6.5.3

Griechenland III: Verlust der Schrift (ca. 1200 – 750 v. Chr.) – "Singen" und "Sagen"

Da keine Schriftzeugnisse in der Zeit nach dem Verschwinden von Linear B bis zur Einführung des phönizischen Alphabets gefunden wurden, nimmt man für den Zeitraum von ca. 1200–750 v.Chr. eine Phase der Schriftlosigkeit an. In dieser Zeit entstanden die homerischen Epen. Sie rekurrieren auf die Seevölkerkriege des 13./12. Jahrhunderts (s. 6.5.3.1): Die Ilias handelt vom Kampf um Troja, die Odyssee von der Heimkehr des griechischen Helden Odysseus – beides ausdrücklich in Form von "Gesängen" (s. 6.5.3.2).

Diese Gesänge wurden seit mykenischer Zeit (vor 1150) durch mündliche Weitergabe in Hexameter-Form überliefert. Homer steht am Ende dieser oralen Überlieferungsgeschichte, und seine bleibende Bedeutung dürfte damit zusammenhängen, dass er der erste war, der die mündlich überlieferten Gesänge um 750 aufgeschrieben hat (genauer: aufschrieben ließ, denn er war blind). Gleichwohl blieb er "Sänger", d.h. auch er hat die Epen vermutlich noch mit musikalischer Begleitung gesungen, also nicht, wie die späteren "Rhapsoden", als bloßen Sprechgesang. Auch wenn der Text zu seiner Zeit schon schriftlich fixiert gewesen sein dürfte, hatte er darin doch typische Merkmale des improvisierenden Vortrags behalten (s. d. Rekonstruktionsversuch 6.5.3.3).


Homerbüste. British Museum, London.