Peter Matussek

Glenn Gould

 


Erschienen in: Analytische Psychosentherapie. Band 1: Grundlagen; Berlin, Heidelberg, New York 1992, S. 174–181 [Nachdrucke 1997 u. 2001].

 




"wegweisende psychoanalytische Gould-Studie"
Die Zeit

     
 

Das Beispiel der Camille Claudel zeigte eine schizophrene Entwicklung, die in einem Verfolgungswahn endete. Die entscheidende Ursache war eine über­mäßige Fixierung auf das öffentliche Selbst, das in der Konfrontation mit der realen Öffentlichkeit zerbrach. Freilich muß eine narzißtische Bezogenheit auf das öffentliche Selbst nicht zwangsläufig zur klinisch manifesten Psychose füh­ren. Alles hängt hier von der individuellen Lebensgeschichte ab. Während Camille Claudel in die ausweglose Situation geriet, daß sie just mit ihrer Art des Bemühens um Anerkennung diese verfehlte, kann die schizophrene Mimikry in anderen Fällen durchaus gelingen. Ein Beispiel hierfür ist der Pianist Glenn Gould. Die Biographien – wir stützen uns insbesondere auf Friedrich (1991) sowie auf Kazdin (1991) – geben zwar deutliche Hinweise auf eine paranoide Psychose. So werden z. B. immer wieder Zustände von extremer Angst und Panik, das plötzliche Fallenlassen von angeblichen Freunden aufgrund eingebil­deter Kränkungen und allerlei „merkwürdige“ und „seltsame“ Verhaltensweisen beschrieben. Doch ein regelrechter Zusammenbruch ist nicht zu konstatieren. Einzig der frühe Tod des exzentrischen Künstlers, der ein Erschöpfungstod war, gibt einen Hinweis darauf, welche enormen Anstrengungen es kostete, die zweifellos psychotische Dynamik unter Kontrolle zu halten.

Was sich also am Beispiel Goulds gut demonstrieren läßt, ist das „Gelingen“ eines Lebensganges im Vorfeld der Schizophrenie. Daß die narzißtische Fixie­rung auf das öffentliche Selbst hier nicht in die akute Psychose führte, hängt mit einem Phänomen zusammen, das der Schriftsteller Thomas Bernhard in seinem Roman ‚Der Untergeher‘ psychologisch treffend beschrieb. Darin wird Glenn Gould mit einem weniger begabten Kollegen namens Wertheimer verglichen. Dieser ist es, der untergeht, weil er am überragenden Genie des anderen ver­zweifelt: „Nicht Glenn war der Schwierigste von uns“, schreibt der Ich-Erzähler im Roman, „Wertheimer war es. Glenn war stark, Wertheimer war unser Schwächster. Glenn war nicht wahnsinnig, wie immer wieder behauptet worden ist und behauptet wird, sondern Wertheimer war es, wie ich behaupte.“ Zwar attestiert Bernhard gleichwohl einen „Größenwahn“ bei Gould, doch er hat  richtig beobachtet, daß sich in dem besonderen Fall eines Ausnahmetalents, das einer öffentlichen Validierung standhält, die Wahnsymptomatik stabilisieren kann. Verloren ist erst, wer die Fallhöhe zwischen dem präsentierten Selbst und der tatsächlichen Wahrnehmung der anderen, des Auditoriums, wie wir es oben genannt haben, nicht mehr überbrücken kann. Wie Glenn Gould diesen Spagat gemeistert hat, soll nun anhand seiner Lebensgeschichte gezeigt werden.

Die Bestimmung zu einer besonderen öffentlichen Rolle wird Gould buch­stäblich in die Wiege gelegt. Seine Mutter, eine professionelle Musiklehrerin mit einem ausgeprägten Ehrgeiz, macht sich schon lange vor der Geburt dezidierte Vorstellungen über die Laufbahn ihres Kindes. Berichten zufolge ist es das er­klärte Ziel ihrer Ehe, einen Sohn zu bekommen. Als ihr eine Freundin im Gespräch über künftige Mutterfreuden das Kompliment macht, daß dieser Sohn wahrscheinlich musikalisch sein würde, antwortet sie mit einem Blitzen in den Augen: „Dafür werde ich schon sorgen.“ Tatsächlich hört die Mutter während der Schwangerschaft ständig klassische Musik, in der festen Überzeugung, daß aus ihrem Kind ein Konzertpianist werden würde. Diese Einstellung scheint zunächst derjenigen entgegengesetzt zu sein, wie wir sie bei der Mutter Camille Claudels beobachtet hatten. Doch beiden gemeinsam ist die Tendenz, das Kind aufs Podest zu heben – bei Camilles Mutter im Gestus der Anprangerung, bei Glenns Mutter dem der Verehrung.

Als ihr Kronprinz endlich auf die Welt kommt, ist er einer zwar nicht stren­gen, aber doch indirekt gängelnden Protektion ausgesetzt. Aufmerksam über­wacht sie jeden seiner Schritte, ist nie mit etwas zufrieden, sondern verlangt immer nur das Beste von ihm. Kaum ist er in der Lage, einen Klavierhocker zu erklimmen, beginnt sie mit dem Unterricht. Sie ist stets in der Nähe, wenn er spielt, und bei Mißklängen ruft sie ihm sofort die Korrekturanweisungen zu.

Unter dieser Atmosphäre eines allgegenwärtigen mütterlichen Leistungs­drucks wächst Glenn auf. Sein Vater bildet dazu kaum ein Gegengewicht. Der freundliche und hilfsbereite Mann liest seinem Sohn jeden Wunsch von den Lippen ab. Er läßt ihn im Auto auf seinen Knien sitzen, damit er es lenken kann, oder er zimmert ihm ein eigenes Boot und konstruiert schließlich auch den berühmten Klavierhocker, der für Glenns eigenwillige Handhaltung später unentbehrlich wird. So verstärkt er mit seiner Art Glenns Wahrnehmung, etwas Besonderes zu sein und dies auch unter Beweis stellen zu müssen.

Für den Austausch privater Empfindungen bleibt da wenig Raum. Die Mutter zeigt deutlich ihr Mißfallen, wenn er vertrauliche Ansichten äußert. „In dieser Hinsicht“, berichtet eine Bekannte, „war sie eine richtig altmodische Kanadierin. Geh nicht zu weit aus der Deckung raus und äußere nie eine Meinung, die nicht wohlgelitten ist, und äußere sie am besten überhaupt nicht.“ Diese Maxime führt bei Glenn nicht nur zu einer allgemeinen Verschlossenheit im Gesprächskontakt mit anderen, sondern schlägt sich auch im Verlust der körperlichen Reak­tionsfähigkeit nieder. Wenn man ihm einen Tennisball zuwirft, fängt er ihn nicht auf, sondern läßt ihn einfach gegen seinen Körper prallen. Was die Eltern viel­leicht als eine Äußerung kindlichen Trotzes gedeutet haben mögen, ist ein Alarmsymptom, das ein bis ins Somatische hineinreichendes Unvermögen zur Kontaktaufnahme verrät. Das belegt auch die folgende Episode auf geradezu tragische Weise: Als Glenn einmal andere Kinder beim Murmelspiel sieht, tritt er hinzu und sagt: „Ich möchte mitspielen“. Eine Tante erinnert sich: „Wir gaben ihm ein paar Murmeln, und er streckte die Hand nur ein einziges Mal zur kalten Erde aus und zog sie ganz schnell zurück, steckte sie wieder in die Tasche und sagte: ‚Tut mir leid, ich kann’s nicht.‘ Und er wollte es doch so gern. Ich sehe ihn noch vor mir, wie er mit der Zehe gegen die Erde trat, so gern mitgespielt hätte und es doch nicht konnte.“

In der Schulzeit hat Glenn bereits dezidierte Strategien entwickelt, sein priva­tes Selbst abzuschirmen. Ganz bewußt begibt er sich in die  Isolation. „Ich war entschlossen“, schreibt er im Rückblick, „mich voll und ganz in die Musik zu stürzen, weil ich fand, das wäre eine verdammt gute Möglichkeit, meinen Schulkameraden aus dem Weg zu gehen, mit denen ich nicht zu Rande kam.“ Der tiefere Grund für die Unverträglichkeit mit den anderen ist eine massive Angst vor einem Gesichtsverlust, vor einer Bloßstellung des Privaten. Diese Angst wird ihm zum erstenmal in dem Moment bewußt, als einem Schulkame­raden vor allen anderen übel wird. Daß ihm dasselbe passieren könnte, ist für ihn eine derart schreckliche Vorstellung, daß er beginnt, Beruhigungsmittel ein­zunehmen. Dieser Pillenkonsum wird im Laufe der Jahre immer exzessiver und mündet bald in eine manifeste Abhängigkeit.

Die Maxime der Mutter, niemals aus der Deckung zu treten, gekoppelt mit seinem Kronprinzenstatus, hemmt insbesondere den Kontakt zum anderen Geschlecht. Als er 19 Jahre alt ist und eine glänzende pianistische Karriere sich abzuzeichnen beginnt, antwortet sie auf die Frage einer Freundin, ob er an Mäd­chen interessiert sei: „Nein, dafür hat er noch keine Zeit.“ Und lächelnd setzt sie hinzu: „Ich bin froh, daß er gerade jetzt keine hat.“

Sie konnte beruhigt bleiben: Trotz hartnäckiger Journalistenneugier ist von einem Liebesleben Goulds absolut nichts bekannt. Es dürfte als sicher gelten, daß er tatsächlich keines besaß. Körperlichen Kontakt holt er sich ausschließlich in anonymen Situationen – etwa durch stundenlange Sitzungen beim Masseur. „Mein Orgasmus“, soll er einmal gesagt haben, „ist meine Musik.“ Und in einem Aufsatz mit dem Titel ‚Music and Technology‘ schreibt er über seinen ersten Besuch in einem Sender, daß er in dem Moment, in dem er die Möglichkeit entdeckt habe, sich ohne die unmittelbare Anwesenheit von Publikum mitzuteilen, eine „Liebesaffäre mit dem Mikrophon“ begann.

Davor liegen Goulds Auftritte in den Konzertsälen. Sie sind spektakuläre Selbstinszenierungen. Mit sturmzerzauster Mähne sitzt er auf einem viel zu niedrigen Hocker am Flügel, singt bisweilen mit kräftigem Bariton die Melo­diestimme mit, macht merkwürdige Verrenkungen und scheint am Ende jedes Solos zusammenzubrechen. Die viel beachteten und kritisierten Exzentrizitäten einfach als „Show“ abzutun, verfehlt die Psychodynamik, die ihnen zugrunde­liegt: Sie erfüllen die Funktion der defensiven Selbstüberhöhung. Das betont auffällige Verhalten wehrt den Blick des Auditoriums von den privaten Selbst­aspekten ab. Wie wichtig diese Distanzierungsmaßnahme für ihn ist, dokumen­tiert die Tatsache, daß seine Musikdarbietung völlig farblos ist, als er aus­nahmsweise einmal die ungewöhnlichen Zuckungen und Verrenkungen wegläßt.

Man kann hier von einer Mauer zwischen dem Ich und den anderen sprechen, wobei allerdings zu berücksichtigen ist, daß diese Mauer beim Schizophrenen eine durchaus andere Bedeutung hat als beim Depressiven. Wenn etwa Grilpar­zer der Begegnung mit anderen ausweicht, so tut er es aus einem Gefühl der Ohnmacht, des Unbedeutendseins, kurz: aufgrund eines Gefangenseins im privaten Selbst. Bei Gould verhält es sich umgekehrt. Sein Ausweichen vor einem unverstellten Kontakt mit dem Publikum beruht auf einer Überhöhung des eigenen Selbst, auf dem Impuls, den anderen eine undurchdringliche Fassade zu präsentieren. Die Mauer des Depressiven ist ein Kerker, die des Schizophrenen ist eine Barrikade.

Die Fähigkeit, sein öffentliches Selbst zu inszenieren, kultiviert Gould bis zur Perfektion. Sie erstreckt sich auf alle Lebensbereiche. Er kontrolliert jede seiner Gesten und Äußerungen, ja schreibt seinen Interviewern vor, was sie zu fragen haben, um drehbuchgemäß „ganz spontan“ darauf zu antworten. Diese Ange­wohnheit kulminiert in einem Werk mit dem selbstironischen Titel: „Glenn Gould interviewt Glenn Gould über Glenn Gould“.

Wie erwähnt, hat die Kontakthemmung des Pianisten bereits in seiner Kind­heit somatische Auswirkungen gezeitigt. Die Entfremdung vom eigenen Körper erfaßt inzwischen selbst fundamentale leibliche Empfindungen: Gould steht nach seiner eigenen Aussage „dem Vorgang des Essens fast völlig gleichgültig gegen­über“. Ein Geschmacks­sinn ist faktisch nicht vorhanden. Und die dicke Winterkleidung, die er beständig trägt, dürfte weniger auf ein sensibles Temperaturempfinden als auf das Gegenteil schließen lassen: Er trägt sie auch im Sommer, ja selbst in beheizten Räumen. Seine Lieblingsfarbe ist graublau. Aus Angst vor einem spontanen Aufbrechen des Privaten beobachtet Gould minutiös jedes Körpersymptom, nimmt abwechselnd Aufputsch- und Beruhigungsmittel, um seine Arbeits- und Schlaf­funktionen zu steuern.

Der kleinste Einbruch in diesen Gefühlspanzer führt zu heftigen Abwehr­reaktionen. Als Gould einmal zu Besprechungen bei Steinway ist, begrüßt ihn der Cheftechniker der Firma, indem er ihm freunschaftlich auf die Schulter klopft. Die Folge ist eine Schadensersatzklage von 300.000 Dollar, weil Gould aufgrund rätselhafter Schulterbeschwerden, die nie medizinisch diagnostiziert werden konnten, für drei Monate Konzerte absagen zu müssen meint. Steinway bezahlt, obwohl jedermann klar ist, daß die von Gould reklamierte „Verletzung“ nicht physischer Natur gewesen sein konnte. Zweifellos war Gould verletzt – doch die Wunde lag tiefer: Es war die Vertraulichkeit der Geste, die er als gewaltsames Durchbrechen der selbstgewählten Distanz empfinden mußte. Als ihm hingegen während einer Probenpause tatsächlich einmal jemand versehent­lich auf seine kostbaren Finger tritt (und natürlich den Schock seines Lebens erlebt), zieht Gould einfach die Hand weg und sagt, es sei „nichts pas­siert“. Im Unterschied zur ersten Situation handelt es sich hier um eine unab­sichtliche, also nicht auf Intimität abzielende Berührung, die Gould nicht weiter zu schaffen macht, weil seine empfindliche Stelle, der sorgsam gehütete Ver­schluß des Privaten, nicht betroffen wird. Wir hatten diesen Verschluß oben als den Ehrenkodex des Schizophrenen bezeichnet – mit einer Vokabel, die auf Gould besonders paßt. Er selbst bescheinigt sich eine „Sucht nach Vornehm­heit“. So legt er sich etwa einmal das Pseudonym „Herbert von Hochmeister“ zu, eine Identität, die das Schulterklopfen eines einfachen Technikers freilich als unerträgliche Zumutung empfinden muß.

Ohne auf die Diskussion über Goulds künstlerische Bedeutung einzugehen, muß doch von psychiatrischer Seite festgestellt werden, daß eine so massive Abdichtung des Privaten, wie sie hier vorliegt, nicht ohne negative Auswirkun­gen auf die eigene Kreativität bleiben konnte. Goulds Genialität war die eines reproduzierenden Künstlers – was sich neben seinen pianistischen übrigens auch in außerordentlichen parodistischen Fähigkeiten dokumentierte. „Es machte Gould offensichtlich Spaß“, bemerkt Friedrich (1991) über eine Talkshow-Parodie des perfekten Selbstdarstellers, in der er alle Rollen selber spielte, „seine Ansichten vorwiegend in den teutonischen Akzent Karlheinz Klopweisers zu verpacken und die Angriffe auf seine Kritiker in den selbstgefälligen Ton von Sir Nigel Twitt-Thornwaite (das Plattenalbum enthält sogar Fotos von Gould, der in geradezu schizophrener Weise alle diese Rollen spielte: Klopweiser mit langen weißen Locken und Sir Nigel mit mächtigem Schnauzbart).“ Kreativität im eigentlichen Sinne aber, also das Schöpfen aus eigenen inneren Quellen, konnte sich bei seiner extremen Außenorientierung nicht entfalten. Das war ihm übrigens durchaus bewußt. Leonard Bernstein berichtet von einem Gespräch mit Gould, in dem ihm dieser sein Unvermögen als Komponist damit erklärte, daß er keine „persönliche Stimme“ habe, wie sie alle großen Komponisten gehabt hätten: „Er konnte es nicht ausstehen, daß alles, was er schuf, sich nach jemand anderem anhörte.“ Und als Bernstein ihm am Beispiel Strawinskys deutlich machen wollte, daß auch dieser trotz etlicher Anleihen bei Tschaikowsky, Beethoven, Bach, Rimsky-Korsakow, Ravel und so weiter doch wie jeder Komponist einen tiefen inneren Klang besäße, der durch alles hindurch seine individuelle Stimme vernehmbar mache, soll Gould trocken bemerkt haben: „Tja, ich nehme an, die genau habe ich nicht.“

Auch seine eigenwilligen Auftritte auf dem Konzertpodium sind nicht als per­sönlicher Selbstausdruck zu sehen, sondern als Symptom für dessen Nicht­vorhandensein. Um sich nicht zeigen zu müssen, präsentiert er dem Publikum einen möglichst individuellen, ja bis zur Anstößigkeit auffälligen Identitäts-Ersatz. Diese Mimikry ist beständig von Enttarnung bedroht. Sie erfordert ein Höchstmaß an Kontrolle, um nicht in der Kontingenz des Augenblicks zu ver­unglücken. Schließlich wird sie ihm zu anstrengend, und er zieht sich ganz vom Konzertleben zurück. Er selbst begründet diesen Schritt mit den Widrigkeiten des Reisens und dem Wunsch, sich zurückzuziehen. Dies ist aber nur die halbe Wahrheit. Wie seine intensive Publikationstätigkeit in den folgenden Jahren zeigt, bleibt Gould auch in der Einsamkeit ganz auf die Öffentlichkeit bezogen – ein Phänomen, das in der oben abgedruckten Autismus-Arbeit detailliert beschrieben wurde. Die Musik- und Filmstudios erst ermöglichen es ihm, eine Politur der Oberflä­che zu bieten, wie sie in der Unberechenbarkeit von Live-Auftritten nicht möglich wäre. Wenn Gould also davon spricht, daß er sich in seine „Schale“, in seinen „Panzer“ zurückziehen wolle, so steht das nicht im Widerspruch, sondern in einem konsequenten Zusammenhang mit seiner Sucht nach öffentlicher Aner­kennung. Er ist durchaus begierig danach, vor den Fernsehkameras zu spielen und sich dann auf der Leinwand zu bewundern. Für seinen Film ‚Glenn Gould’s Totonto‘ beantragt er, um sich nicht unter andere Menschen mischen zu müssen, eine Sondervorführung in der großen Stadthalle mit der Begründung: „Ich würde mich einfach gerne mal zehn Meter groß sehen.“ Fern vom Publi­kum sucht er dessen Aufmersamkeit und antwortet stets ausführlich auf Fan­post. „Er war“, resümiert ein Kollege, „alles in allem ein sehr scheuer Mensch, und trotzdem so ein toller Showman“. Ein anderer bescheinigt ihm „die Persön­lichkeit eines Superstars“.

Am Mischpult und Schneidetisch ist dieser Einsiedler-Star in seinem Ele­ment. Hier kann er alles situativ Zufällige nachbearbeiten, jede Entstellung sei­nes öffentlichen Selbst eliminieren. In einer bemerkenswerten Streitschrift ver­teidigt er das Zusammenmischen von verschiedenen Aufnahmesessions, das die jeweils gelungensten Passagen vereinigt, gegenüber dem Vorwurf des Verrats am authentischen Kunstwerk. Aus ihr spricht die unverhohlene Freude an der geglückten Maskerade. Und geradezu entzückt ist er, als es ihm einmal gelingt, mit­ten in die Filmaufnahme einer Beethovensonate wegen einer verwackelten Ein­stellung unmerklich einen Takt Mozart hineinzuschneiden. So konstruiert er seine Aufnahmen durch Addition und Zusammenfügen einzelner, bestens gelungener Elemente. Das Werk, mit dem er die Welt beeindrucken will, wird aus Bruchstücken zusammengesetzt. Nur sein außergewöhnliches Talent hebt diese Konstruktionen von Wahngebilden ab. Was ein Wahnkranker aus Stücken seiner Lebensgeschichte in einem bestimmten akuten Moment zusammenbastelt und als Botschaft an die Welt gibt, flickt der Sonderbegabte Glenn Gould aus eigenen Stücken zusammen, um das Beste vom Besten zu demonstrieren.

Ein Meisterstück der Schnittechnik ist Goulds Dokumentarhörspiel ‚The Idea of North‘. Die ganze Ambivalenz seines Weltbezugs kommt darin zum Aus­druck: Er, der angeblich extrem kälteempfindlich ist, geht in die Eisregion Kanadas und sucht dort das Erlebnis der Einsamkeit – um es zu veröffentlichen. In diesem Hörspiel, bemerkt ein Kritiker, teilte Gould nicht etwa mit, was er über die Ein­samkeit dachte, sondern versteckte sich wie ein Puppenspieler ganz hinter den von ihm brilliant zusammengeschnittenen Äußerungen anderer: „Er baute sich seine Ein­samkeit passend für sich, wie eine Perlmutterschale. Er machte ein Kunstwerk daraus. Er distanzierte sich von den Gefühlen anderer Menschen – und dann war er glänzend.“ Psychodynamisch kommt hier das Wesen der Verschrobenheit zum Vorschein: die Bezogenheit auf die anderen, aber ohne Gefühl, nur auf Sichtbarmachung der Andersartigkeit des öffentlichen Selbst bedacht.

Diese Gefühlsdistanz ist für Goulds Mitmenschen, von denen er sagt, sie enttäuschten einen letztlich, nicht leicht zu ertragen. Er gebraucht sie und stellt sie wieder weg, wie es ihm gerade in den Sinn kommt. Vertraute – sofern man bei Gould von Vertrauten sprechen kann – bekommen nicht selten zu hören: „Sie haben Ihre Anweisungen, Sir.“ Oder sie werden in Spiele verwickelt, die nach dem Muster funktionieren: „Ich weiß etwas, was du nicht weißt“. Eines dieser Spiele nennt er ‚Identifications‘. „Ich sage Ihnen, daß ich an jemanden denke“, erläutert er einem Partner die Regeln, „und als Hinweis sage ich Ihnen nichts weiter, als daß es jemand ist, den Sie kennen, oder jemand, von dem Sie gehört haben. Es ist nicht ‚Zwanzig Fragen‘, weil Sie so viele Fragen stellen können, wie Sie wollen, aber es gibt einen Haken. Der Haken ist, daß Sie mir keine direkte Frage stellen dürfen. Ihre Frage muß indirekt sein.“ Im Verlauf dieser Spiele kommt noch eine schizophrene Eigentümlichkeit Goulds zum Vor­schein, die wir im vorigen Artikel unter Verweis auf Payne et al. (1959) erwähnt hatten: Er gab niemals auf; aufzugeben wäre für ihn nach der Auskunft eines Freundes „die äußerste Demütigung gewesen“.

Der Tod der Mutter im Jahre 1975 ist ein traumatisches Ereignis für Gould. Hatte sie ihm doch durch ihre Verehrung, durch ihre Stärkung seines öffentli­chen Selbst, kompensieren geholfen, was sie ihm an Verzicht auf Privatheit ursprünglich abnötigte. So war sie unentbehrlich für ihn geworden. Er träumt in dieser Zeit viel von ihr, insbesondere davon, daß sie ihn vom Jenseits aus beob­achte und wisse, was er tut. Seine pianistischen Fähigkeiten lassen in dieser Phase nach. Irritiert verfertigt er minutiöse Aufzeichnungen über seine Körperfunktionen (in denen er durchaus einräumt, daß sie „eine psychische Ursache haben“) und denkt sich Fin­gerübungen aus, deren zwanghafte Systematik an das Programmieren eines Computers erinnert. Gleich­zeitig plant er nun eine Karriere als Dirigent.

Das Dirigieren faszinierte ihn schon von Kindheit an, und zwar im weitesten Sinn des Wortes: als Geste der Machtausübung und der Kontrolle über Men­schen und Dinge. Als Jugendlicher dirigiert er, in seinem Boot sitzend, die Wellen, und wer mit ihm Auto fährt, muß mit ansehen, wie der rasante Chauf-feur immer wieder die Hände vom Steuer nimmt, um den imaginären Taktstock zu schwingen. Besonders aufschlußreich ist ein Traum, den er dem Dirigenten Stokowski einmal erzählt: „In diesem Traum meine ich auf einem anderen Plane­ten zu sein, vielleicht sogar in irgendeinem anderen Sonnensystem, und zuerst hat es den Anschein, als wäre ich dort der einzige Erdbewohner. Und ich habe das Gefühl, wahnsinnig fröhlich zu sein, weil ich in dem Traum offensichtlich meine, ich hätte die Gelegenheit bekommen – und die Macht –, meine Wert­systeme allen Lebensformen zu vermitteln, die es auf diesem Planeten geben könnte; ich habe das Gefühl, daß ich ein ganzes planetarisches Wertsystem nach meiner eigenen Vorstellung schaffen darf.“ Selbst auf dem Sterbebett streckt Gould dirigierend den Arm in die Höhe.

Während der Depressive, wie wir am Beispiel Grillparzers gezeigt hatten, die ewige Ruhe sucht, sucht der Schizophrene den ewigen Ruhm. Im Gegensatz zu den gewöhnlichen Schizophrenen hat Gould dieses Ziel erreicht. Der Verlust an Gefühl, der sich bis in die körperliche Empfindungsfähigkeit erstreckte, ist der Preis, den er dafür zu bezahlen hatte. Der frühe Tod des Pianisten zeigt, welche Energien in diesem Prozeß der Abspaltung des Privaten verzehrt wurden. „Ich glaube“, schreibt John McGreevy, einer seiner intimsten Kenner, „ihn hat die Anstrengung, Glenn Gould zu sein, erschöpft.“