Peter Matussek

Medienästhetik des Klangs

11. Funktionelle Musik

11.3.1 Der DJ als "Digitalschamane"

"In die klappernden Rhythmusskelette muß jeder Tänzer im Kopf seine eigenen melodischen Kreisläufe einspeisen. Die inhaltslose Offenheit dieser Musik kennzeichnet zugleich ihre Hauptschwierigkeit. Sie will letztendlich nichts anderes ausdrücken als 'Gib dir nen Ruck, mach dich locker und laß dich einfach mal gehen'... Ich versuche ihnen das Gefühl zu geben: Ihr könnt Euch mir anvertrauen, ich bin ein guter Reisleiter und bringe Euch heil zurück."

"Erst in den kontinuierlich pulsierenden Patterns erfüllt sich das Wesen der Tanzbewegung: die Verwandlung von purer Klangenergie in körperliche Kommunikation. Denn die Individualisierung des einzelnen Körpers findet in der Gemeinschaft statt. Der Witz von Trance-Techno besteht darin, daß wir heute der neuesten Technologie spirituelle Energie entziehen können. Der Computer ermöglicht uns erstmals wieder, primitiv zu sein."

Quelle:FAZ-Magazin, 16.06.1995, S. 6–14.

Selbstverständlich ist diese Sicht auf die Techno-Variante orphischer Mysterien eine grobe Vereinfachung. Aus dem innersten Bereich dieser Musik gehen auch Gegentendenzen hervor. So operieren die mittlerweile hochdifferenzierten Verfahren des Sound-Sampling mit akustischen Allusionen, die an früher Gehörtes erinnern, ohne daß es genau identifiziert werden kann. Wolfgang Voigt etwa erzeugt in seiner Produktion Königsforst aus vielfach "geloopten" Wagner- und Debussyfragmenten ein technologisches Waldesrauschen, das sich wie eine wehmütige Klage über den Verlust einer Trancefähigkeit ausnimmt, die im Prozeß der abendländischen Musikgeschichte immer wieder vermittelt auflebt, aber letztlich unerfüllte Sehnsucht bleibt und nur in der befremdlichen Vagheit von déjà entendu-Erlebnissen erinnert werden kann.

Demnach finden wir auch im Bereich der Musik die Tendenz, daß beim Übergang von der analogen zur digitalen Leerstelle deren evokatorisches Potential durch Übererfüllung paralysiert wird. Allerdings ist dieser Effekt, wie wir gesehen haben, nicht zwangsläufig. Die neuen Medien bieten ihm lediglich optimierte Fazilitäten.

Abbildung:
Sensorium 2000 – eine Liege, die visuelle und auditive Signale in Körperschwingungen übersetzt.
Quelle: members.aol.com/uwegerlach/vibra.htm

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