Peter Matussek

Medienästhetik des Klangs

4. Hörerzentrierte Klangforschung

4.3.6 Stille

Anthony Braxton/ Leo Smith/ Leroi Jenkins (1969): Silence

Quelle: Anthony Braxton/ Richard Teitelbaum: Silence/ time Zones; Black Lion 1996.

B: sowas macht manchmal (1) auch ne ganz magische stimmung wenn plötzlich halt KEINE musik mehr ist (.) so hatten wi:r (1) vor=n paar tagen mal=n stück aufgehört und wussten noch gar nicht ob wir jetzt eigentlich <<lächelnd>schon zu ende sind> (1) und haben uns so angeguckt spielt jemand noch was [...] und das hat ziemlich lange gedauert bis die leute dann (.) bis wir alle verstanden hatten es ist vorbei [A: ja] und das ist irgendwie toll auch dass das geht und dass es dann so totenstill ist (1) im venue (.) das is schon cool (M, 348-363)

A: das hat ne unglaubliche TIEfe find ich so ne pause es is schon wirklich GEIL (.) wenn ma des schafft (1) so manchmal man spielt so (1) und die leute wenn die dann alle ruhig sind dann entsteht so ne atmoSPHÄRE und man spielt so GANZ wenig und es sind dann so pausen dazwischen die haben ne UNglaubliche kraft [...] das seltsame ist dass das eigentlich noch mehr tiefe hat wie die töne wie die musik selber [...] ich finde auch das is das ALLERHÖCHSTE (2) weil alle die PAUse ja auch GLEICH FÜHlen (1) alle ham das gleiche gefühl für die pause und des macht die pause so STARK (SOF, 488-495)

Quelle: Müller (2014): 5 f.

4.3.6 Stille

Aus Müller (2014): 5 f.:

"Im Setting des Konzerts interagieren nicht nur die Musiker „intern“ miteinander, sondern sie treten als Band in ein Interaktionsverhältnis mit den Zuhörern, die die Handlungen der Band als ihr Gegenüber sinnhaft zu interpretieren versuchen. Dabei können Verzögerungen, Irritationen oder auch ein Misslingen dieser Interpretationsdynamik einen besonderen Effekt haben:

(S. Zitat 1).

Die beschriebene Szene ist deshalb besonders anschaulich, weil sie die Eigenheit der Interaktionsordung des Jazz dadurch verdeutlicht, dass sie auf die Interaktionsordnung der sozialen Veranstaltung trifft, in die sie eingebettet ist: Auf die des Jazzkonzerts.

Man kann die Situation anhand des geöffneten Handlungsbegriffes von Alfred Schütz durchspielen. Dabei wird das aktuelle Handeln in der Durchführung und die abgeschlossene Handlung als reflexive Definition dieses Handelns als Sinneinheit unterschieden. Sowohl in der Selbstauslegung als auch im Fremdverstehen spielen diese Sinneinheiten eine wichtige Rolle. Das Spiel der improvisierenden Jazzband findet im Modus des unabgeschlossenen Handelns statt. Die Musiker reagieren nicht auf der Basis einer interpretierten Sinnhaftigkeit einzelner Handlungen aufeinander, sondern handeln synchron miteinander. Wann aus dem Handeln eine abgeschlossene Handlung geworden ist, muss somit miteinander definiert werden. Im geschilderten Moment öffnet sich eine doppelte Kluft zwischen Selbst- und Fremdauslegung: Die Musiker sind dabei, einerseits in reflexiver Selbstauslegung als Band, andererseits in gegenseitiger Fremdauslegung untereinander zu verstehen, ob das Handeln ihres Spiels bereits als Handlung - also ein zu Ende gespieltes Stück - abgeschlossen ist, oder ob weiter spielend gehandelt wird. Das Publikum sieht sich vor die Aufgabe gestellt, das Handeln der Band zu interpretieren, obliegt es ihm doch, dem Skript für Konzertveranstaltungen gemäß, die durchgeführte Sinninterpretation, also das Wissen „Das Stück ist zu Ende“ mit Applaus zu markieren. Die Band steckt aber selbst noch mitten im Interpretationsprozess. Die in diesem Übergang entstehende Pause ist eine als „Totenstille“ empfundene Lücke im zeitlichen Verlauf der sozialen Konstruktion „Jazzkonzert“. Dieser Verlauf kommt in diesem Moment zum Stillstand. Man könnte sagen, was als „Tiefe“ bezeichnet wird, ist die dabei gespürte Bodenlosigkeit des sich auftuenden Abgrundes fehlender sozialer Sinnhaftigkeit - was allerdings nicht als beängstigend empfunden wird, sondern als „cool“. Es sind häufig gerade solche Leerstellen der Sinninterpretation, die auch in verschiedenen anderen Ausprägungen unter den Jazzmusikern einen hohen emotional Wert haben:

(S. Zitat 2)

Auch hier ist es gerade die Abwesenheit von Klang, die eine starke emotionale Wirkung hat. Entscheidend dafür ist die Aufmerksamkeit des Publikums als Interaktionspartner. Von Seiten der Musiker wird immer wieder erwähnt, wie ärgerlich und frustrierend es ist, wenn das Publikum nicht aufmerksam zuhört. Häufig ist das dem typischen Setting eines Jazzkonzerts geschuldet, etwa wenn in einer Bar gespielt wird, in der das Konzert nicht der Hauptanlass für die Anwesenheit von Publikum ist. Unangenehm ist dies vor allem deshalb, weil in diesem Interaktionsverhältnis Band - Publikum ohne ein interpretierendes Gegenüber auch kein Sinn entstehen kann. Als Reaktion darauf wird mitunter absichtlich atonal gespielt, um Irritationen zu erzeugen, und damit eine irgendwie geartete Wirkung zu provozieren. Hier findet sich zudem eine Verbindung zur Atmosphäre des Raumes. In einem kleinen Raum mit einer intimen Atmosphäre ist eine intensivere Fokussierung auf den Interaktionsverlauf möglich. Der Idealzustand besteht theoretisch darin, eine Synchronisation des Erlebens aller Beteiligten entstehen zu lassen. Dies kann gelingen, wenn sich der aufmerksame Zuhörer in ähnlicher Form in den Strom des interaktiven Handelns der Musiker einklinkt, wie diese es untereinander auch tun. Die daraus resultierende „Kraft”, „Tiefe“ oder „Ruhe“ ist eine Art Schwebezustand, der sich aus dem unmittelbaren Mitvollzug eines noch ungedeuteten Sinnzusammenhangs ergibt. Mit Clifford Geertz könnte man sagen, die Spannung eines solchen Zustandes entsteht aus der im Raum stehenden Frage: 'What the hell is going on here?'."

 

 

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