DFG-Projekt am Kulturwissenschaftlichen Seminar der HU Berlin (1996–2000)

Evaluation Kulturwissenschaft

Auswertung des Workshops am 14./15. Februar 1997

 

Die Studie erschien im Rowohlt-Verlag: Reinbek bei Hamburg 2000,
2. Aufl. 2002,
korean. Ausgabe 2003.

 


 

     
 

Die folgenden Notizen zu den Diskussionen am 15. 2. sind nicht im Sinne eines Verlaufsprotokolls am chronologischen Gang der Debatte orientiert, sondern versuchen, wiederkehrende Leitmotive zu bündeln.


1. Kulturwissenschaft zwischen Kontingenz und Konzeptualisierung
Es wurde mehrfach angeregt, zwischen der diskursiven Karriere des Begriffs "Kulturwissenschaft(en)" und der Geschichte der Institutionalisierung der "Kulturwissenschaft(en)" als universitärer Disziplin seit den 1960er Jahren in der ehemaligen DDR und verstärkt seit den1980er Jahren in der Bundesrepublik zu unterscheiden. So erschien es fraglich, ob sich die Geschichte dieser Institutionalisierung aus der Perspektive der gegenwärtig etwa innerhalb der DFG einflußreichen Konzeption, den Begriff "Kulturwissenschaften" als Leitbegriff und Modernisierungschiffre bei der Reform der in die Krise geratenen "Geisteswissenschaften" zu profilieren, schreiben ließe. Die in den 90er Jahren in wissenschaftlichen Fachzeitschriften, in der publizistischen Öffentlichkeit und nicht zuletzt in wissenschaftspolitischen Strategiepapieren beobachtbare Attraktivität des Begriffs sei zudem keineswegs unangefochten und durchaus keine verläßliche Zukunftsgarantie existierender bzw. im Aufbau befindlicher Infrastrukturen der "Kulturwissenschaft(en)" als Disziplin.
Das in der Selbstvorstellung der vertretenen Institute und Studiengänge entstandene Bild eines sehr heterogenen, stark von kontingenten Faktoren und lokalen Konstellationen geprägten wissenschaftlichen Feldes wurde in der Diskussion immer wieder vor dem Hintergrund tiefgreifender Veränderungen in der gesellschaftlichen Organisierung des Wissens insgesamt reflektiert. Die Universität, so wurde mehrfach betont, müsse sich die Produktion und Organisierung von Wissen zunehmend mit anderen gesellschaftlichen Instanzen teilen. Die von ihr angezielte "Problemlösungskompetenz" gleite durch epistemologisch prinzipiell gleichrangige Wissensformen, deren Rivalität allenfalls durch ihre gesellschaftliche Statusungleichheit nicht deutlich hervortrete.
Diese sich verstärkende Pluralisierung von nicht mehr auf die Universität zentrierten Wissenskulturen sei eine der Hintergrundvoraussetzungen, auf die hin der Prozeß der Institutionalisierung der Kulturwissenschaft(en) als Disziplin zu reflektieren sei. Der Begriffsgeschichte komme innerhalb einer so verstandenen, soziologisch grundierten Wissenschaftsgeschichte keine Monopolposition zu. Denn in aller Regel seien kulturwissenschaftliche Institute und Studiengänge nicht vorrangig deshalb gegründet und eingerichtet worden, weil der Begriff "Kulturwissenschaft" überzeugend vertreten worden wäre, sondern weil eine seiner semantischen Facetten mit konkreten pragmatischen Interessen sowohl innerhalb der Universität wie der Wissenschaftsverwaltungen konvergierte.
Die dem Begriff "Kulturwissenschaft" immer wieder sowohl in kritischer wie in programmatischer Intention zugeschriebene "Unschärfe" bzw. "Unbestimmbarkeit" erschien in der Diskussion zum einen als pragmatische Bedingung der Möglichkeit seiner erfolgreichen diskursiven Universalisierung und Institutionalisierung, zugleich aber als theoretische Herausforderung und perpetuum mobile der Dauerreflexion im Hinblick auf den systematischen Ort der "Kulturwissenschaft" im Horizont des gegebenen universitären Fächerkanons. Dabei wurden mehrfach die im Befund der "Unschärfe" enthaltenen normativen Implikationen relativiert. Gemessen an der Formel, eine wissenschaftliche Disziplin sei durch einen spezifischen Gegenstand und eine spezifische Methode zu bestimmen, erweist sich die Einheit auch traditionsreicher universitäre Fächer nicht selten als Fiktion und Illusion. Heterogenität, Eklektizismus und Synkretismus seien wissenschaftsgeschichtlich nicht lediglich Kinderkrankheiten bzw. Auflösungserscheinungen, sondern chronisch wirksame Elemente innerhalb der Ausprägung von Disziplinen.
Zumal in den geisteswissenschaftlichen Fächern als einer der Wissenschaftskulturen, denen gegenüber sich die Kulturwissenschaft als eigenständige Größe zu profilieren habe, beruhe die Einheit eines Faches - etwa der Germanistik - nicht selten eher auf der in einer ausdifferenzierten Infrastruktur vergegenständlichten Konvention als auf einem formulierbaren Konsens über Gegenstände, Methoden und die Grenzen des Faches. Begreife man in diesem Sinne die Unschärfe als "Pluralität von Logiken und Diskursen" , dann stehe die Kulturwissenschaft nicht einem Feld scharf umrissener Disziplinen gegenüber, sondern habe sich des für sie charakteristischen Typus von Unschärfe inmitten eines seinerseits "unscharfen" Fächerkanons zu vergewissern.
Als Beleg für diese Konstellation der Komplementarität zwischen der "Unschärfe" der Kulturwissenschaft und aktuellen Begriffskrisen und Symptomen des Verlustes der Gegenstandsgewißheit in etablierten Disziplinen wurden gelegentlich die Philologien genannt, die unter dem Druck der Medienpluralisierung und der tendentiellen Entlegitimierung des hochspezialisierten Studiums nationaler Literaturen ihr Profil neu zu bestimmen suchen. Die Rivalität zwischen etwa der Germanistik und der Kulturwissenschaft um bestimmte Gegenstände und Forschungsprojekte lasse sich schon jetzt beobachten und sei mit Blick auf die Zukunft als konstante Größe zu betrachten. Zumal eine Kulturwissenschaft, die sich an den "cultural studies" angelsächsischer Prägung orientiere, werde ihr eigenes Profil in der vorgegebenen Konkurrenz mit geisteswissenschaftlichen Fächern finden müssen, da diese ihrerseits nicht selten den Weg von der Philologie klassischer Prägung zu den "cultural studies" zu gehen begännen.
Der auf der Tagung mehrfach artikulierten Kritik an der Propagierung von "Kulturwissenschaft als Mode-Design der in die Krise geratenen Geisteswissenschaften" standen Plädoyers für die Verstärkung der Allianz zwischen der Kulturwissenschaft und den Methoden und Paradigmen der Ethnologie gegenüber, die den Kulturbegriff "nicht text-, nicht medien-, sondern verhaltensorientiert" auslegt.

2. Kulturwissenschaft zwischen Wissensproduktion und Wissensdistribution
Die Heterogenität der Entstehungsgeschichten und theoretischen Orientierungen der kulturwissenschaftlichen Studiengänge in Deutschland ist nicht nur an der Divergenz programmatischer Äußerungen, sondern zugleich und vor allem am jeweiligen Status und Umfang sowohl der Ausbildung wie der Forschungsvorhaben abzulesen. Hier reichte das Spektrum der auf der Tagung vertretenen Optionen von der forschungsorientierten Konzentration auf den Graduiertenbereich bis zum grundständigen, primär vom Ausbildungsinteresse her konzipierten Magisterstudiengang. Das Verhältnis zwischen Kulturwissenschaft als fächerentgrenzender Forschungsstrategie, die innerhalb der etablierten Disziplinen als Partisanin der Verwirrung fungiert, und Kulturwissenschaft als Ausbildungsprogramm, das sich curricular an den Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt für Akademiker orientiert, blieb während der Tagung durchgängig problematisch, nicht anders als der Status der "Kulturwissenschaft/en" zwischen Singular und Plural (s. Punkt 3).
Als erkennbare Optionen kristallisierten sich heraus
- die bewußte Profilierung der Kulturwissenschaft/en als "Sekundärwissenschaft" zwischen den Disziplinen, die als Moderatorin ihrer inneruniversitären Nachbardisziplinen und Spezialistin für "interdisziplinäre Transferleistung" ihren Ort und ihre feste Funktion zu gewinnen habe.
- das Plädoyer für eine möglichst geringe Institutionalisierung der Kulturwissenschaft/en als eigenständiges Fach bei gleichzeitiger Verlagerung der stark berufsbildorientierten Ausbildungsgänge an die Fachhochschulen. Da produktive Innovationen im Prinzip nach wie vor aus dem Innern konsistenter Disziplinen hervorgingen, seien Allianzen etwa der "empirischen Kulturwissenschaft" mit der Kunstgeschichte aussichtsreicher als die Neugründung dilettantismusverdächtiger Ableger klassischer Disziplinen.
- das Plädoyer für die Konzeptualisierung und Verfestigung der Kulturwissenschaft als einer mit starken Ansprüchen auftretenden Disziplin. Um dies zu werden, müsse sie nicht nur die Analysekultur der text- und bildbearbeitenden Wissenschaften in sich aufnehmen, sondern zugleich ein theoretisch und methodisch plausibles Paradigma entwickeln, das auf der materialen Ebene der Forschung produktiv werden könne. Dem Vorwurf, Kulturwissenschaft sei eine "Light-Version" von Wissenschaft und eine Domäne "falsch verstandenen Generalistentums", könne sie nur durch Komplexitätssteigerung und den Nachweis wissenschaftlicher Produktivität auf der Forschungsebene entgehen.

Die für kulturwissenschaftliche Studiengänge meist in Anspruch genommene "Praxisorientierung" wurde in der Regel von einer zielgenauen Berufsfeldorientierung ausdrücklich abgegrenzt. Polare Begriffspaare wie "Orientierungswissen" und "Analysewissen" signalisierten als eine Hauptschwierigkeit der curricularen Ausprägung und formalen Gestaltung des kulturwissenschaftlichen Studiums den "Spagat zwischen pragmatischer Orientierung und Theorieansprüchen". Im Kontext der mehrfach formulierten Forderung nach reflexiver Distanz der "Kulturwissenschaft/en" zu ihren Gegenständen wurde gelegentlich ein "negativierender", zum Ziel der Operationalisierbarkeit grundsätzlich in Spannung stehender Begriff von "Kultur" ins Spiel gebracht. Die darin angezielte "kritische Kompetenz" ließe sich mit den curricularen Vorgaben eines ganz vom Status quo und den Entwicklungstendenzen vorab ins Auge gefaßter Praxis- und Berufsfelder womöglich nicht homogenisieren. Es blieb letztlich ungeklärt, wie sich im Entwurf der Kulturwissenschaft/en der Anspruch auf Wissensproduktion und die Tendenz zur curricularen Synthetisierung und Distribution von Wissen zueinander verhalten sollten.

3. Singular oder Plural?
Zur Debatte um den Begriff "Kulturwissenschaft" gehört die Frage nach dem Verhältnis zwischen seiner Verwendung im Singular und im Plural. Wie die Diskussion zeigte, ist der Plural nicht notwendig mit der in der Debatte um die Reform der "Geisteswissenschaften" naheliegenden Assoziation einer Orientierungskategorie oberhalb der Einzeldisziplinen verbunden. Umgekehrt signalisiert der Singular nicht notwendig die Intention der Ausprägung einer trennscharf definierten, von starken Theorieansprüchen fundierten universitären Disziplin im vollen Wortsinn. Auch gibt es offenkundig weder für den Singular noch für den Plural eine eindeutige Bindung an einen der beiden Pole "forschungs-" und "ausbildungsorientiert". Grundlagenorientierte Konzepte kulturwissenschaftlicher Forschungsprojekte können sich mit dem Plural, auf Zusatzqualifikationen abzielende Konzeptionen der Kulturwissenschaft als "Agentin der Transdisziplinarität" können sich mit dem Singular verbinden. Das Plädoyer für den Plural als "Sammelbegriff für das heterogene Neue" erhofft sich nicht selten die Herausbildung spezifisch kulturwissenschaftlicher Qualifikationen als Effekt der Ensemblestruktur eines durchgängig interdisziplinär organisierten Studienganges.
Dort, wo in der Diskussion die Konzeptualisierung der Kulturwissenschaft als mit starken Ansprüchen auf Eigenständigkeit auftretender Disziplin ins Auge gefaßt wurde, wurde sie in der Regel nicht von ihren Gegenständen her, sondern als Konturierung eines die traditionellen Fächergrenzen transzendierenden Aufmerksamkeitstypus bestimmt. Hier signalisierte der Singular weniger das Projekt der organisatorischen Herstellung von Interdisziplinarität als vielmehr die Ausprägung forschungsrelevanter neuer Paradigmen durch die Erzeugung von "Inter-" bzw. "Transdisziplinarität" im Einzelwissenschaftler selbst. Traditionen des Synkretismus als "kulturelles Dispositiv" könnte dabei Modellfunktion zukommen. Offen blieb, an welche "Kernkompetenz" die Herausbildung derartiger Typen "innerer" Entgrenzung von Disziplinarität als Motor der Etablierung einer neuen Disziplin rückgebunden sein sollten.

4. Wissenschaftspolitisches
Mehrfach wurde im Blick auf die Entwicklung einer tragfähigen Infrastruktur der Kulturwissenschaft/en zwischen ihrem Status als informellem Trend und ihrem denkbaren Ort als förderungsfähige Adresse im wissenschaftspolitischen Spektrum unterschieden.
Es wurde deutlich, daß von einer Durchlässigkeit der existierenden Studiengänge im Verhältnis zueinander kaum die Rede sein kann. Sowohl die Möglichkeiten des Studienortwechsels seitens der Studenten wie die Mobilitätschancen der Lehrenden wurden angesichts der Heterogenität des Status quo eher skeptisch eingeschätzt.
Es wurde darauf hingewiesen, daß die Ablehnung der Anträge von Geisteswissenschaftlern innerhalb der DFG um ein vielfaches höher liege als die der Naturwissenschaftler, deren "Basis-Solidarität" sehr viel ausgeprägter sei. Kulturwissenschaftlich orientierte Anträge müßten mit dieser im Feld der Geisteswissenschaften traditionellen Rivalität rechnen. Nicht nur deshalb erschien es vielen Teilnehmern als sinnvoll, daß Anstrengungen zur Etablierung eines Förderschwerpunktes "Kulturwissenschaft" unternommen und entsprechende Konzepte ausgearbeitet werden.
Darüberhinaus wurden die Möglichkeiten einer Förderung kulturwissenschaftlicher Projekte durch nicht-staatliche Drittmittel ("Sponsoring") erwogen und als begrenzt aussichtsreich erachtet.
Hingewiesen wurde auf die Existenz der "Gesellschaft für Kulturwissenschaft" mit Sitz in Münster (Siehe Adressenliste).