ehefrau und Mutter machte, ist unter diesem Aspekt zu sehen. Wie wir im praktischen Teil bereits anmerkten, geht es dem Schizophrenen bei der Ehe nicht um personale Nähe, sondern um die Erfüllung einer öffentlichen Norm. Daß es sich auch bei Camille Claudel so verhielt, ist um so naheliegender, als ihr zur damaligen Zeit gar keine andere Wahl blieb, wenn sie als Frau öffentlich akzeptiert werden wollte. Und das wollte sie mit allen Mitteln, zumal sie im Hin­blick auf das Geheiratetwerden und Kinderkriegen zu Mutter und Schwester in einer für sie beschämenden Konkurrenz stand. „Daß aus der Ehe nichts wurde“, so befindet Paris (1989) über den eigentlichen Enttäuschungsgrund, „mußte die­ses überaus empfindliche Wesen schwer treffen. Sie war in ihrem Gefühlsleben gescheitert, doch das bedeutete für Camille zugleich ein Scheitern in ihrer künstlerischen Entwicklung … Mit Rodin verlor Camille ihren Schutzwall, diese unsichtbare chinesische Mauer, die sich wie ein Ring um die geheimen Seelen­landschaften schließt. Alles brach zusammen, und durch die Breschen strömte das Unbewußte herein.“

Vor diesem Hintergrund des entstellten öffentlichen Selbst sind auch die Vorwürfe zu sehen, als Künstlerin ausgenutzt und ausgebeutet worden zu sein, die sie Rodin gegenüber nun erhebt. Sie fühlt sich um ihr Ingenium von demjenigen betrogen, der es überhaupt erst an die Öffentlichkeit getragen hatte. Das ist nicht vollkommen abwegig. Denn unter der Voraussetzung ihrer beson­deren Struktur, die es ihr unmöglich macht, sich mit der Position der Gleichrangigen oder gar der Zweitbesten zufrieden zu geben, muß sie ihren Protégé, so sehr er ihr half, gerade seiner Protektion wegen als behindernd, ja als demütigend erleben. Rodins gleichsam schattenspendende Präsenz in den Salons verhinderte, daß sie aus diesem Schatten heraustreten und sich vor anderen Künstlerkollegen in ihrer Einzigartigkeit hätte präsentieren können.

Die ersten psychotischen Symptome treten unmittelbar nach dem Bruch mit Rodin auf. Beschrieben werden zunächst eine auffällige Neigung zur Einsamkeit und zum Mißtrauen Fremden gegenüber. Sie verbarrikadiert sich in ihrer Woh­nung, die zunehmend verwahrlost. Besucher berichten, daß sie mit zerzausten Haaren inmitten von Spinnenweben zwischen zahllosen Katzen haust und unablässig über „diese Kanaille von Rodin“ herzieht. Schließlich wird sie gegen ihren energischen Widerstand in eine geschlossene Anstalt verbracht. Die ärztli­chen Gutachten attestieren übereinstimmend und konstant: „Systematisierter Verfolgungswahn“, „Fabuliertätigkeit“ und „Vergiftungsfurcht.“ Um einen Ein­druck von ihren Wahninhalten zu geben, zitieren wir Auszüge aus einem Brief an ihren Bruder:

„Nimm meine Skulpturen nicht mit nach Prag, ich will in diesem Land kei­nesfalls ausstellen. Bewunderer von derartigem Kaliber interessieren mich über­haupt nicht … Du hast recht, gegen Individuen wie Hébrard und Gauner seines Schlages ist die Justiz machtlos, für solche Leute gibt’s nur den Revolver als alleiniges und einziges Argument. Das wäre nötig, denn Du mußt bedenken, wenn dieser Kerl ungestraft davon kommt, ist das eine Ermutigung für all die anderen, die unverfroren, unter Anführung eines gewissen Rodin, meine Werke ausstellen und für sich Geld herausschlagen. Das tollste Stück hat er sich vori­ges Jahr geleistet, wo er doch glatt eine ‚Aurora‘ ausgestellt hat, die nicht von mir war, aber meinen Namenszug trug, und der er, um die Ironie auf die Spitze zu treiben, eine Goldmedaille verliehen ließ … Der Spitzbube bemächtigt sich auf den verschiedensten Wegen all meiner Skulpturen, schenkt sie seinen Kum­panen, dieser Künstlerschickeria, die ihn im Austausch dann mit Orden und Ovationen etc. bedenken … Meine angebliche Berufung war lukrativ für ihn!“

Trotz dieser scharfen Töne ist in ihrem Verhalten keinerlei Gewalttätigkeit oder Aggressivität. Ganz im Gegenteil heißt es in den Berichten, sie sei im Laufe der Krankheit immer sanfter und stiller geworden.

Der zunehmend sich verstärkende Verfolgungswahn erfüllt die Funktion der Erhaltung des Selbstwertgefühls. Daß sie betrogen worden sei, nicht nur von Rodin, der ihr in Wirklichkeit Geld zukommen ließ (anonym, um nicht zurück­gewiesen zu werden), sondern insbesondere auch von der Mutter, der sie ent­gegen tatsächlicher Unterstützungsleistungen unterstellt, sie um ihr Erbe bringen zu wollen, – diese Konstruktion ist erforderlich, um das nunmehr vollends ent­stellte öffentliche Selbst zu stützen. Denn wer betrogen wird, ist der mühsamen Verpflichtung enthoben, die eigenen Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Es gibt eine objektive Erklärung für den Mißerfolg. In der Klinik hört denn auch schlagartig ihre künstlerische Produktion auf. Es gibt niemanden, dem sie etwas beweisen könnte. Für sich selbst zu schaffen, verspürt sie keinerlei Antrieb – kann sie keinen Antrieb verspüren, da der Außenbezug ihrer kreativen Energien unheilvoll mit der Abspaltung von Gefühlen verquickt war. In diesem Prozeß hat sie sich in der vollen Bedeutung des Wortes erschöpft.

Selbstverständlich sollen mit dieser psychiatrischen Aussage weder der hohe künstlerische Rang noch die enormen Probleme der Publikumsakzeptanz relati­viert werden, denen Camille Claudels Leben ausgesetzt war. Vielmehr ist gerade die Kombination beider Faktoren – ein exorbitantes öffentliches Selbst, das ohne korrespondierende Validierung blieb –  der Grund für ihren Zusammen­bruch.

Nur einmal, als sie von dem Tod ihres Vaters erfährt, kommt ihr die Abspal­tung ihres privaten Selbst ephemer zu Bewußtsein. Sie schreibt: „Der arme Papa hat mich nie gesehen, wie ich wirklich bin; man hat ihn immer glauben gemacht, ich sei eine gemeine, undankbare und bösartige Kreatur; das war notwendig, damit die andere alles grapschen konnte.“ – Die „andere“: damit ist hier die von der Mutter bevorzugte Schwester gemeint. Unbewußt hat Camille damit aber auch ihre eigene Spaltung beschrieben.