0. Einführung

0.4 Die Subjektabhängigkeit der Bewegungswahrnehmung

Das zweite Vorurteil besagt, dass es allein auf das Objekt ankomme, ob wir es als bewegt wahrnehmen.

Eine alltägliche Erfahrung kann es wiederlegen: Wir sitzen in einem stehenden Zug und schauen aus dem Fenster. Auf dem Nachbargleis steht ebenfalls ein Zug. Dann nimmt unser Zug seine Fahrt wieder auf, bewegt sich vom anderen Zug weg, wird immer schneller – und plötzlich merken wir, dass es gar nicht unser Zug war, der fuhr. Dieselbe Bewegungstäuschung kann genausogut umgekehrt stattfinden. Wie ist das möglich?

Der französische Phänomenologe Maurice Merleau-Ponty (1908–1961) greift in seinem Aufsatz Das Kino und die neue Psychologie diese Alltagserfahrung auf, um an ihr die Funktionweise der "kinematographischen Illusion" zu verdeutlichen.

Denn wenn es wahr ist, dass mir in dem Augenblick, wo einer der beiden Züge abfährt, mein Zug und der Nachbarzug abwechsend als in Bewegung begriffen erscheinen können, muss bemerkt werden, dass die Illusion nciht willkürlich ist und dass ich sie nicht nach Belieben hervorrufen kann durch die gänzlich intellektuelle und gegenüber einem Anhaltspunkt gleichgültige Wahl. Wenn ich in meinem Abteil Karten spiele, ist es der Nachbarzug, der abfährt. Wenn ich mich umgekehrt nach jemandem im Nachbarzug umsehe, dann ist es der meinige, der abfährt. Jedesmal erscheint uns derjenige der beiden unbeweglich, in dem wir uns niedergelassen haben und der unser augenblicklicher Wirkungskreis ist. Bewegung und Ruhe verteilen sich für uns in unserer Umgebung durchaus nicht gemäß den Voraussetzungen, die zu konstruieren unsere Intelligenz beliebt, sondern gemäß der Art und Weise, wie wir uns in der Welt verwurzeln und gemäß der Situation, die unser Körper darin mitschafft (Merlau-Ponty 1945, S. 233).

Fazit: Das Subjekt hat einen konstituierenden Anteil an der Bewegungswahrnehmung.