Peter Matussek

Medienästhetik des Klangs

4. Hörerzentrierte Klangforschung

Ravel: Boléro

Quelle: https://www.youtube.com/watch?v=mhhkGyJ092E

4.2.3 Sequenzwechseldispens

vgl. Shepard-Glissando in Dunkirk

4.2 Erwartungsdiskrepanz-Analyse

Eine auditorische Erwartungsdiskrepanz kann freilich auch dadurch erzeugt werden, dass dort, wo ein Wechsel erwartet wird, dieser nicht stattfindet.

Maurice Ravel erregte mit seinem Boléro bei der Uraufführung 1928 für die seinerzeit noch ungewöhnliche Repetitionsstruktur großes Aufsehen. Eine Zuhörerin rief in den Saal: „Hilfe, ein Verrückter“, worauf Ravel erwiderte: „Die hat’s kapiert“.

 

Wie wir gesehen haben, ist es durchaus lohnend, musikalische Motive auf ihre werkimmanenten und werkübegreifenden Wiedererkennungsfunktionen hin zu untersuchen, die nach Morton Feldman 1985 geradezu ihr Wesen ausmachen. Den Reichtum der dabei verwendeten musikalischen Formen (von denen das vorige Kapitel nur einen kleinen Ausschnitt präsentierte) erschlossen und detailreich interpretiert zu haben, ist zweifellos das Verdienst der musikwissenschaftlichen Motivanamnese. Sie hat dabei auch deutlich gemacht, dass die Anamnesis musikalischer Motive niemals eine bloße Reproduktion ihrer Vorläufer ist, sondern diese auf vielfältige Art variiert, wie es für episodische, lebens- und kulturgeschichtliche Erinnerungen kennzeichnend ist.

Der starke Fokus auf Erinnerungsfiguren allerdings hat in den Hintergrund geraten lassen, was für den ästhetischen Reiz des Musikhörens nicht weniger wichtig ist: der Bruch mit den aus Hörgewohnheiten gespeisten Erwartungen an die Fortsetzung eines Motivs (vgl die Gefühlskurve von Wundt: 2.4.2). Die Untersuchung dieses Phänomen, für das sich der Terminus "Erwartungsdiskrepanzanalyse" (vgl. Matthias Feldmann 1998) eingebürgert hat 

Grundlage der Erwartungsdiskrepanzanalyse ist die psychologischen "Diskrepanztheorie". Robert Jourdain (1997) hat sie auf das Feld der Musik übertragen und am Beispiel des Pink Panther-Themas erläutert: Das betont dissonante B in Takt 3 verletzt nach Jourdain "mehrere Arten von Erwartungen. Die Musik hört plötzlich in ihrer Beschleunigung auf und gefriert, die melodische Kontur beendet ihren gesamten Anstieg, die Harmonie wendet sich von ihrem vorherrschenden tonalen Zentrum ab und das Metrum steuert auf eine starke Betonung zu. Auch die Phrasierung, die überwiegend durch die melodische Kontur gebildet wird, stoppt hier ihren schneller werdenden, zuerst zwei- und dann vierbeinigen Schleichschritt. Für einen Moment erstarrt die Musik in Bewegungslosigkeit, genau wie das Innehalten einer sich anpirschenden Katze." (S. 390f.).

Die Bandbreite der Möglichkeiten, in musikalischen Aufführungen Erwartungsdiskrepanz herzustellen, beschreibt Juslin (2010):

Emotions may also be induced when musical expectations are violated in some way. It is easy to imagine this happening with respect to a music Performance. Hence, Meyer (1956) proposed that expressive variations in a musical Performance may serve an aesthetic function by 'delaying an expected resolution' , or simply 'creating psychological tension (p .206; see also Huron, 2006). Juslin (2001) noted that such effects can be achieved in different ways: for instance, a performer can enhance listeners 'emotional responses to the music by emphasizing certain notes that are of particular 'significance' in the music composition (Lindström , 1999), thereby enhancing violations of musical expectations that are already inherent in the structure. However, a performer could also induce emotions in listeners by performing in a manner that deviates from Performance Conventions with regard to the shaping of a particular structure. (477)


Techno-Liebhaber kennen den Effekt der Erwartungssteigerung und lustvollen Entladung, den DJs durch das Aussetzen und Hinauszögern des Wiedereinsetzens der Bass Drum erzielen (Beispiele unten links; das Video spielt ironisch auf Avicii an, einen kommerziell sehr erfolgreichen DJ).

Eine auditorische Erwartungsdiskrepanz kann freilich auch dadurch erzeugt werden, dass dort, wo ein Wechsel erwartet wird, dieser nicht stattfindet: Das Beispiel rechts oben demonstriert in verblüffender Quantität, wie viele Popsongs auf der Akkordfolge I-V-vi-IV (hier: D-A-h-G) beruhen.

Das Beispiel darunter demontiert nicht weniger überraschend, wie sehr ein Mega-Hit (hier: Atemlos von Helene Fischer) andere (von Drafi Deutscher, Christian Bruhn, Günter Loose, Dan Balan, Pete Bellotte, Harold Faltermeyer, Keith Forsey, Rosanne Cash, Kristina Bach).

4.2.3 Sequenzwechseldispens4.2.3 Sequenzwechseldispens
SprechblaseSprechblase
Fragezeichen