Peter Matussek

Pro-These.

Erfahrungen eines Geisteswissenschaftlers
mit dem Computer

 


Erschienen in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie 4 (1987), S.230–233

 

     
 

"Eiserman, der Zahnarzt, der Shakespeares Sonette ins Jiddische übertragen hatte, erzählte mir, daß er Jabloner angeboten hätte, ihm ein Gebiß zu machen. Aber Jabloner hatte ihm geantwortet: "Es ist nur ein Schritt von falschen Zähnen zu einem falschen Gehirn." (Isaac B. Singer: Der Kabbalist vom East Broadway)

 

Es war die Zeit, als in den Feuilletons noch kritische Köpfe über Computer aufklärten, die nie einen aus der Nähe gesehen hatten, und Grundkenntnisse in BASIC ausreichten, um als "Medienexperte" angesehen zu werden. An fundamentalistischer Konsequenz konnte ich mich mit Jabloner durchaus vergleichen, wenn es um die Abwehr der falschen Gehirne ging. Mit gerechtem Zorn verhinderte ich eine Seminardiskussion über "Computer-Lyrik". Denn diese Attacke der Geschmacklosigkeit auf die zarteste Weise, in der menschlicher Geist sich mitzuteilen vermag, auch nur mit einem Worte zu würdigen, sei - so argumentierte ich - der erste Schritt in die Totalverblödung.

Ein Jahr nach jenem Vorfall begrüßte mich derselbe Dozent mit den Worten: "lch hörte, Sie haben sich in einen Computer verliebt!" -Auch Jabloner wandelte sich. Er hatte später, heißt es, "den ganzen Mund voller neuer Zähne". Was war mit uns geschehen?

Ausgerechnet B. vertraute ich das Manuskript meiner Examensarbeit, einer kritischen Abhandlung über das "Maschinenwesen" (GOETHE), zur Abschrift an. Er warb für diesen Dienst mit dem Zauberwort "Textverarbeitung", und das verhieß mir, der ich stets an Abnabelungsproblemen leide, vor allem den großen Vorteil der nachträglichen Korrekturmöglichkeit bis zu allerletzt.

B. war, wie sich leider bald herausstellte, auf diesen Vorzug mehr angewiesen als ich. Immer wieder legte er mir Kontrollausdrucke vor, die völlig fehlerhaft waren. Schließlich überwachte ich Tag und Nacht die Vorgänge am Computer und lernte die Tatsache hassen, daß ich ihn nicht selbst bedienen konnte.

Mein Mentor auf dem Weg zum falschen Gehirn wurde S., ein stets gut gelaunter Rheinländer mit einer für Geisteswissenschaftler frappierend ungebrochenen Technikbegeisterung. Seine computergeschriebenen Manuskripte, die er im Doktorandenkolloquium vorlegte, erschienen mir als die angemessene Physiognomie für sein Dissertationsthema: das "Wunderbare". Und während H. sich als Repräsentant unserer Zunft noch heroisch-unzeitgemäß zu seiner alten 'Adler'-Schreibmaschine bekannte, ertappte ich mich bei sündigen Gedanken an Bildschirmkorrektur, Fußnotenautomatik und Schrifttypenvielfalt.

Nach einer Vorführung bei S. schien mir das Geheimnis seiner Fröhlichkeit aufzugehen. Auch die progressive Kulturkritik propagierte mittlerweile das unverkrampfte Verhältnis zum Thema "Grips und Chips" (K. M. MICHEL). Nicht ohne Sorge also, die Zeichen der Zeit zu verkennen, verschuldete ich mich fahrlässig, um den sündhaft teuren 'Macintosh' zu erwerben. Wenn schon unterwegs zu einem falschen Hirn, dann auf dem Königsweg.

Die Konzeption des 'Mac' zielte auf die Diaspora des PC-Booms, also die Leser dieser Zeitschrift zum Beispiel. Es ist der "Computer for the rest of us". Die simple Bedienungsanleitung für "Maus" und "Menüs" wird - man weiß, mit wem man es zu tun hat -per Tonband-Kassette zu Keith-Jarrett-Untermalung serviert.

Das war die "Mac-Philosophie". Mit ihr konnte ich nun meiner eigenen auf den Leib rücken. Das Schreiben am Computer erhielt eine Aura von luxuriöser High-Tech-Eleganz, die mich unwillkürlich eine blasierte Haltung am Schreibtisch einnehmen ließ - so wie einer, der statt des gewohnten Fahrrades zum erstenmal einen 'Jaguar' steuert. Und wie bei jenem das Fahren, so war bei mir das Formulieren unterschwellig begleitet vom Flair des leichten, immateriellen Schwebens, das der ungewohnte Komfort vermittelt. Die prompten und lautlosen Reaktionen der Maschine auf meine Wünsche führten allmählich zu einer Dämonisierung, die sich in zärtlichen inneren Dialogen, aber auch in mythischer Angst äußerte. Wegen einer Bombendrohung (der Symbolisierung eines Systemausfalls auf dem Bildschirm) ließ ich meinen 'Mac'-Mentor S. am Flughafen ausrufen, aus Furcht, das Wunderding könne für immer den Geist aufgeben, den ich ihm zusprach.

Technikbegeistert, wie es nur ein Nicht-Techniker sein kann, begann ich, alle meine Arbeitsvorgänge zu computerisieren. Ein Listenprogramm versprach mir die Fortführung meines kreativen Chaos ohne Reue. Endlich sollte Schluß sein mit dem unerklärlichen Verschwinden von Karteikarten, Exzerpten, fotokopierten Aufsätzen. Was nützte mir mein Hamstervorrat an Forschungsmaterial, wenn ich immer wieder vergaß, wo ich ihn vergraben hatte.

Mit der Emsigkeit eines niedrig stehenden Lebewesens begann ich die Eingaben. Pfiffig nutzte ich Hilfsprogramme, um bei der Eingabe Zeit zu sparen - was natürlich zeitaufwendig war. Mit jeder Verbesserung der angebotenen Software suchte ich nach den Problemen, für deren Lösung die Instrumente bereit standen. Was anfangs eine Literaturliste werden sollte, wuchs sich immer mehr zu einer komplizierten Datenbank aus mit Suchschlüsseln, Registern, Kurzexzerpten, Autorvita etc. Manchmal wurde durch eine "Bombe" das Werk von Tagen zerstört. Hätte ich vorher übersehen, welche Arbeit ich mir aufgeladen hatte, ich hätte nicht damit angefangen - zumal abzusehen ist, daß auch für die Geisteswissenschaften irgendwann Datenbanken zur Verfügung stehen und meine Mühe überflüssig machen werden. Dank meiner Unvernunft allerdings verfüge ich momentan über die wohl bestorganisierte Forschungskartei zu meinem Dissertationsthema. Während des Schreibvorgangs kann ich jederzeit auf sie umschalten und in Sekundenschnelle abrufen, wofür der nicht computerisierte Normalverbraucher Minuten bis Stunden braucht: z.B. einen chronologischen Forschungsüberblick zu einem bestimmten Stichwort, die Signatur eines Buches, dessen Titel mir nur noch ungefähr geläufig ist oder den Fundort eines kopierten Aufsatzes in meinen Ordnern und dazu jeweils die entsprechenden Aufzeichnungen. Die Ergebnisse solcher Recherchen kann ich direkt in meine Manuskripte übernehmen.

Der rapiden Entwicklungsdynamik der Software, dem Sog immer weitergehender Rationalisierung, kann man sich in diesem Stadium nicht mehr entziehen. Das berührt auch den Schreibvorgang selbst. Ein sogenanntes Outline-Programm ist bei mir längst an die Stelle des herkömmlichen Textverarbeitungsprogramms getreten: Der Text wird in einer Art Schubladensystem abgelegt. Die Idee ist nicht neu, denn so hat schon GOETHE am 'Faust' gearbeitet: "die Teile sind in abgesonderten Lagen nach den Nummern eines ausführlichen Schemas hintereinander gelegt. Nun kann ich jeden Augenblick der Stimmung nutzen, um einzelne Teile weiter auszuführen und das ganze früher oder später zusammenzustellen." Die computerisierte Version dieser Arbeitsweise hat darüber hinaus den Vorzug, daß die Anordnung und Etikettierung der Teile mühelos verändert werden kann. Da die Hemmschwelle vorm Hinschreiben hierdurch herabgesetzt wird -Einfälle und Lektüreergebnisse wandern gleich an die passende Stelle im Manuskript, ohne daß die Übersichtlichkeit verloren geht - sind der Sammelwut praktisch keine Grenzen gesetzt. Als ich ein Manuskript von rund hundert Seiten ausdrucken wollte, stellte ich fest, daß es vierhundert Seiten lang war.

Mein geschärfter Instinkt für Rationalisierbarkeit ließ bald keine Schreibtischtätigkeit mehr aus, die ich nicht computerisiert hätte. Für alles schien es Programme zu geben. Doch als ich eines Tages S. nach dem Vorhandensein einer Software-Lösung für ein schon recht ausgefallenes Problem fragte, erhielt ich zur Antwort: "Nein, aber warum schreibst du dir nicht eins." Diese Aufforderung übte einen eigenartigen Reiz aus, so als ob jemand sagen würde: "Du willst ein Auto - bau Dir doch eins."

Es war meine kopernikanische Wende. Hatte ich mich bis jetzt fraglos der jeweils angebotenen Software gefügt, so sollte diese sich fortan nach mir richten. Prometheischer Stolz überkam mich, als ich die Erfahrung machte, wie eine von mir formulierte Zeichenfolge einen Vorgang auf dem Bildschirm bewirkte. Als Geisteswissenschaftler sind wir wohl besonders anfällig für solche Rausch-Erlebnisse, weil unsere Worte normalerweise keine praktischen Konsequenzen haben. Erstmals bereute ich, daß ich meine Logik-Scheine erschlichen hatte. Nächtelang tüftelte ich mit S. an Algorithmen, nicht weil deren Funktionieren uns wichtige Resultate erbracht hätte, sondern um ihrer selbst willen. Der Weg war das Ziel - ironische Erfüllung des theoria-Gedankens.

Ja, daß die Torheiten der ersten Liebe vorüber sind, macht mich ein bißchen melancholisch. Gerührt denke ich - als Besitzer einer MultiMega-Maschine mit Massenspeicher - an die Raffinements, die ich ausheckte, um Speicherplatz zu sparen. Der mythifizierende "Peephole-Effekt" (der Eindruck, durch eine enge Öffnung - den Bildschirm - in einen unendlichen Kosmos zu schauen) ist zurückgegangen und hat meinen Blick frei gemacht für die nüchterne Tatsache, daß ich es (leider!) nur mit einem Werkzeug zu tun habe.

Einem Werkzeug freilich, das alle meine bisherigen Arbeitsgewohnheiten als Geisteswissenschaftler für immer verändert hat. Der point of no return ist erreicht. So kann ich mir kaum noch vorstellen, ohne Outline-Programm zu konzipieren, ohne Textverarbeitungsprogramm zu schreiben oder ohne Datenbank zu recherchieren. Nach dem Frühstück schalte ich ihn ein; meistens bleibt er dann den ganzen Tag an. Denn von der prosodischen Analyse eines Gedichts bis zur Erinnerung an den eigenen Geburtstag: Ohne meinen elektronischen Diener geht nichts mehr. Bin ich also ein Opfer der HEGELschen Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft? Hat die Verführung zum spontanen Hinschreiben, der Abbau des Respekts vor Geschriebenem, meine Disziplin beim Formulieren geschwächt? Verschwinde ich als Autorsubjekt mit dem Recht auf selektive Wahrnehmung und Vergeßlichkeit hinter der nüchternen Materialgerechtigkeit? Läßt das externalisierte Gedächtnis meine Denkanstrengung erschlaffen?

Ich tippe die Fragen in meinen 'Mac' und verschmähe gelassen die Chance, aus diesem performativen Widerspruch eine neue Medientheorie zu entwickeln. Daß die Computerisierung der Geisteswissenschaften unauflhaltsam ist, hat selbst H. inzwischen eingesehen und seine 'Adler' mit einem 'Atari' vertauscht. Vorbei die Glorifizierung der produktiven Umständlichkeit. "Man kann nicht mehr mit der Postkutsche fahren, wenn es Eisenbahnen gibt." Und was wäre daran so schlimm, wenn irgendwann der Bestand der Staatsbibliothek auf "CDROM" zu haben sein wird?

Das entmythifizierte Verhältnis zum PC erlaubt es uns, zur Tagesordnung überzugehen. Wir reden wieder über Neuerscheinungen statt Speichererweiterungen, gehen auf Bücher- statt Computermessen und stellen dieselben Fragen wie andere vor uns - zum Beispiel, ob der technische Fortschritt die Humanität befördere.

Als Jabloner auf seine Metamorphose angesprochen wurde, äußerte er die dunklen Worte: "Der Mensch lebt nicht nach den Regeln der Vernunft".